Interpharm 2018 – Entzündung im Visier

„Dem Tiger die Zähne nehmen!“

Neue Strategien gegen Entzündungsprozesse

mc | Welche Mechanismen liegen einer Entzündung zugrunde? Welche Targets in der Signalkaskade sind am vielversprechendsten für die Entwicklung neuer Arzneimittel? Antworten auf diese Fragen gaben Dr. Ilse Zündorf und Prof. Dr. Theo Dingermann in ihrem Vortrag zum Schwerpunkt „Entzündung im Visier“ auf der diesjährigen Interpharm. Dass auch Neurologen inzwischen „coole“ Arzneimittel zur Verfügung haben, zeigte Prof. Volker Limmroth, Köln, am Beispiel der Therapie der multiplen Sklerose.

Entzündungen sind im Normalfall selbstlimitierend und nicht behandlungsbedürftig. Hält eine Entzündung jedoch länger oder sogar permanent an, wird zunehmend Gewebe geschädigt. Um den gesunden Gesamtstatus des Körpers wiederherzustellen, ist dann in der Regel eine Behandlung nötig. Dr. Ilse Zündorf und Prof. Dr. Theo Dingermann, Universität Frankfurt, gaben einen umfassenden und kurzweiligen Überblick über die Entzündungsreaktion, die, wenn nicht geregelt beendet, zu Autoimmun- bzw. autoinflammatorischen Erkrankungen oder zu Krebs führen kann.

Mit neuen Zielstrukturen gegen Alzheimer und Co.?

Man kennt bereits eine Vielzahl an therapeutischen Möglichkeiten. Je besser man das Signalnetzwerk der Entzündungsreaktion versteht, desto eher sind weitere Targets denkbar, an denen man therapeutisch ansetzen kann. Ein Beispiel für interessante Zielstrukturen sind die Inflammasomen. Es wird vermutet, dass sie bei degenerativen Erkrankungen wie Alzheimer, Parkinson oder Atherosklerose vermehrt aktiviert werden. Aufgrund der verschiedenen löslichen Rezeptor-/Ligand-Komplexe in den Inflammasomen könnte es sich allerdings schwierig gestalten, Arzneimittel mit ausreichender Spezifität zu entwickeln. Als weitere spannende Zielstruktur nannten Dingermann und Zündorf die Resolvine. Sie gehören zu den „specialized pro-resolving mediators“ (SPM) und sind an der Auflösungsreaktion der Entzündungen beteiligt (s. DAZ 2018, Nr. 11, S. 38 ff).

Immer mehr leiden unter MS

Die multiple Sklerose (MS), eine typische autoinflammatorische Erkrankung, ist keine Randerscheinung mehr, wie Prof. Dr. Volker Limmroth betonte: Legt man Erhebungen des Versorgungsatlas des Zentralinstituts für die Kassenärztliche Versorgung zugrunde, leiden in Deutschland bis zu 240.000 Menschen an MS. Prävalenz und Inzidenz nehmen weiterhin zu. Dieser Trend ist auch bei anderen T-Zell-induzierten Erkrankungen zu beobachten. Das liegt zum einen an der höheren Lebenserwartung der Menschen sowie an besseren diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten. Zum anderen könnten die steigenden Erkrankungszahlen auch darauf zurückzuführen sein, dass Infektionskrankheiten wie Influenza, Masern oder Tuberkulose immer weiter zurückgedrängt werden.

Die Evolution der MS-Therapie

Waren früher die Rheumatologen den Neurologen arzneimitteltechnisch oft um 10 Jahre voraus, hat die Neurologie inzwischen aufgeholt. MS-Patienten können inzwischen fast ein normales Leben führen. Dass ein junger MS-Patient nach fünf Jahren höchstwahrscheinlich im Rollstuhl sitzt, gilt Limmroth zufolge heute nur noch in Einzelfällen. Standen bis Anfang der 1990er-Jahre vor allem Prednison, für einzelne Schübe Hochdosis-Methylprednisolon (MP) und nichtselektive Immunsuppressiva wie Azathioprin als Dauertherapie im Vordergrund, sind die therapeutischen Möglichkeiten inzwischen vielfältig. Mitte der 90er ergänzten Interferone (IFN) das Behandlungsspektrum – mit einer vergleichsweise geringen Wirksamkeit und nicht immer guter Tolerabilität, aber relativ hoher Sicherheit.

2016 wurde Daclizumab zugelassen. Doch manche Nebenwirkungen lassen sich durch klinische Studien nicht vorhersehen und treten erst bei Anwendung in der breiten Masse auf. Nach vereinzelten tödlichen Fällen von Leberversagen und immunvermittelter Enzephalitis/Enzephalopathie verzichtete Biogen Idec Anfang März 2018 auf die Zulassung.

