Arzneimittel und Therapie

Niederlage der Borrelianer

„Chronische Neuroborreliose“ nicht als Krankheitsbild anerkannt

rr | Seit Jahren streiten Wissenschaftler, Ärzte und Patienten über die Existenz einer chronischen Form von Borreliose. Der Konflikt gipfelte jüngst vor Gericht: Die Borreliose-Aktivisten erwirkten den Stopp der neuen S3-Leitlinie „Neuroborreliose“, da sie ihre Interessen nicht ausreichend vertreten sahen. Mittlerweile wurde die einstweilige Verfügung aufgehoben und die Leitlinie ohne Zustimmung aller Parteien veröffentlicht: Diese Schlacht ist entschieden, der Glaubenskrieg tobt aber weiter.

Einen Rechtsstreit um eine Leitlinie – das gab es in Deutschland so noch nie. Und dabei war am Anfang alles harmonisch gedacht: Unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) wurden Vertreter aus Patientenorganisationen gezielt in die Entwicklung der S3-Leitlinie eingebunden. Geladen waren unter anderem die Deutsche Borreliose-Gesellschaft e. V. (DBG) und der Borreliose und FSME Bund Deutschland e. V. (BFBD), die sich seit Jahren für die Anerkennung einer chronischen Form von Borreliose stark machen. Über drei Jahre sind seit dem ersten Treffen der Arbeitsgruppe vergangen. Am Ende fand man keinen gemeinsamen Nenner, und das Gericht musste entscheiden.

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Zeckenstiche können schwere Folgen haben. Die nun veröffentlichte S3-Leitlinie „Neuroborreliose“ sieht allerdings keine Anhaltspunkte für ein chronisches Krankheitsbild und rät von einer Langzeittherapie mit Antibiotika ab.

Borrelien gehen auf die Nerven

… zumindest darin waren sich alle Beteiligten einig. Das durch Zecken übertragene Bakterium Borrelia burgdorferi kann zahlreiche Erkrankungsformen in verschiedenen Organen hervorrufen. Ein auffälliges Zeichen für eine Infektion nach einem Zeckenstich ist die Wanderröte, die in über 90% der Fälle auftritt, aber auch leicht übersehen werden kann. Einen typischen Krankheitsverlauf gibt es nicht. Ist das Nervensystem betroffen, kann es zu einer akuten Neuroborreliose kommen. Erwachsene klagen über brennende Nervenschmerzen, die sich besonders nachts verschlimmern und schlecht auf Schmerzmittel ansprechen. Zudem werden Taubheitsgefühle, Seh- oder Hörstörungen und Lähmungen, vor allem im Gesichtsbereich, beschrieben. Die Fazialparese zählt auch bei Kindern zu den häufigsten neurologischen Manifestationen einer Borreliose.

Antikörper sind nicht genug

Bei der Borreliose handelt es sich um eine klinische Diagnose, das heißt Anamnese und Symptomatik sind entscheidend für das weitere Vorgehen. Eine serologische Diagnostik soll nach aktueller Leitlinie nur bei ausreichendem klinischem Verdacht erfolgen. Da es schwierig ist, die Bakterien direkt nachzuweisen, wird der indirekte Weg gewählt und nach den bei erstmaligem Kontakt gebildeten spezifischen Antikörpern gefahndet. Zu Beginn einer Erkrankung kann diese Untersuchung jedoch negativ ausfallen: Borrelien-spezifische IgM-Antikörper findet man in der Regel erst ab der dritten Woche, IgG-Antikörper ab der sechsten Woche. Andersherum deutet ein positiver Test nicht immer auf eine klinisch bestehende Borreliose hin. So können hohe IgG-Antikörpertiter auch für eine frühere, möglicherweise unbemerkte Infektion, die viele Jahre zurückliegt, sprechen.

Lassen Symptome wie Hirnnervenausfälle, Meningitis/Meningoradikulitis oder fokale neurologische Ausfälle eine Neuroborreliose vermuten, sollten eine Liquor- und eine Serum­untersuchung (zeitgleiche Entnahme) durchgeführt werden. Der Verdacht gilt als bestätigt, wenn eine Borrelien-spezifische intrathekale Antikörpersynthese (positiver Borrelien-spezifischer Antikörper-Index [AI]) in Verbindung mit entzündlichen Liquorveränderungen nachgewiesen werden konnte.

