Schwerpunkt Digitalisierung

Fachfremd, aber erfolgreich

Technologieunternehmen mischen den Gesundheitssektor auf

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Von Thorsten Schüller | Gezüchtetes menschliches Gewebe, Miniroboter in den Blutbahnen, 3D-Animationen des ­Gehirns – die Technologisierung der Medizin schreitet mit hohem Tempo voran. Unter den Erfindern sind ­kleine Biotech- und Medizintechnikunternehmen ­ebenso wie die Techgiganten aus dem Silicon Valley. Wer den Durchbruch schafft, kann auf milliardenschwere Umsätze hoffen. Etablierte Unternehmen aus diesen Branchen müssen aufpassen, von der Entwicklung nicht überrollt zu werden.

Professorin Heike Walles und ihr Team vom Lehrstuhl für Tissue Engineering und Regenerative Medizin an der Medizinischen Fakultät der Universität Würzburg arbeiten an Projekten, die Außenstehende gleichermaßen faszinieren als auch sprachlos machen. Walles ist Spezialistin für Tissue Engineering, also der Züchtung menschlichen Gewebes aus körpereigenen Zellen. Dabei werden die im Labor gewonnenen Gewebe in der Transplantationsmedizin – beispielsweise nach Brandverletzungen – eingesetzt, aber auch für Arzneimitteltests, in der Krebsforschung oder als Gewebeersatz nach Tumoroperationen. 2009 gelang Walles gemeinsam mit ihrem Mann, für Patienten menschliches Luftröhrengewebe zur Therapie von Defekten der Trachea zu züchten. 2010 startete unter ihrer Leitung ein EU-Forschungsprojekt zur Knochenregeneration.

Auch im Innern des menschlichen Körpers tun sich ungewöhnliche Dinge. Mini- und Nanoroboter schwirren durch die Blutbahnen, transportieren Wirkstoffe direkt zum Krankheitsherd, führen Operationen durch und lösen sich schließlich selbst auf. Für Patienten stellen die Miniwerkzeuge eine große Erleichterung dar: Da mit ihrer Hilfe kaum noch aufgeschnitten werden muss, ist die Wundheilung in diesen Fällen fast kein Problem mehr. Zudem ist der Blutverlust gering und die Präzision solcher Eingriffe sehr hoch.

Zeitenwende in Gesundheitsindustrie

In der Gesundheits- und Pharmaindustrie ist eine Zeitenwende im Gange. Während die Entwicklung und Produktion von Arzneimitteln und Diagnostika bislang die Domäne von etablierten und auf diese Bereiche fokussierten Pharma-, Biotech- und Diagnostikunternehmen war, drängen zunehmend neue Mitspieler aus artfremden Branchen in diesen Markt. Darunter sind einerseits kleine, wendige und ideenreiche Start-ups und Biotechunternehmen. Aber auch Technologiekonzerne wie Alphabet – die Mutterholding von Google –, Samsung oder Amazon finden offenbar zunehmend Interesse an der Gesundheitsindustrie.

„Es ist so aufregend, so spannend, was in der Medizin passiert, was für eine Entwicklung, meine Güte“, zitierte kürzlich das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ Peter Lee, Forschungschef von Microsoft, Professor für Cybersicherheit, und einst ein führender Wissenschaftler des US-Vertei­digungsministeriums. „Die Medizin ist reif für eine Revolution“, so seine Einschätzung.

Dass diese Entwicklung weit mehr als nur die Träumerei einiger Fantasten ist, zeigt die Tatsache, dass bereits zahlreiche konkrete Produkte daraus entstanden sind oder sich in der Entwicklung befinden. So hat Google beispielsweise das Patent auf eine „intelligente“ Kontaktlinse, die Glukose in der Tränenflüssigkeit messen kann und damit Diabetikern helfen könnte, ihren Blutzuckerspiegel zu überwachen.

Calico, ein Tochterunternehmen von Alphabet, hat sich seinerseits den altersbedingten Krankheiten verschrieben. Calicos Schwesterfirma Verily, ein erst Ende 2015 gegründetes Unternehmen aus der Alphabet-Familie, verfolgt sowohl Arzneimittel- als auch Diagnostik- und Medizintechnik-Entwicklungsprogramme in verschiedenen therapeutischen Gebieten.

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Eine „intelligente“ Kontaktlinse, die Glukose in der Tränenflüssigkeit messen kann – entwickelt von Google.

