Interpharm 2019 – Festvortrag

Ist die halbe Wahrheit auch eine Lüge?

Die Mythen der Gesundheitspolitik

sf | Zum Abschluss der Interpharm 2019 entlarvte Hartmut Reiners drei Mythen der Gesundheitspolitik. Er war von 1992 bis 2010 Referatsleiter für Grundsatzfragen der Gesundheitspolitik im Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Familie des Landes Brandenburg. Bei allen Mythen fand sich ein wahrer Kern, der aber bewusst oder unbewusst falsch interpretiert wurde.

Dem Gesundheitssystem steht eine Kostenexplosion bevor!

Dieser Mythos wird seit über 40 Jahren immer wieder gerne von allen möglichen Akteuren im Gesundheitssystem bemüht. Aktuelles Beispiel sind die neuen therapeutischen Optionen bei Hepatitis C, die unser Gesundheitssystem mit absoluter Sicherheit ruinieren sollten. Passiert ist bisher nichts.

Foto: DAZ/Matthias Balk
Hartmut Reiners

Seinen Anfang nahm die Legende, als in den 1970er-Jahren hohe Investitionen im Gesundheitssystem getätigt werden mussten und die Rentenversicherung auf Kosten der Krankenversicherung entlastet wurde. Auf dieser Basis wurden erschreckende Zahlen hochgerechnet. Seitdem wachsen die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherungen gemessen am Bruttoinlandsprodukt moderat und sind mit anderen Industrienationen vergleichbar.

Außerdem muss man den Strukturwandel berücksichtigen: Arbeitsplätze in der Industrie werden durch Beschäftigungen im Dienstleistungssektor ersetzt. Im Gegensatz zu produzierten Waren lässt sich Arbeitskraft nur sehr bedingt günstiger bereitstellen. Daraus wird oft gefolgert, dass der deutschen Wirtschaft eine hohe Belastung bevorstehe. Das ist aber möglicherweise ein weiterer Mythos, denn mit den Löhnen steigt auch die Kaufkraft. Wir beobachten in Deutschland also ein ganz normales wirtschaftliches Phänomen, das natürlich zu steigenden Kosten, aber auch zu Arbeitsplätzen führt. Eine Steigerung der Lohnkosten durch die Erhöhung des GKV-Beitrags führt ebenfalls zu keiner Kostenexplosion: Der GKV-Beitrag ist nur ein kleiner Teil der Lohnnebenkosten.

Wir steuern auf ein demografisches Desaster zu!

Die Gesellschaft wird älter. Alte Menschen kosten das Gesundheitssystem mehr Geld. Dem stehen immer weniger junge Menschen gegenüberstehen, um es zu bezahlen. Diese Argumen­tation ist häufig zu hören, aber was daran ist wahr?

Sicher wird die Bevölkerung immer älter, aber dieser Prozess findet seit Beginn des 20. Jahrhunderts statt und der Wohlstand in Deutschland hat immer weiter zugenommen. Entscheidend ist also nicht das Alter der Be­völkerung, sondern die Produktivität der Wirtschaft. Allein schon wegen der geburtenstarken Jahrgänge 1955 bis 1964 werden die Ausgaben wahrscheinlich steigen. Eine längere Lebensspanne führt jedoch nicht zwangsläufig zu höheren Gesundheitsausgaben. Die meisten Kosten entstehen auch bei einem langen Leben am Lebensende. Diese These scheint zumindest für sozial besser gestellte Schichten zu stimmen.

Wettbewerb belebt das Geschäft!

Was in der freien Wirtschaft funktioniert kann für das Gesundheitssystem doch nicht schlecht sein, oder? Durch die freie Kassenwahl versprach man sich Einsparungen im Gesundheitssystem. Der Grundsatz des einheitlichen Handelns der Krankenkassen blieb jedoch bestehen, denn den Wettbewerb über den Leistungskatalog zu stellen widerspricht dem Solidaritätsgedanken unserer Gesundheitsversorgung. Daher basiert die Konkurrenz zwischen den gesetzlichen Krankenversicherungen eigentlich nur auf der unterschiedlichen Höhe des Zusatzbeitrags.

Solange Ärzte über die Therapie entscheiden, kann zudem gar kein echter Wettbewerb entstehen. Aber möchte man das wirklich ändern?

Auch der Risikostrukturausgleich steht einem offenen System im Weg: Krankenkassen mit potenziell krän­keren Mitgliedern erhalten aus dem gemeinsamen Topf mehr Geld. Ohne dieses System würden Krankenkassen um gesündere Mitglieder konkurrieren. Kränkere Menschen erhielten dann aber nur zu höheren Kosten eine Versicherung. |

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