DAZ aktuell

Kostenexplosion und Alterslawine

Dr. Bernd Hontschik kommentiert „zwei Märchen“ im Gesundheitswesen

Unser Gesundheitswesen ist in Gefahr! Das hört man immer wieder. Die größte Gefahr gehe davon aus, dass die Gesundheit bald nicht mehr bezahlbar sein werde. Der medizinische Fortschritt mache die Medizin immer teurer, deswegen könne er nicht mehr allen zugutekommen. Man werde rationieren, priorisieren und zuteilen müssen. Und dann ist da außerdem auch noch die immer weiter steigende Lebenserwartung, die immer größer werdende Zahl alter Menschen. Älter ist kränker ist teurer, so lautet die Schreckensformel. Aber stimmt das eigentlich alles?

Die Bombe tickt?

Der Begriff der Kostenexplosion wurde 1974 von dem damaligen Gesundheitsminister von Rheinland-Pfalz, Heiner Geißler, in die politische Diskussion eingeführt. Mithilfe einer irreführenden Visualisierung von eigentlich recht geringen statistischen Schwankungen der Gesundheitskosten entstand der Eindruck einer steil ansteigenden Kostenkurve. Der Spiegel setzte daraufhin mit der Serie: „Krankheitskosten: Die Bombe tickt“ im Jahr 1975 das ganze Land unter Strom. Spätestens jetzt war klar: Es bestand dringender Handlungsbedarf! Im Jahr 1998 erschien ein Taschenbuch mit dem Titel „Das Märchen von der Kostenexplosion“ und entwickelte sich schnell zu einem Bestseller. Bis dahin hatte der Begriff der Kostenexplosion aber schon enorme Bedeutung in sämtlichen Diskussionen über die Zukunft des Gesundheitswesens erlangt. Alle Welt war der Meinung, dass das Gesundheitswesen bald nicht mehr bezahlbar sein werde und längerfristig auf den totalen Zusammenbruch zusteuere. Tatsächlich gibt es aber gar keine Kostenexplosion im Gesundheitswesen. Es hat auch noch nie eine gegeben.

Foto: Ute Schendel
Dr. med. Bernd Hontschik, Chirurg und Publizist, lebt in Frankfurt am Main und schreibt seit vielen Jahren als Kolumnist in der Frankfurter Rundschau. Zudem ist er Wissenschaftlicher Beirat der Zeitschrift „chirurgische praxis“ und Herausgeber der Buchreihe „medizinHuman“ im Suhrkamp Verlag (www.medizinHuman.de).

Die Ausgaben für das Gesundheitssystem sind in unserem Land seit Jahrzehnten konstant. Sie betragen 10 bis 12 Prozent des Bruttoinlandsprodukts mit minimalen Ausschlägen nach oben oder unten, und zwar nicht weil die Kosten explodieren, sondern wegen konjunktureller Schwankungen dieses Bruttoinlandsprodukts. In dem nun schon zwanzig Jahre alten Buch wurde damals die These von der Kostenexplosion definitiv widerlegt, ja sogar ad absurdum geführt.

Ausgaben konstant, Beiträge steigen

Doch damit war die These von der angeblichen Kostenexplosion im Bereich des Gesundheitswesens keineswegs erledigt. Bis heute wird in jeder Talkshow und bei jeder Erörterung über die Zukunft unseres Gesundheitswesens immer wieder auf diese angeb­liche Kostenexplosion verwiesen. Als einzelner Beitragszahler spürte man ja nichts von der Konstanz der Gesundheitskosten, im Gegenteil. Man spürte stattdessen eine kontinuierliche Erhöhung der Krankenkassenbeiträge. Diese beruhte aber nicht auf einer Kostenexplosion, sondern auf einem dramatischen Einbruch der Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung infolge der zunehmenden Arbeitslosenquote in den Achtziger- und Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts, die teilweise bis zu 12 Prozent betrug. Die dadurch fehlenden Beitragseinnahmen konnten nur durch Beitragserhöhungen ausgeglichen werden. Und um diese Beitragserhöhungen möglichst gering ausfallen zu lassen, wurden Selbstbeteiligungen der Erkrankten eingeführt, obwohl diese dem Konzept einer Solidarversicherung diametral widersprachen. Rezeptgebühr, Zuzahlungen, individuelle Zusatzbeiträge und selektive Beitragserhöhungen bei eingefrorenem Arbeitgeberanteil waren solche Veränderungen. Dadurch wurden die Krankheitskosten mehr und mehr, Schritt für Schritt von der Solidargemeinschaft auf den einzelnen Kranken abgewälzt.

Diese Entwicklung wurde von ausnahmslos allen politischen Parteien betrieben und fand ihren Höhepunkt in der rot-grünen Agenda 2010.

Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder rief gleich zu Beginn seiner Regierungserklärung am 14. März 2003 den paradigmatischen Satz ins Plenum: „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.“

Zeitgleich wurde ein neues Vergütungssystem in den Krankenhäusern eingeführt, das die Höhe der Vergütung von der Schwere der Erkrankung und dem Aufwand der therapeutischen Maßnahmen abhängig machte, die Diagnosis Related Groups (DRG), oder auf Deutsch: Diagnosebezogene Fallgruppen. Diese Umstellung hatte und hat bis heute enorme Auswirkungen. Die Liegezeit von Kranken wird nun mit allen Mitteln reduziert, die Fallzahlen werden mit allen Mitteln erhöht und die Diagnosen werden so stark wie möglich dramatisiert, um in eine höhere Bezahlgruppe der DRG zu gelangen. Das führt zu einem enormen Druck der Geschäftsleitungen auf Ärzte und Pflegepersonal. Diese werden zu einem ökonomischen Denken in Gewinn- und Verlustkategorien gezwungen und verlieren dabei notgedrungen den eigentlichen ärztlichen und pflegerischen Auftrag immer mehr aus dem Auge. Genau in jener Zeit begann auch noch eine Privatisierungswelle von öffentlichen Ein­richtungen, insbesondere von Krankenhäusern, die inzwischen solche Ausmaße angenommen hat, dass Deutschland heute mit der Zahl der privatisierten Krankenhausbetten an der Spitze in der Welt steht, noch vor den USA.

