Arzneimittel und Therapie

Unterzuckerungen durch Tramadol

Auch ohne Diabetes besteht ein Risiko

Tramadol ist eines der weltweit am häufigsten eingesetzten Schmerzmittel und wird in vielen Leitlinien wegen des vergleichsweise geringen Missbrauchspotenzials empfohlen. Einige Fallberichte und kleinere Studien schildern jedoch das Auftreten einer unerwarteten Nebenwirkung: Hypoglykämie. Dass dieses Risiko nicht von der Hand zu weisen ist, bestätigt eine Auswertung der US-amerikanischen Pharmakovigilanz-Datenbanken.

Anlass für die Analyse waren Fall­berichte von Hypoglykämien, die während der Tramadol-Therapie auftraten und nach Absetzen wieder verschwanden. Diese Fälle traten sowohl bei Patienten mit als auch ohne diabetischer Anamnese auf. Der Mechanismus für diese Nebenwirkung ist unbekannt.

Der analgetische Effekt von Tramadol beruht auf zwei unterschiedlichen Mecha­nismen. Zum einen wird die Schmerzschwelle durch die Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmung und die Aktivierung des µ-Opioid-Rezeptors erhöht. Zum anderen inhibiert Tramadol NMDA-Rezeptoren, die an der somatischen und viszeralen Schmerzwahrnehmung beteiligt sind. Daher verglichen die Forscher die relative Häufigkeit von Hypoglyk­ämien unter Tramadol sowohl mit anderen Opioiden als auch mit Serotonin-Noradrenalin-Reuptake-Inhibitoren (SNRI) sowie mit NMDA-Rezeptor­Antagonisten. Dazu analysierten sie insgesamt mehr als zwölf Millionen Verdachtsfälle aus dem Nebenwirkungsmeldesystem der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA Adverse Event Reporting System, FAERS) und dessen Vorgänger AERS. 6355 Patienten waren mit Tramadol behandelt worden. Bei 1,13% waren Hypoglykämien aufgetreten.

Foto: marketlan – stock.adobe.com

Die Blutzuckerwerte sollten zu Beginn einer Tramadol-Therapie überwacht werden.

Vergleich mit anderen Opioiden

Um die Häufigkeit von Unterzuckerungen unter anderen Opioiden zu untersuchen, wurden zehn Vergleichssubstanzen ausgewählt: Codein, Dextro­propoxyphen, Fentanyl, Hydrocodon, Hydro­morphon, Methadon, Morphin, Oxycodon, Oxymorphon und Tapentadol. Betrachtet wurden Patienten ohne Diabetes, die einen der ausgewählten Wirkstoffe in Monotherapie erhalten hatten.

Risiko auch unter Methadon

Unter Tramadol war die Häufigkeit von Hypoglykämien – definiert als ein Blutzuckerwert unter 70 mg/dl – im Vergleich zu anderen Opioiden ­signifikant um den Faktor 6 bis 33 ­erhöht. Gegenüber Methadon wurde jedoch kein signifikanter Unterschied festgestellt. Auch unter Methadon war das Hypoglykämierisiko im Vergleich zu den anderen Opioiden um das 4- bis 26-Fache erhöht. Methadon ist wie Tramadol ein µ-Opioid-Rezeptor-Agonist und ein NMDA-Rezeptor-Antagonist.

Im Vergleich zu den vier betrachteten SNRI Desvenlafaxin, Duloxetin, Ven­lafaxin und Milnapracin traten unter Tramadol ebenfalls deutlich häufiger Hypoglykämien auf. Die Reporting Odds Ratio (ROR) reichte hier von 5 bis 20. Die Gegenüberstellung mit den fünf NMDA-Antagonisten Atomoxetin, Dextromethorphan, Ketamin, Memantin und Minocyclin zeigte ähnliche Ergebnisse (ROR 6 bis 14). Die Studienautoren folgern aus diesen Resultaten, dass der Grund für die blutzuckersenkende Nebenwirkung von Tramadol weder allein in der Wirkung auf Opioid- oder NMDA-Rezeptoren noch allein in der Hemmung der Serotonin-Nor­adrenalin-Wiederaufnahme liegt.

Die Ergebnisse legen nahe, dass zu Beginn einer Tramadol- oder Methadon-Therapie die Blutzuckerwerte sowohl bei Patienten mit Diabetes als auch bei Menschen ohne Diabetes überwacht werden sollten. Für Patienten mit bekannter Hypoglykämieneigung könnten andere Opioid- oder Nicht-Opioid-Analgetika geeigneter sein. |

Literatur

Makunts T et al. Retrospective analysis reveals significant association of hypoglycemia with tramadol and methadone in contrast to other opioids. Sci Rep 2019;9(1):12490

Apothekerin Sarah Katzemich

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