Arzneimittel und Therapie

Gammora – die Wunderwaffe gegen HIV?

Genauerer Blick auf die Datenlage dämpft die Hoffnung

Ein revolutionärer Wirkansatz, der mit dem humanen Immundefizienz-Virus (HIV) infizierte Zellen durch die ungebremste Integration zahlreicher cDNA-Moleküle in den Tod treibt, das klingt verheißungsvoll. Doch ungebremster Optimismus ist nicht angebracht.

Rechtzeitig vor dem Welt-AIDS-Tag wurde am 31. Oktober eine Presse­mitteilung lanciert [1], die die Vorteile einer neuen HIV-Therapie gegenüber den herkömmlichen antiretroviralen Ansätzen hervorhebt und sogar eine mögliche Heilung der Infektionskrankheit in Aussicht stellt. Das sind natürlich Nachrichten, die sehr gern aufgegriffen werden, und so dauerte es nicht lange, bis auch die „Welt“ darüber berichtete und die Chefentwicklerin des Therapiekonzepts wie folgt zitierte: „Die neue Therapie weckt die Hoffnung, dass wir mit ihrer Hilfe Menschen eines Tages von ihrer HIV-Infektion ganz befreien können“ [2].

Welt-AIDS-Tag am 1. Dezember

Foto: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)

Weltweit sind schätzungsweise 36,9 Millionen Menschen mit dem humanen Immundefizienz-Virus (HIV) infiziert. In Deutschland leben rund 90.000 Menschen mit HIV. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl der Neuinfektionen im Jahr 2017 leicht gesunken: Schätzungen zufolge infizierten sich 2700 Menschen neu, im Jahr davor waren es noch 2900. Wird die Infektion rechtzeitig diagnostiziert und behandelt, können Betroffene viele Jahre mit einer HIV-Infektion leben, ohne an AIDS (Acquired Immunodeficiency Syndrome) zu erkranken. Die lebenslange Therapie erfolgt mit einer Kombination antiretroviraler Wirkstoffe. Durch eine erfolgreiche Behandlung kann die Viruslast im Blut unter die Nachweisgrenze gesenkt werden, die Lebenserwartung ist dann nahezu normal – Heilung ist bislang jedoch nicht möglich. Wie jedes Jahr findet am 1. Dezember der Welt-AIDS-Tag statt mit dem Ziel, die Solidarität mit Menschen mit HIV und AIDS zu fördern und Vorurteile abzubauen.

Die Studienlage ...

Aus der Pressemitteilung geht hervor, dass im Juli und August in einer Klinik in Entebbe (Uganda) eine Phase-I/IIa-Studie mit dem neuen Wirkstoff „Gammora“ durchgeführt wurde. Neun HIV-positive Patienten erhielten vier bis fünf Wochen lang entweder 0,05 bis 0,2 mg/kg, 0,1 bis 0,3 mg/kg oder 0,2 bis 0,4 mg/kg des neuen Wirkstoffs Gammora. Das Resultat dieser Studie wurde wie folgt beschrieben: Die „meisten“ Patienten zeigten innerhalb der ersten vier Wochen eine signifikante Reduktion der Viruslast um bis zu 90% im Vergleich zum Ausgangswert. Zwei Wochen später startete dann noch ein zweiter Teil der Studie, in der den Patienten für weitere vier bis fünf Wochen zweimal wöchentlich 0,2 bis 0,4 mg/kg Gammora in Kombination mit täglich Lopinavir 800 mg plus Ritonavir 200 mg oder aber die antiretrovirale Therapie ohne Gammora verabreicht wurde. Nach den insgesamt zehn Wochen Studiendauer lag bei den Patienten, die diese Kombinationstherapie erhalten hatten, die Anzahl der HIV-RNA-Kopien unter 300 pro ml, und die Viruslast war bis zu 99% verringert. Zusätzlich verbesserte sich die Zahl der CD4+-T-Zellen um bis zu 97%.

... und was davon zu halten ist

Natürlich sind neun Studienteilnehmer viel zu wenig. Suspekt ist, dass es keinen Hinweis auf eine Veröffentlichung der Daten bei einem Kongress oder in einem wissenschaftlichen Journal gibt. Und so kann man nicht nachlesen, welche Art HIV-Patienten eingeschlossen wurden, in welchem Krankheitssta­dium sie sich befanden, mit welcher Viruslast sie in die Studie gingen und ob sie vorher irgendeine Therapie erhalten hatten. Interessant wäre zudem, wie viel Gammora nun eigentlich tatsächlich verabreicht wurde – die Mengenbereiche überlappen schließlich – und inwieweit eine Dosis-Wirkungs-Beziehung feststellbar war. Völlig offen bleibt außerdem, wie die Virus- und Zellwerte bei den Studienteilnehmern waren, die im zweiten Teil nur die antiretrovirale Therapie erhielten. Die schließlich alles entscheidende Frage lautet: Was ist mit den RNA-Kopienzahlen und den CD4+-T-Zellzahlen vier oder acht Wochen oder noch länger nach Ende der Studie?