Das heißt: Allein die Antikörper nachzuweisen, reicht nicht. Die Leitlinie weist ausdrücklich darauf hin, dass durchaus auch Borrelien-Infektionen mit asymptomatischer Serokonversion vorkommen und über Jahre anhaltende erhöhte IgG- und IgM-Antikörpertiter (in Serum und/oder Liquor) nach ausreichend behandelter Borreliose bei gesunden Personen keine Seltenheit darstellen.

Liquorgängige Antibiotika für zwei bis drei Wochen

Die gute Nachricht: Ist die Diagnose Neuroborreliose sicher gestellt, stehen wirksame Antibiotika zur Therapie zur Verfügung. Die Leitlinie empfiehlt unter Abwägung indivi­dueller Patientenaspekte (Allergien, sonstige Verträglichkeit, Alter, Schwangerschaft, Applikationsweise und -frequenz etc.) die Wirkstoffe Doxycyclin, Ceftriaxon, Cefotaxim und Penicillin G, die sich allesamt durch eine gute Liquorgängigkeit auszeichnen.

Die Behandlung sollte über einen Zeitraum von 14 Tagen (frühe Neuroborreliose) bzw. 14 bis 21 Tage (späte Neuroborreliose) erfolgen. Und hier scheiden sich die Geister …

Der Holzbock als Sündenbock

Eine Reihe von Ärzten und Patienten glaubt, dass eine nicht erkannte oder unzureichend behandelte Infektion mit Borrelien noch Jahre später Beschwerden wie Erschöpfung, Konzentrationsstörungen, Gedächtnis­probleme, Stimmungsschwankungen, Kopf-, Gelenk- oder Muskelschmerzen hervorrufen kann. Bei derart unspezifischen Symptomen ist die Suche nach der Ursache meist lang und beschwerlich. Werden dann Borrelien-spezifische Antikörper im Blut nachgewiesen, sind sich die Betroffenen sicher, die Wurzel allen Übels gefunden zu haben: Borreliose. Einige Ärzte bestärken sie in diesem Glauben und schlagen eine mehrwöchige Anti­biotika-Gabe vor, um das Bakterium, das sich scheinbar seit Jahren im Körper versteckt hat, endgültig zu eliminieren.

Die Mehrheit der Leitlinienautoren, allen voran die DGN, teilt diese Ansicht nicht und kritisiert die Vorgehensweise ihrer Berufskollegen aufs Schärfste. „Schlechte Langzeitverläufe, von denen immer wieder berichtet wird, sind zum erheblichen Teil auf Fehldiagnosen zurückzuführen. Das Nichtansprechen auf die Therapie liegt in diesen Fällen also nicht daran, dass die Borrelien überleben. Der Grund ist vielmehr, dass die Patienten keine Neuroborreliose haben, sondern eine andere Erkrankung, die nicht auf Antibiotika anspricht,“ stellt Prof. Dr. med. Sebastian Rauer vom Universitätsklinikum Freiburg klar. In der nun veröffentlichten Leitlinie wurde dieses Krankheitsbild nicht vollständig ignoriert, doch seine Existenz durch die Bezeichnung „vermeintliche chronische Neuroborreliose“ unmissverständlich negiert. Auch die Bezeichnung „Post-Treatment Lyme Disease Syndrome“ (PTLDS) geistert durch die Literatur – ein Syndrom, das wissenschaftlich weder allgemeingültig de­finiert noch einheitlich akzeptiert wird und diagnostisch von gesicherten Spätmanifestationen der Lyme-Borreliose, Beschwerden durch Persistenz vermehrungsfähiger Erreger und durch Defektheilung bedingten Symptomen abzugrenzen ist, so die Leitlinie.

Was ist zu tun bei einem Zeckenstich?

Zecken sind so bald wie möglich zu entfernen. Am besten geeignet sind spezielle Zeckenpinzetten oder Zeckenkarten.

