Arzneimittel und Therapie

Trotz Fehlbildungen: Dolutegravir auch für Schwangere

Risiken erscheinen akzeptabel

Dolutegravir ist einer von vier Integrase-Inhibitoren, die als gut verträgliche Arzneimittel heute zunehmend zur Behandlung der HIV­Infektion eingesetzt werden. Die Anwendung bei schwangeren Frauen ist mit einer vermehrten Rate von Fehlbildungen bei den Kindern assoziiert. Die Häufigkeit der Neuralrohrdefekte ist geringer als zunächst angenommen, das Medikament wird von der Weltgesundheitsorganisation WHO nun auch für Schwangere empfohlen. Das stellt die Frage nach dem Umgang mit potenziell teratogenen Arzneimitteln wieder einmal in den Fokus.

Angenommen, ein Arzneimittel verursacht sehr selten eine schwerwiegende unerwünschte Wirkung: Bei einem von 1000 Patienten oder noch seltener drohen schwerwiegende, irreversible Schäden oder sogar der Tod. Treten solche Ereignisse während der klinischen Prüfung auf, wird die Entwicklung des Präparates in der Regel gestoppt. In den vergangenen Jahren führten seltene Nebenwirkungen, die erst nach der Zulassung auffielen, mehrfach zur Rücknahme von neuen Medikamenten. Selbstverständlich spielt bei solchen Überlegungen die Indikation eine Rolle: Soll das neue Arzneimittel bei einer lebensbedrohlichen Erkrankung angewandt werden oder bei leichten selbstlimitierenden Beschwerden? Einige weitere Fragen müssen beantwortet werden: Wie sieht das Verträglichkeitsprofil des Medikamentes insgesamt aus? Verursacht es häufig leichte, vorübergehende Störungen des zentralen Nervensystems (Schwindel, Kopfschmerzen etc.) oder gastrointestinale Störungen (Übelkeit, Erbrechen etc.)? Wie stellt sich die Verträglichkeit insgesamt im direkten Vergleich zu konkurrierenden Präparaten dar?

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Neue Daten aus Botswana zu möglichen Fehlbildungen bei der Anwendung von Dolutegravir während der Schwangerschaft führten zu einer neuen Nutzen-Risiko-Bewertung.

Diese Überlegungen zeigen, wie schwierig es sein kann, eine „Nutzen-Risiko-Bewertung“ vorzunehmen. Dies ist meist leichter gesagt als getan. Noch schwieriger wird es, wenn die unerwünschte Wirkung nicht den Menschen betrifft, der das Arzneimittel einnimmt, sondern eine andere Person. Dahinter steht die Frage: Wie gehen wir mit Arzneimitteln um, die bei Einnahme in der Schwangerschaft kindliche Fehlbildungen verursachen? Ist es legitim und ethisch vertretbar, seltene schwerwiegende, irreversible Schäden beim Neugeborenen in die Nutzen-Risiko-Bewertung aufzunehmen, so wie es im Fall von Dolutegravir vorgeschlagen wird [1]? Oder sollten teratogene Arzneimittel bei Frauen grundsätzlich nicht angewandt werden? Der Embryo bzw. Fetus ist als „innocent bystander“, also als „unschuldiger Zuschauer“, bezeichnet worden, der in der Regel keinen Nutzen von einem verabreichten Arzneimittel hat, aber das Risiko für einen lebenslangen Schaden trägt. Beeindruckende Beispiele von verzweifelten Patienten mit angeborenen schweren Fehlbildungen, die möglicherweise auf eine pränatale Arzneimittel-Exposition zurückgeführt werden können, gibt es immer wieder. Andererseits gelten einige teratogene Arzneimittel wie die Retinoide, Thalidomid und seine Derivate sowie einige Antiepileptika heute als unverzichtbar. Die Maßnahmen, die getroffen werden, um eine Exposition während der Schwangerschaft zu vermeiden, sind unterschiedlich strikt. Ist es akzeptabel, dass Dolutegravir nun trotz des Verdachts auf Teratogenität ausdrücklich für Schwangere empfohlen wird?

„Wie gehen wir mit Arzneimitteln um, die bei Einnahme in der Schwangerschaft kindli­che Fehlbildungen verur­sachen? “

Risiko für Neuralrohrdefekte

Vor etwa einem Jahr gab es eine Meldung über mögliche teratogene Wirkungen von Dolutegravir. Der Integrase-Inhibitor wird heute zunehmend zur Therapie der HIV-Infektion angewandt, mehrere Kombinationspräparate sind im Handel. Die Meldung war überraschend, denn in den für neue Arzneistoffe behördlich vorgeschriebenen Tierversuchen war keine teratogene Wirkung beobachtet worden. Eine Studie aus Botswana zeigte damals beunruhigende Zwischenergebnisse. Auf­fällig war eine Assoziation zwischen der Einnahme von Dolutegravir in der Frühschwangerschaft und Neuralrohrdefekten bei den Neugeborenen [2].