Die jüngste Neuzulassung ist Ocrelizumab, eine Rituximab-Weiterentwicklung. Der monoklonale Antikörper hemmt die B-Zell-Entwicklung. Limmroth beschrieb den Einfluss der fehlenden B-Zellen sehr bildhaft: Die T-Zellen seien dann ein „Tiger ohne Zähne“ und die inflammatorische Antwort deutlich geringer. Auch bei primär progredienter MS ist Ocrelizumab wirksam.

Krankheitsaktivität gibt die Richtung vor

Der Therapiealgorithmus für die schubförmige MS ändert sich stetig. Noch vor fünf Jahren unterschied man v. a. zwischen Akut-, Basis- und Eskalationstherapie. Spätestens seit der Zulassung von Alemtuzumab passt diese Aufteilung nicht mehr, da der monoklonale Antikörper praktisch von Anfang an eine Erstlinienzulassung erhielt.

Heute rücken daher mehr biologische Mechanismen in den Vordergrund. Entscheidend ist vor allem die Krankheitsaktivität (Tab.). Das macht die Zuteilung eines Patienten für eine Therapie nicht notwendigerweise einfacher, denn die Definition der MS-Aktivität ist fließend: Es gibt Patienten, die zwar hochfrequente, aber leichte Schübe haben, während andere weniger, aber ausgeprägte Schübe haben. Eine Hilfestellung für Therapeuten bietet das „multiple sclerosis desicion model“ – ein Ampelsystem mit vier Domänen (Schubrate, Progression, Neuropsychologie/Fatigue-Symptomatik sowie Kernspin). Treten geringe Änderungen in den Patientenparametern seit der letzten Einbestellung des Patienten auf (eine gelbe Ampel), kann die Therapie zunächst mit engmaschigeren Kontrollen fortgesetzt werden. Verschlechtert sich die Situation des Patienten zunehmend (zwei gelbe oder eine rote Ampel), sollte die Therapie angepasst werden.

Tab.: Therapie der schubförmigen multiplen Sklerose
Krankheitsaktivität
Empfohlene Therapeutika
Akuttherapie
Methylprednisolon
Ggf. Plasmapherese
Niedrig aktive Patienten
Interferon beta 1a/b, pegyliertes Interferon
Glatirameracetat
Dimethylfumarat
Teriflunomid
(Fingolimod)
Hoch aktive Patienten
Alemtuzumab
Fingolimod
Natalizumab
Cladribin
Ocrelizumab
Rituximab (off label)

Weitere Faktoren, die bei der Therapieentscheidung eine Rolle spielen, sind Familienplanung, Wirksamkeit und Tolerabilität des Arzneimittels, aber auch der Aufwand des Monitorings. Interferone, Glatirameracetat oder Dimethylfumarat sind für Patienten mit niedriger Krankheitsaktivität und bestehendem Kinderwunsch sinnvolle Therapeutika. Wirksamer als Interferone sind Fingolimod oder Dimethylfumarat. Sie erfordern jedoch ein aufwendiges Monitoring. Für in Bezug auf Nebenwirkungen besonders empfindliche Patienten eignen sich Fingolimod oder Teriflunomid.

Bei hoher Krankheitsaktivität sind Alemtuzumab oder Natalizumab gute Therapeutika – auch bei Kinderwunsch. Sie sind zwar mit einem erhöhten Monitoring-Bedarf verbunden, sind aber wie auch Ocrelizumab sehr wirksam.

Vitamin D ist sinnvoll

Eine Vitamin-D-Substitution ist für MS-Patienten mit niedrigen Spiegeln durchaus sinnvoll: Die Ergebnisse einer Post-Hoc-Analyse der BENEFIT-Studie ergaben, dass der Vitamin-D-Spiegel mit der Wahrscheinlichkeit korrelierte, einen Schub zu entwickeln. Die eingeschlossenen Patienten hatten zuvor einen einzigen Schub erlitten. Die Zeit bis zum Auftreten des zweiten Schubs dauerte länger bei Patienten mit höherem Vitamin-D-Spiegel. Das verabreichte Interferon wirkte bei ihnen besser. Inzwischen weiß man, dass der apoptotische Prozess von aktivierten CD4- und CD8-T-Lymphozyten bei höheren Vitamin-D-Spiegeln gefördert wird. Die Ergebnisse zweier Studien aus Skandinavien legen nahe, dass bereits die Vitamin-D-Spiegel bei Geburt eine Rolle für das Risiko spielen, später MS zu entwickeln.

Wenig Salz und Rauchverzicht

Es zeigte sich, dass eine hohe Salzaufnahme Th17-Zellen und Makrophagen aktivieren, Treg-Zellen disregulieren und somit antiinflammatorische Mechanismen reduzieren kann. MS-Patienten sollten daher eher salzarm essen. Außerdem zeigen rauchende MS-Patienten einen schlechteren Krankheitsverlauf als nichtrauchende Patienten. |

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