Atlas der menschlichen Zellen

Einen anderen Weg beschreitet Facebook-Gründer Mark Zuckerberg, der den Aufbau eines „menschlichen Zellatlas“ ­finanziert. Dabei soll ein mit 600 Millionen Dollar ausgestattetes Forschungszentrum unter anderem alle menschlichen Zellen kartografieren und damit den Weg zu neuen Arzneimitteln ermöglichen.

Der Milliardär und Wagniskapitalgeber Peter Thiel wiederum hat einen Investmentfonds namens Breakout Labs gegründet, der Millionen von Dollars in Start-ups steckt, die Neues in den Bereichen Biotechnologie, Materialien, Technologie und Energie wagen. Und der ehemalige Facebook-Präsident Sean Parker hat ein nach ihm benanntes Institut für Krebsimmuntherapie auf den Weg gebracht.

Längst haben die Entwicklungen der digitalen Welt erheblichen Einfluss auf den medizinischen Alltag. So gibt es bereits zahlreiche Apps für Smartphones, die dem Nutzer und Patienten das Leben erleichtern wollen. Der US-Pharmakonzern Johnson & Johnson beispielweise hat Apps entwickelt, die an einem bestimmten Standort das durch Pollen ver­ursachte aktuelle Allergiepotenzial in der Luft messen.

Kleine, tragbare Helfer

Daneben gibt es eine Flut von sogenannten Wearables, also kleinen Geräten, die man am Körper trägt und die mehr oder weniger wichtige Funktionen des Trägers aufzeichnen. So gibt es tragbare Messgeräte, die Aufschluss über den der­zeitigen Krankheitsstand von Patienten mit rheumatoider Arthritis geben. Andere Apparate erfassen mehrere Vitaldaten wie Herzfrequenz, Sauerstoffsättigung, Hauttemperatur, Perfusion oder Hautleitfähigkeit und berechnen anhand dieser Werte weitere Daten wie Stressparameter, Atemfrequenz oder Herzratenvariabilität. Durch die enge Überwachung der körpereigenen Funktionen, so die Vorstellung der Erfinder, können Krankheiten frühzeitig erkannt werden. Eine andere Anwendung überwacht mit einem kleinen Sensorgerät auf nicht stationäre Weise Herzleistungen. Im Alltag, so die Vorstellung, könnten Risikopatienten so durch permanente Messung über kritische Situationen alarmiert werden.

Die Forscher versuchen mit ihren Erfindungen aber auch konkrete Erkrankungen zu bekämpfen. So haben Professor Oliver Hayden vom Heinz-Nixdorf-Lehrstuhl für Biomedizinische Elektronik der Technischen Universität München (TUM) und der niederländische Hämatologe Jan van den Boogaart gemeinsam einen Blutschnelltest für Malaria entwickelt. Dafür sind die beiden in der Kategorie „Industrie“ mit dem Europäischen Erfinderpreis 2017 ausgezeichnet worden.

Peter Gersing, Business Development Manager des australischen Unternehmens Grey Innovation, weist in einem Beitrag für das Netzwerk Medizintechnik und Pharma, Med-Tech Pharma, auf ein Projekt hin, dass bei Kindern in einem frühen Stadium den Schweregrad von Autismus feststellen kann.

Auch die Robotik hält Einzug in die tägliche Medizin. Forschern des Max-Planck-Instituts ist es erstmals gelungen, einen Mikro-Roboter zu entwickeln, der sich in menschlichen Körperflüssigkeiten wie Blut oder Augenflüssigkeit fortbewegen kann. Der muschelförmige Mini-Roboter, so die Hoffnung, könnte so direkt am Krankheitsherd zum Einsatz kommen.

Wissenschaftler arbeiten zudem an implementierbaren Robotern, die helfen sollen, Herzinsuffizienzen zu behandeln und Schlaganfällen vorzubeugen. Erste Versuche am Schweineherzen, heißt es, seien erfolgreich gewesen.

3D-Modelle für Operationen

Eine noch junge Disziplin in der medizinischen Innovation sind 3D-Techniken. Hierzu hat die US-Zulassungsbehörde FDA erst kürzlich Richtlinien für Unternehmen herausgegeben, die mit Geweben, medizinischen Geräten und Arzneimitteln arbeiten, die mittels 3D hergestellt werden. Wie der Branchendienst „Stat News“ berichtet, werde mit derartigen Produkten bereits in US-Krankenhäusern und Forschungslaboren gearbeitet, beispielsweise um Ärzten anhand von 3D-Modellen Hilfestellung bei Knochenoperationen zu geben.