Etwa 22% der Erwachsenen in Botswana sind HIV-infiziert, mehr als 50% der infizierten Frauen erhalten eine antiretrovirale Kombinations­therapie bereits vor der Schwangerschaft. Die Untersuchungen waren Jahre zuvor initiiert worden, um die Sicherheit der von der WHO empfohlenen antiretroviralen Kombination aus Tenofovir, Emtricitabin und Efavirenz – also drei Hemmstoffen der reversen Transkriptase – bei Schwangeren im Vergleich zu anderen Regimen zu überprüfen.

Im Gegensatz zu Dolutegravir war Efavirenz im Tierexperiment als teratogene Substanz aufgefallen: Bei Zynomolgus-Affen zeigten drei von 20 Feten bzw. Neu­geborenen grob-strukturelle Fehlbildungen, unter anderem gab es eine Anenzephalie, also einen Neuralrohrdefekt. Botswana war das erste afrikanische Land, in dem 2016 Efa­virenz gegen Dolutegravir aufgrund der besseren Wirksamkeit und Verträglichkeit zur Behandlung von Erwach­senen mit HIV-Infektion aus­getauscht wurde. Daher konnte nun auch die Sicherheit des Integrase­Inhibitors in der Schwangerschaft mit er­fasst werden.

„Die Meldung über mögliche teratogene Wirkungen von Dolutegravir war überraschend, da in Tierversuchen keine Auffälligkeiten be­obachtet wurden.“

Das Neuralrohr entsteht zwischen dem 19. und 28. Tag der pränatalen Entwicklung. Nach der üblichen Zählweise entspricht dies dem Ende der sechsten Schwangerschaftswoche. Der Schluss zum Neuralrohr beginnt von der Mitte her, den Abschluss dieser Phase bildet der Verschluss der beiden Neuralrohröffnungen, erst des Neuroporus anterior, danach des Neuroporus posterior. Entwicklungsstörungen können zu Neuralrohrdefekten führen, die Kinder kommen mit Fehlbildungen des Zentralnervensystems zur Welt: entweder einer ­Myelomeningocele – auch bekannt als Spina bifida – oder Anenzephalie. Die Ausprägung der angeborenen Fehlbildungen kann dabei sehr unterschiedlich sein.

Bei einer erwarteten Hintergrundinzidenz von etwa 0,1% zeigte sich 2018 in der vorläufigen Auswertung der Botswana-Studie eine Inzidenz bei 0,94%: Vier Kinder von 426 Schwangeren hatten einen Neuralrohrdefekt. Da in epidemiologischen Studien nur Assoziationen und keine Kausalzusammenhänge aufgezeigt werden können, war eine gewisse Skepsis gegenüber diesen Befunden angebracht. Für eine endgültige Bewertung war es zu früh, die nächste Auswertung der Daten wurde für den 31. März 2019 festgelegt. Als Vorsichtsmaßnahme sollte Dolu­tegravir allerdings nun nicht mehr bei Schwangeren angewandt werden, so konnte man es einem Rote-Hand-Brief entnehmen [3].

Neue Erkenntnisse

Die nächste Auswertung der Untersuchung liegt nun vor [4]. Sie zeigt, dass die Risikoerhöhung geringer ist als zunächst befürchtet: Sie liegt bei 0,30% (fünf Kinder von 1683 Schwangerschaften), bei den Kindern von Frauen, die bereits zum Zeitpunkt der Konzeption das Medikament einnahmen. Die genauen Diagnosen lauten: drei Kinder mit einer Anenzephalie oder anderen schweren Fehlbildungen des Gehirns sowie zwei Neugeborene mit Myelomeningozele. Auffällig ist, dass bei gut 1200 zusätzlichen Schwangerschaften nur ein zusätzliches Kind mit einer Myelomeningozele hinzugekommen ist. Dies entspricht etwa der zu erwartenden Hintergrundinzidenz. Die ungewöhnliche Häufung der Fälle in der ersten Zwischenauswertung bleibt ungeklärt.

Ein Therapiebeginn zu späteren Zeiten der Schwangerschaft war nicht mit vermehrten Fehlbildungen des Zentralnervensystems verbunden (s. Tabelle). Dieses Ergebnis ist plausibel, wenn man den frühen Zeitpunkt der Neuralrohrentwicklung während der Embryogenese berücksichtigt. Auch bei Kindern von Frauen, die mit Efavirenz oder anderen Virustatika behandelt wurden, konnte keine auffällig hohe Inzidenz von Neuralrohr-Fehlbildungen festgestellt werden.

