Arzneimittel und Therapie

Ritalin® und Co. statt Psychotherapie?

Erste S3-Leitlinie zu ADHS spiegelt Debatte um medikamentöse Therapie wider

cst/jb | Nun ist sie da: Die erste S3-Leitlinie „ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen“ wurde veröffentlicht. Darin wird auch bei mittelschwerer Ausprägung der Störung bei Kindern eine Pharmakotherapie als mögliche Alternative zu psychosozialen Interventionen empfohlen. Doch welche Substanzen sollen zum Einsatz kommen? Und was sagen die Experten zu Omega-3-Fettsäuren?

Inhaltlich stand die neue S3-Leitlinie „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen“ bereits im Frühjahr 2017 fest. Doch erst Ende Juni 2018 wurden die unter der Federführung und Koordination der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) entstandenen Empfehlungen offiziell veröffentlicht. Somit steht nun erstmalig ein Leitfaden der höchsten Evidenzstufe zur Behandlung der ADHS zur Verfügung, an dessen Entstehung mehr als 30 Fachgesellschaften, Organisationen und Verbände beteiligt waren. Einer der wesentlichen Punkte lautet: Auch für Kinder mit einer mittelschweren Ausprägung der psychischen Störung können Arzneimittel wie Ritalin® früh im Therapieverlauf erwogen werden. Ein Punkt, der scheinbar nicht ganz unstrittig war, was sich auch in einem geringen Konsens bei den Empfeh­lungen zur Behandlungsplanung (77% Zustimmung) und etlichen in der Leitlinie enthaltenen Sondervoten wider­spiegelt.

Foto: Cherry-Merry – stock.adobe.com

An erster Stelle steht in den Leitlinien­empfehlungen jedoch die Psychoedukation, unabhängig von der Schwere der Störung. Bei leichten Schweregraden und bei Kindern im Vorschulalter (drei bis sechs Jahre) kann eine Pharmakotherapie in Einzelfällen ergänzend zu verhaltenstherapeutischen Maßnahmen infrage kommen, wenn andere Maßnahmen nicht ausreichend greifen. Bei mittelgradigen Formen sollen die Rahmenbedingungen und die Präferenzen der Familie mitberücksichtigt werden. Dann kann eine Pharmakotherapie auch als Alternative zu einer intensivierten psychosozialen Intervention dienen. Bei schwerer ADHS ist eine medikamentöse Behandlung nach erfolgter intensiver Psychoedukation das Mittel der Wahl. Im Erwachsenenalter wird aufgrund der vorliegenden Evidenz bei leichten und moderaten Formen eine medikamentöse Therapie empfohlen – natürlich unter der Voraussetzung, dass der Patient das mitträgt.

Zurückhaltung bei Pharmakotherapie

Gegenüber anderen internationalen evidenzbasierten Leitlinien, wie z. B. den Guidelines des National Institute for Health and Care Excellence (NICE) aus Großbritannien, wird – nach Aussage der DGKPJ – in der deutschen Leitlinie der Verhaltenstherapie ein höherer Stellenwert eingeräumt. Gleichzeitig wird für die pharmakologische Behandlung, für welche die beste Evidenz und der stärkste Effekt hinsichtlich der Wirksamkeit existieren, ein im internationalen Vergleich zurückhaltender Einsatz empfohlen. Manchen Fachgesellschaften waren die gewählten Formulierungen in der aktuellen Leitlinie offensichtlich nicht zurückhaltend genug. Beispielsweise merkten der Berufsverband der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutinnen und -therapeuten e. V. (BKJ) und der Bundesverband der Vertragspsychotherapeuten e. V. (BVVP) an, dass bei behandlungsbedürftiger residualer ADHS-Symptomatik bei leichten Schweregraden und Kindern unter sechs Jahren „auf eine Pharmako­therapie aufgrund der nicht abschätzbaren Einwirkungen auf Gewicht, Längenwachstum sowie psychosozialer Entwicklung in der Regel verzichtet werden“ kann.