Auf der Informationsseite www.aidsmap.com wird diese Studie dann auch direkt von Roger Pebody und Gus Cairns als „Bad Science“ eingestuft, und der südafrikanische HIV-Forscher Prof. Francois Venter wird mit den Worten zitiert, dass es sich bei Gammora um eine weitere Form der Quacksalberei handele, die im Zusammenhang mit HIV leider viel zu oft entsteht [3].

Grafik: Zündorf
Abb.: Lebenszyklus von HIV und Angriffspunkte der zugelassenen antiretroviralen Wirkstoffe. NRTI: nucleosidische Reverse-Transkriptase-Inhibitoren; NNRTI: nicht nucleosidische Reverse-Transkriptase-Inhibitoren; PI: Proteaseinhibitoren.

Was ist Gammora?

Wissenschaftlicher Hintergrund der Studie ist die genaue Untersuchung des Integrationsmechanismus der HIV-cDNA in das Genom der Wirts­zelle. Nach der Infektion schreibt das virale Enzym Reverse Transkriptase die HIV-RNA in doppelsträngige DNA um. Dabei entsteht eine Vielzahl an doppelsträngigen cDNA-Molekülen, die anschließend von einem Tetramer der viralen Integrase unter Zuhilfenahme wirtszelleigener Proteine in das Genom der Zelle eingebaut werden. Erstaunlicherweise werden immer nur ein oder zwei Kopien der HIV-cDNA, also ein Bruchteil des umgeschriebenen HIV-Genoms, in die Wirtszell-DNA integriert [4]. Dieses Phänomen scheint ein Schutzmechanismus dafür zu sein, dass die Wirtszelle nicht durch zu viele Integrationsereignisse geschädigt wird und in Apoptose geht. Erreicht wird diese Integrationsbremse anscheinend durch die Wirkung der Reversen Transkriptase, die mit der Integrase interagiert und sie in der Aktivität inhibiert.

Die Idee der Wissenschaftler war nun, diese Bremse aufzuheben, die Anzahl der Integrationsereignisse dramatisch zu erhöhen und dadurch die infizierte Zelle in den Zelltod zu treiben – und damit natürlich auch die darin enthaltenen Viren. Fündig wurden die Forscher in einem kurzen Peptid mit der Sequenz WTAVQMAVFIHNFKRK, das den Aminosäuren 174 – 188 der Integrase von HIV-1 entspricht und als INS bezeichnet wurde. Dieses Peptid kann nicht nur die Enzymaktivität der Integrase selbst steigern, sondern zusätzlich auch durch Bindung an die Reverse Transkriptase deren hemmenden Effekt aufheben. In ersten Versuchen an Zellen, die mit HIV infiziert und mit dem Peptid inkubiert wurden, zeigte sich, dass die Zahl der integrierten HIV-Genome von durchschnittlich eins auf fünf bis zehn gesteigert werden konnte. Gleichzeitig stieg der Virustiter im Vergleich zu den infizierten, aber nicht mit dem Peptid behandelten Zellen dramatisch an – wie stark lässt sich jedoch an der unklaren/falschen Achsenbeschriftung in der Publikation nicht ermitteln [4].