Tab.: Antiretrovirale Therapie während der Schwangerschaft und Neugeborene mit Neuralrohrdefekten (nach [3])
Antiretrovirale Therapie
Zeitpunkt der Einnahme
Schwangere
(Anzahl)
Kinder mit Neuralrohr-defekt (Anzahl)
Prozent mit Neuralrohr­defekt
(Konfidenzintervall)
Dolutegravir
Konzeption
1683*
5*
0,30 (0,13 – 0,69)
Dolutegravir
Schwanger-schaft
3840
1
0,03 (0,00 – 0,15)
Andere
Virustatika-Kombinationen
Konzeption
14.792
15
0,10 (0,06 – 0,17)
Efavirenz
Konzeption
7959
3
0,04 (0,01 – 0,11)
HIV-negative Frauen
89.372
70
0,08 (0,06 – 0,10)

* in der ersten Zwischenauswertung 2018 gab es vier Fälle bei 426 Geburten

Auf der Basis dieser Daten empfiehlt die WHO Dolutegravir nun als bevorzugtes Medikament für alle Personengruppen einschließlich schwangerer Frauen. Denn im Vergleich zu den möglichen Alternativen ist Dolutegravir besser verträglich, einfacher einzunehmen, und eine Resistenz ent­wickelt sich seltener [5].

Weitere Studien sollen nun klären, ob sich durch eine frühzeitige Folsäuresupplementierung das Fehlbildungsrisiko reduzieren lässt. In den vergangenen Jahren wurde gezeigt, dass die Einnahme von Folsäure bei Schwangeren das Risiko für Neuralrohrdefekte verringern kann. Da es sich um embryologische Vorgänge in der Frühschwangerschaft handelt – also zu einem Zeitpunkt, zu dem viele Frauen noch nicht wissen, dass sie schwanger sind –, soll bei Kinderwunsch bereits vor der Schwangerschaft mit der Supplementierung begonnen werden. Ob Dolutegravir eine Folsäure-antagonistische Wirkung hat, wurde in zwei Veröffentlichungen thematisiert. Auf der Basis mehrerer experimenteller Studien wurde in der einen Arbeit ein Antagonismus beschrieben, in der anderen Studie konnte dies jedoch nicht bestätigt werden [6, 7].

„Die Risikoerhöhung ist geringer als zunächst befürchtet. Die gehäuft beobachteten Fehlbildungen scheinen wahrscheinlich nicht arzneimittelbedingt zu sein.“

Fazit

Dolutegravir ist ein gut wirksames und verträgliches Arzneimittel zur Behandlung der HIV-Infektion. Im Vergleich zu Efavirenz verursacht es weniger Nebenwirkungen und wird daher heute zunehmend eingesetzt. Die vor einem Jahr aus Botswana berichteten erhöhten Inzidenzen von angeborenen Neuralrohrstörungen bei Kindern nach pränataler Dolutegravir-Exposition konnten nach unten korrigiert werden, so dass die WHO den Integrase-Inhibitor heute generell auch für Schwangere empfiehlt. Betrachtet man die Daten etwas genauer, erscheint die WHO-Empfehlung nachvollziehbar, allerdings ist die Rate an Neuralrohrdefekten in der gesamten Gruppe von Frauen nach wie vor erhöht. Weitere Studien sind daher dringend notwendig, um den Verdacht der teratogenen Wirkung endgültig zu zerstreuen. Ein teratogenes Risiko ist für ein antiretrovirales Medikament angesichts möglicher Alternativen nicht akzeptabel, aber in diesem Fall scheinen die gehäuft beobachteten Fehlbildungen wahrscheinlich nicht arzneimittelbedingt zu sein. |

Literatur

[1] Dugdale CM et al. Risks and Benefits of Dolutegravir- and Efavirenz-Based Strategies for South African Women With HIV of Child-Bearing Potential: A Modeling Study. Ann Intern Med 201; doi: 10.7326/M18-3358

[2] Zash R et al. Neural-Tube Defects with Dolutegravir Treatment from the Time of Conception. N Engl J Med 2018;379(10):979-981

[3] Rote-Hand-Brief zu Dolutegravir-haltigen Arzneimitteln (Tivicay®, Triumeq®, Juluca®): Neuralrohrdefekte bei Neugeborenen von Frauen, die zur Zeit der Konzeption ­Dolutegravir eingenommen haben. 1. Juni 2018. www.bfarm.de; Abruf am 29. Juli 2019

[4] Zash R et al. Neural-Tube Defects and Antiretroviral Treatment Regimens in Botswana. N Engl J Med 2019; doi: 10.1056/NEJMoa1905230

[5] World Health Organization (WHO). WHO recommends dolutegravir as preferred HIV treatment option in all populations. 22 Juli 2019. www.who.int/news-room; Abruf am 29. Juli 2019

[6] Cabrera RM et al. The antagonism of folate receptor by dolutegravir: developmental toxicity reduction by supplemental folic acid. AIDS 2019; doi: 10.1097/QAD.0000000000002289

[7] Zamek-Gliszczynski MJ et al. Clinical Extrapolation of the Effects of Dolutegravir and Other HIV Integrase Inhibitors on Folate Transport Pathways. Drug Metab Dispos 2019;47(8):890-898

Autor

Prof. Dr. Ralf Stahlmann, ehem. Direktor des Instituts für Klinische Pharmakologie und Toxikologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin

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