  • Die Zecke sollte langsam mit Geduld aus der Haut herausgezogen oder -geschoben werden – ohne Drehen oder Vorbehandlung mit Öl oder Klebstoff. Das Quetschen des Körpers sollte vermieden werden.
  • Falls ein Rest des Stechapparates (häufig fehlinterpretiert als „Kopf“) in der Haut verbleibt, kann er mit einer sterilen Nadel oder Kürette entfernt werden, gegebenenfalls von einem Arzt. Hinsichtlich einer Übertragung von Borrelien ist das Verbleiben des Stechapparates in der Haut jedoch unbedenklich.
  • Der Körper und bei Kindern vor allem auch der Kopf sollten nach weiteren Zecken abgesucht werden.
  • Die Haut in der Umgebung der Einstichstelle sollte sechs Wochen lang beobachtet werden. Eine unmittelbar nach dem Stich auftretende Rötung durch die Zeckenspeichelstoffe bildet sich innerhalb einiger Tage zurück. Tritt danach erneut eine Rötung auf oder vergrößert sich die anfängliche Rötung auf ≥ 5 cm, sollte unbedingt ein Arzt aufgesucht werden.
  • Bei einer typischen Wanderröte in der Umgebung des Zeckenstichs soll auch ohne Blutuntersuchung und auch bei noch fehlendem Antikörpernachweis im Blut bereits eine Antibiotika-Behandlung vorzugsweise mit Doxycyclin (bei Kindern erst ab dem neunten Lebensjahr) oder mit Amoxicillin durchgeführt werden. Die Lyme-Borreliose ist im Frühstadium durch die leitlinien­gerechte Antibiotika-Therapie vollständig heilbar.
  • Auch ohne Rötung der Haut kann sich eine Infektion mit Borrelien durch ein grippeartiges Krankheitsgefühl ohne Beschwerden in den Atemwegen bemerkbar machen.
  • Eine Untersuchung der Zecke auf Borrelien ist nicht sinnvoll, da bei positivem Nachweis nicht sicher ist, ob die Borrelien überhaupt in die Haut übertragen wurden und ob sie im Falle der Übertragung zu einer Erkrankung führen. Ein negatives Ergebnis schließt eine Übertragung nicht aus.
  • Nur ein kleiner Teil der mit Borrelien infizierten Menschen erkrankt! Aus diesem Grund ist von einer vorbeugenden oralen Antibiotika-Therapie abzuraten.

Abklärung anderer Faktoren

Eine ganze Reihe von Argumenten spricht nach Ansicht der überwiegenden Mehrheit der Leitlinienautoren gegen die Existenz einer „chronischen Neuroborreliose“:

  • Es gibt keine begleitenden objektiven klinischen Krankheits- und/oder Entzündungszeichen mit Progression,
  • die Symptomatik persistiert unabhängig von einer positiven Borrelien-Serologie,
  • es ist kein Erregernachweis mittels Kultur und/oder PCR möglich und
  • es gibt bislang keine nachgewiesenen Resistenzen von Borrelia burgdorferi sensu lato gegen die üblicherweise eingesetzten Antibiotika, was ein Nichtansprechen auf eine einmalige Antibiotika-Therapie bzw. eine chronische Infektion mehr als unwahrscheinlich macht.

„Die Übertherapie setzt die Patienten einem unnötigen Risiko aus. Wenn die Antibiotika nach zwei bis drei Wochen nicht anschlagen, bringen auch weitere Wochen oder gar Monate nichts.“ mahnt Rauer. Die Leitlinie rät in solchen Fällen zu einer intensiven Differenzialdiagnostik sowohl organischer als auch psychosozialer Krankheitsfaktoren und einer Behandlung entsprechend der Hauptsymptomatik.

Unüberbrückbare Differenzen

Dieser Empfehlung schließen sich nicht alle Teilnehmer der Konsensgruppe an. Von der Deutschen Borreliose-Gesellschaft (DBG) und den Patientenorganisationen Aktionsbündnis gegen zeckenübertragene Infektionen Deutschland e. V. (OnLyme-Aktion), Borreliose und FSME Bund Deutschland (BFBD) und Bundesverband Zecken-Krankheiten e. V. (BZK) wurden Dissenserklärungen abgegeben, die im Anhang des Leitlinienreports publiziert wurden. Somit wurden die Patientenvertreter, die man eigentlich mit ins Boot holen wollte, am Ende doch ausgelagert und zwar an eine Stelle, die nach Meinung der Verbände „in der Regel nicht gelesen“ wird.