Je älter, desto kränker, desto teurer?

Aber damit nicht genug. Es gibt noch ein zweites Märchen, eine zweite, nicht minder furchterregende Katastrophe, die angeblich auf das Gesundheitswesen zurollt. Die immer höhere Lebenserwartung der Deutschen, die Veränderung der sogenannten Alterspyramide, die inzwischen eher einem gerupften Tannenbaum als einer Pyramide gleicht, sei dazu geeignet, die Ressourcen unseres Gesundheitswesens zu sprengen, heißt es. Die immer weiter steigende Lebenserwartung beziehungsweise der immer höhere Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung sind Tatsachen. Es kann aber niemandem entgangen sein, dass man von einer „Überalterung“unserer Gesellschaft spricht. Es ist ja so einleuchtend: je älter, desto kränker, desto teurer. Das ist aber falsch. Das steigende Durchschnittsalter verursacht im Gesundheitswesen keine unlösbaren Probleme, sondern hauptsächlich erhebliche Veränderungen im Krankheitsspektrum. Es ist nämlich so, dass jeder Mensch, über seinen ganzen Lebenszyklus betrachtet, etwa 70 bis 80 Prozent der Kosten im Gesundheitswesen im letzten Jahr seines Lebens verursacht. Es ist dabei völlig gleichgültig, ob er mit 40, 60 oder 80 Jahren stirbt. Es ist sogar so, dass diese Kosten im letzten Lebensjahr bei einem 40-Jährigen im Allgemeinen deutlich höher sind als bei einem 80-Jährigen, da man bei jüngeren Patienten naturgemäß wesentlich radikalere und invasivere, also auch teurere Therapieentscheidungen trifft. Es ist immer das letzte Lebensjahr eines gesamten Lebens am kostenträchtigsten. Das nennt man den Kompressionseffekt. Das Steigen des Durchschnittsalters der Bevölkerung wird wahrscheinlich eine völlige Neukonzeption der Pflegeversicherung erzwingen, und es wird möglicherweise auch Verteilungsprobleme zwischen Jung und Alt in der Rentenversicherung geben. Im Gesundheitswesen aber ist ganz sicher nicht mit Problemen zu rechnen, die nicht innerhalb des bestehenden Systems und mit bereits vorhandenen Ressourcen gelöst werden könnten. Denn: Mit der steigenden Lebenserwartung wird der Lebensabschnitt des gesunden Altseins immer länger, und die hohen Kosten – im letzten Jahr des Lebens, um es noch einmal zu sagen – entstehen entsprechend immer später. Hätten die Propagandisten der Kostenexplosion und der Altersdemagogie recht, dann wäre unser Gesundheitswesen ja längst schon zusammengebrochen. Das ist aber mitnichten der Fall. Der ökonomische Druck, der im gesamten Gesundheitswesen inzwischen herrscht, muss also ganz andere Gründe haben als eine Kostenexplosion, die es gar nicht wirklich gibt, und eine Alterslawine, die angeblich auf das Gesundheitswesen zurollt, aber dort nie eintreffen wird.

Die Märchen von der Kostenexplosion und der Altenlawine dienen nur dazu, ein im Grunde gut funktionierendes Sozialsystem durch eine sogenannte Gesundheitsreform nach der anderen zum Abschuss freizugeben. Das ist ein kompletter, tiefgreifender Kurswechsel. Er wirkt sich bis in das letzte Krankenzimmer, bis in den letzten Operationssaal aus. In den Gesundheitssektor hat unsere Gesellschaft bislang einen Teil ihres Reichtums investiert, zum Wohle aller. Das Gesundheitswesen war ein wichtiger Teil des Sozialsystems. Nun zieht sich der Staat zurück und macht Platz für Investoren. Das Gesundheitswesen wird zu einem Wirtschaftszweig, in dem ganz andere Gesetze gelten als in einem Sozialsystem. Die Gesundheitswirtschaft wird zur Quelle neuen Reichtums für Investoren, die dorthin gelockt werden durch hohe Renditen von mehr als 10 Prozent, wie sie zurzeit in keinem anderen Wirtschaftszweig auch nur annähernd winken. Die Marktwirtschaft verliert hier ihr soziales Mäntelchen. Dieser Deformationsprozess hat Ursachen, die außerhalb des Gesundheitswesens und außerhalb der Humanmedizin gesucht werden müssen und zu finden sind. Er ist Teil einer Umwälzung, von der ausnahmslos alle Sozialsysteme in unserer Gesellschaft betroffen sind. Und um diesen Vorgang wirksam zu ver­nebeln, braucht es auch weiterhin die Märchen von der Kostenexplosion und von der Alterslawine. |

Der vorliegende Beitrag ist ein modifizierter Nachdruck des Artikels: „Das Märchen von den teuren Alten“ von Dr. Bernd Hontschik, erschienen in der „taz“ am 03.11.2018.

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.