Stimulanzien an erster Stelle

Grundsätzlich erachtet die Leitlinie Stimulanzien wie Methylphenidat (z. B. Ritalin®) und Amphetaminpräparate (z. B. Elvanse®, Attentin®) sowie die Nicht-Stimulanzien Atomoxetin (z. B. Strattera®) und Guanfacin (z. B. Intuniv®) als mögliche Optionen. Neben dem Zulassungsstatus sind bei der Therapiewahl die erwünschte Wirkdauer und das zu erwartende Wirkprofil, die Nebenwirkungsprofile, Komorbiditäten, Missbrauchsgefahr, besondere Umstände und nicht zuletzt die Präferenz des Patienten beziehungsweise seiner Eltern entscheidend.

Für Patienten, die keine relevanten Komorbiditäten haben, empfehlen die Experten die initiale Behandlung mit Stimulanzien. Im Rahmen der Zulassung bewegt man sich aber derzeit nur mit Methylphenidat, da die Amphetamin-Präparate erst als Zweitlinientherapie indiziert sind. Langwirksame Stimulanzien haben den Vorteil, dass diese einfacher anzuwenden sind, die Adhärenz besser ist und eine mögliche Stigmatisierung vermieden wird, weil zum Beispiel die Einnahme in der Schule wegfällt. Für unretardierte Präparate sprechen laut Leitlinie eine genauere Dosisanpassung in der Titrationsphase sowie eine höhere Flexibilität im Dosierungsschema.

Für Patienten, die zugleich unter Ticstörungen leiden, werden alternativ zu den Stimulanzien Atomoxetin und Guanfacin in Erwägung gezogen. Die beiden Nicht-Stimulanzien eignen sich, neben langwirksamen Stimulanzien, ebenfalls für Patienten, bei denen Ärzte ein hohes Risiko für Substanzmissbrauch oder nicht bestimmungsgemäßen Gebrauch sehen. Besteht eine komorbide Angststörung, kommt Atomoxetin als Option in Betracht.

Alle sechs Monate soll überprüft werden, ob eine weitere Gabe der Medikation angebracht ist. Auch unerwünschte Wirkungen sollten hier dokumentiert und berücksichtigt werden. Einmal im Jahr rät die Leitlinie, die Medikation sogar zu pausieren, um festzustellen, ob weiterhin eine Indikation besteht.

Omega-Fettsäuren ohne Evidenz

Keine Empfehlung gibt es für eine Supplementation mit Omega-3- und Omega-6-Fettsäuren. Wörtlich heißt es: „Entgegen bisheriger Befunde, welche auf einen positiven aber quantitativ geringen Effekt einer Gabe von Omega-3- und Omega-6-Fettsäuren zur Behandlung der ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen hindeuteten, kann nach heutigem Stand der Erkenntnis (Nice 2016) keine Empfehlung für eine Nahrungsergänzung mit diesen Substanzen abgegeben werden.“

Explizit nicht empfohlen wird der Einsatz von Cannabis. Antipsychotika können lediglich im Hinblick auf gewisse Komorbiditäten indiziert sein. Bei ADHS ohne assoziierte Störungen sollen sie nicht zum Einsatz kommen. Eine Empfehlung zum Einsatz anderer Substanzen wie selektiver Serotonin-Reuptake-Inhibitoren (SSRI), Modafinil, Selegilin und Buproprion kann auf Basis der vorliegenden Evidenz derzeit nicht gegeben werden. |

Quelle

Langfassung der interdisziplinären evidenz- und konsensbasierten (S3) Leitlinie „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jungend- und Erwachsenenalter“. Stand 02. Mai 2017. AWMF-Registernummer 028-045; www.awmf.org; Abruf am 27. Juni 2018

Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) vom 22. Juni 2018

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