Beim Landgericht Berlin erwirkten sie eine einstweilige Verfügung, um die Publikation der Leitlinie aufzuhalten. Drei Monate später wurde der Stopp aufgehoben und der Antrag, die Sondervoten in den Leitlinientext aufzunehmen, zurückgewiesen. Professor Gereon R. Fink, Präsident der DGN, ist froh über das Urteil: „Leitlinien werden nach wissenschaftlichen Kriterien erstellt und nicht nach spezifischen Interessen Einzelner.“

Der BFBD ist dagegen empört: „Wir sehen uns Patienten in der Rolle einer Alibifunktion missbraucht, einzig, um mit der Leitlinie die Klassifikation S3 erlangen zu können.“ OnLyme-Aktion kritisiert: „Das Betteln für eine Behandlung (nicht nur im Rahmen der Neuroborreliose!) ist für teilweise schwer und lange erkrankte Menschen zutiefst erniedrigend und ethisch nicht zu vertreten.“

Eine Frage der Diagnostik?

Die lauteste Stimme unter den Borreliose-Aktivisten erhebt jedoch die DBG – keine Patientenorganisation, sondern eine Gesellschaft von Ärzten und Wissenschaftlern, die das nötige medizinische Know-How mitbringt, um Zweifel zu säen. In der Fachzeitschrift „The Lancet“ wurde bereits vor ihr und dem Druck, den sie auf offizielle Stellen ausübt, gewarnt.

Den Argumenten der Leitlinienautoren setzt die DBG eine lange Liste wissenschaftlicher Quellen entgegen, die für die Existenz einer chronischen Form von Borreliose und die Notwendigkeit einer Langzeittherapie mit Antibiotika sprechen – ein echter Beweis ist jedoch nicht darunter. Zur Diagnostik empfiehlt sie den Lymphozytentransformationstest (LTT), der antigenspezifische T-Lymphozyten nachweist und zwischen aktiver und nicht mehr aktiver Infektion mit Borreliose unterscheiden können soll. Diese Methode, berüchtigt dafür, „falsch positive“ Ergebnisse zu liefern, wird von der Leitlinie ausdrücklich abgelehnt und deren Kosten von den gesetzlichen Krankenkassen im Rahmen der Borreliose-Diagnostik auch nicht übernommen.

Rechtsstreit geht wohl weiter

Eine Einigung zwischen den Parteien in den genannten Streitpunkten ist wohl nicht mehr zu erwarten. Die S3-Leitlinie ist allen Widrigkeiten zum Trotz in ihrer ursprünglichen Version erschienen. Die Kritiker haben angekündigt, in Berufung zu gehen. Doch Rauer gibt sich kämpferisch: „Als Ärzte stehen wir in der Verantwortung, unsere Patienten vor Heilversuchen, deren Nutzen nicht wissenschaftlich belegt ist, die aber schaden können und für die sie mitunter große Summen aus eigener Tasche aufbringen müssen, zu schützen“. |

Quelle

Rauer S, Kastenbauer S et al. Neuroborreliose, S3-Leitlinie, 2018; in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie, Stand: März 2018, AWMF-Registernummer: 030/071 (inklusive Leitlinienreport)

Neuroborreliose: falsche Diagnose und gefährliche Therapie. Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) vom 22. September 2016

Leitlinie zur Neuroborreliose kann in Kraft treten. Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) vom 19. März 2018

Folgen eines Zeckenstichs sicher erkennen und behandeln: Leitlinie Neuroborreliose veröffentlicht. Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) vom 13. April 2018

Der Zecken-Krieg. SWR-Fernsehen, Sendung vom 30. April 2014, verfügbar unter www.swr.de/betrifft/betrifft-zecken-fsme-borreliose-krank/-/id=98466/did=9713432/nid=98466/1mpxhtg/index.html

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