In einer zweiten Veröffentlichung [5] wurde ein ähnlicher Effekt an Zellkulturen gezeigt, die mit HIV infiziert und 24 h später jeden zweiten Tag behandelt wurden. Verglichen wurden dabei der Proteaseinhibitor Ro 31-8959 allein, in Kombination mit jeweils einem der aktivierenden Peptide INS oder INrs und mit einer Mischung aus den Peptiden. INrs wurde bei einer genaueren Analyse der Bindung an die Reverse Transkriptase entdeckt und besteht eigentlich aus zwei Peptiden, die den Aminosäurebereichen 66 – 80 bzw. 118 – 128 der Integrase entsprechen [6]. An insgesamt zwei Wochen Behandlung schloss sich eine zwei­wöchige Kultivierung der Zellen an. Es zeigte sich, dass durch die Behandlung die Kopienzahl der HIV-RNA und auch die Virenzahl reduziert werden konnte. Dabei war die Mischung aus Ro 31-8959 mit INS und INrs am effektivsten. Zwei Wochen nach der Behandlung waren die untersuchten Werte jedoch bereits wieder zumindest auf den Ausgangswert angestiegen [5]. Nur bei der Mischung aus beiden Peptiden in Kombination mit dem Proteaseinhibitor lag sowohl die Kopienzahl der HIV-RNA als auch die Anzahl der viralen Genome sowie die Viruszahl nach wie vor unter der Nachweisgrenze. Die Autoren interpretierten dieses Ergebnis als komplette Ausrottung der HI-Viren durch die Kombination aus den beiden Peptiden zusammen mit dem Proteaseinhibitor. Allerdings sind die Ergebnisdiagramme, die die Ausrottung von HIV zeigen, nicht wirklich schlüssig: Nach den Darstellungen reduzieren sich sowohl die virale RNA als auch die Kopienzahl der viralen DNA und ebenso die Integrationsereignisse der viralen DNA während der zweiwöchigen Behandlung, ganz gleich ob der Proteaseinhibitor allein oder zusammen mit einem der Peptide gegeben wurde. Der Angriffspunkt des Protease­inhibitors liegt eindeutig nach dem Prozess der DNA-Synthese und Integration in das Wirtszellgenom, zudem soll eigentlich durch die Inkubation mit einem der Peptide die Anzahl der Integrationsereignisse erhöht werden – das ist aus den Grafiken jedoch nicht zu erkennen [5].

Gammora selbst wird als „synthetisch hergestelltes Peptid“ aus der Integrase bezeichnet [1] – welches der in Zellkultur getesteten Peptide ist jedoch nicht klar – und wird parenteral (ohne Proteaseinhibitor) verabreicht.

Viele Fragen bleiben offen

Alle Meldungen über neue, bahnbrechende Therapien einer HIV-Infektion wecken natürlich Hoffnungen bei den betroffenen Patienten. Zumal wenn über eine tatsächliche Heilung berichtet wird. Bei Gammora muss das aber sehr stark infrage gestellt werden. Nicht nur ist die erste „Studie“ mehr als fragwürdig in ihrer Aussagekraft. Zusätzlich darf auch die Wirksamkeit in vivo angezweifelt werden: Das Peptid kann vermutlich nur in einem Stadium wirken, in dem die Integrase aktiv ist. Bereits seit längerer Zeit infizierte Zellen mit dem bereits integrierten HIV-Genom sollten also auf die Behandlung nicht ansprechen. Zwar wird in der Pressemitteilung darauf hingewiesen, dass Gammora nur infizierte Zellen schädigt. Ob allerdings das Peptid bei nicht infizierten Zellen unselektive „Off-Target-Effekte“ verursacht, ist bisher völlig unklar. Anhand des postulierten Mechanismus muss davon ausgegangen werden, dass die Wirkung über die Bindung an Integrase und/oder Reverse Transkriptase erzielt wird. Wie viel Wirkstoff einem Patienten verabreicht werden muss, um ein stöchiometrisches Verhältnis zu erreichen, ist ebenfalls sehr schwer abschätzbar. Es bleiben bei diesem Wirkstoff also noch so viele Unwägbarkeiten offen, dass ein seriöses In-Betracht-Ziehen dieser Strategie angesichts der vorhandenen, gut etablierten Therapieoptionen als völlig inakzeptabel einzustufen ist. |

Quelle

[1] Zion Medical Announces Results of First Human Clinical Trial of HIV drug Gammora, Offering Potential Cure. Pressemitteilung vom 31. Oktober 2018. www.bizjournals.com; Abruf am 15. November 2018

[2] Yaron G. Ein neuer Ansatz gegen Aids. Welt Gesundheit online. Veröffentlicht am 08. November 2018; www.welt.de; Abruf am 15. November 2018

[3] Pebody R, Cairns G. Gammora does not cure HIV. Veröffentlicht am 06. November 2018; www.aidsmap.com; Abruf am 15. November 2018

[4] Levin A et al. Stimulation of the HIV-1 integrase enzymatic activity and cDNA integration by a peptide derived from the integrase protein. Biopolymers 2010;93:740-751

[5] Levin A et al. Specific eradication of HIV-1 from infected cultured cells. AIDS Res Ther 2010;7:31

[6] Levin A et al. Peptides Derived from HIV-1 Integrase that Bind Rev Stimulate Viral Genome Integration. PLoS One 2009;4:e4155

Autoren

Prof. Dr. Theo Dingermann ist Universitätsprofessor (em.) am Institut für Pharmazeu­tische Biologie an der Goethe-Univer­sität Frankfurt.

Dr. Ilse Zündorf ist dort als akademische Oberrätin tätig.

Institut für Pharmazeutische Biologie, Biozentrum, Max-von-Laue-Straße 9, 60438 Frankfurt/Main

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