Die Entwicklung neuer medizinischer Anwendungen durch technologieorientierte Unternehmen ist mittlerweile so weit fortgeschritten, dass sich die britische Großbank HSBC in einer Studie mit dem Titel „Techs and Drugs“ eigens diesem Thema gewidmet hat. Die Analysten kamen darin zu dem Ergebnis, dass Tech-Firmen den Einstieg in die für sie neuen Geschäftsbereiche wesentlich schneller umsetzen können als es die dort bereits etablierten Pharma- und Medizintechnikunternehmen bislang getan haben. Die Autoren gehen außerdem davon aus, dass die Infiltration der neuen Mitspieler in die Gesundheitsindustrie weitergehen dürfte. Das wiederum könnte einen grundlegenden Paradigmenwechsel einleiten, die bisherigen Platzhirsche massiv unter Druck setzen sowie in letzter Konsequenz auch erheblichen Einfluss auf die Arzneimittelpreise haben.

Die Fragen, die die Entwickler bei ihrem Tun antreiben, sind dabei meist recht grundlegend: Wie lassen sich Krebs, Depressionen oder Alzheimer besiegen? Wie lassen sich Blutwerte, Insulin oder Herzschlag rund um die Uhr analysieren? Wie lassen sich Patienteninformationen, klinische Studien und Forschungsergebnisse maschinell auswerten?

Die Antworten liefert heute vielfach die medizinische Datenverarbeitung. So erforscht Google beispielsweise, wie Algorithmen Hautkrebs auf Fotografien erkennen können, wie Software Depressionen besiegen kann oder wie Herzinfarkte dank künstlicher Nanopartikel in den Blutgefäßen vorhergesagt werden können.

Management der Datenmengen

Die große Herausforderung ist vor allem das Management der ungeheuren Datenmengen. Nach Einschätzung des Nachrichtenmagazins „Spiegel“ geht die Logik so: Technologie treibe den Fortschritt rasend schnell voran. Die Rechenkraft explodiert. Riesige Datenmengen auszuwerten werde jeden Tag leichter. Zudem mache künstliche Intelligenz, die neue Wunderwaffe der Medizin, alles einfacher – Genome in ein paar Minuten für ein paar Hundert Dollar zu sequenzieren, neue Medikamente zu entwickeln, Zellfunktionen zu verstehen.

„Allein die moderne molekulare Medizin hat im Jahr 2015 mehr Daten erzeugt als im gesamten Zeitraum von 1990 bis 2005“, stellt Burkhard Rost, Professor für Bioinformatik an der Technischen Universität München, fest. Und in diesem Tempo werde das auch weitergehen. Bisher aber hinkten Aufbereitung, Analyse und Anwendung dieser Datenschätze noch hinter den technischen Möglichkeiten her. Dabei fehle es insbesondere an entsprechenden Algorithmen und die Verknüpfung so unterschiedlicher Fächer wie Medizin und Biologie einerseits und Informatik andererseits. „Die Interpretation der gigantischen Datenmengen kann ein Biologe gar nicht selbst leisten“, sagt auch Hans-Werner Mewes, Professor für Genomorientierte Bioinformatik an der TUM. „Hier braucht man bioinformatische Methoden.“

Eine weitere Herausforderung liegt für die Firmen daher darin, geeignetes Personal zu finden. Google, Amazon, Facebook und Apple werben mittlerweile intensiv Mediziner, Chemiker und Biologen für ihre neuen Geschäftsaktivitäten an. Insbesondere im Silicon Valley herrsche die Idee vor, dass die Entschlüsselung der Biologie und das Verständnis von Krankheiten ein Datenproblem sei, welches zumindest teilweise nur von Softwareexperten gelöst werden könne. Pharmaunternehmen und Unikliniken konkurrierten daher um die Gunst von Informatikern, Datenanalytikern und Programmierern. Besonders gefragt sind Bioinformatiker – Leute also, die sowohl in der Biologie als auch in der Computerwelt zu Hause sind.

Druck auf etablierte Pharmafirmen

Angesichts dieser Entwicklungen dürften die etablierten Pharmaunternehmen auch in Zukunft heftigen Gegenwind durch die erstarkende Konkurrenz spüren. Konkret werfen die HSBC-Analysten einen Blick auf den Schweizer Roche-Konzern, der beispielsweise in seinen Diagnostikaktivitäten den Druck durch die neuen Wettbewerber zu spüren bekommen könnte. Ähnliches gilt für Arzneimittel: Sollten die Techkonzerne stärker in die Herstellung biopharmazeutischer Medikamente einsteigen, könnten die Preise dieser Produkte unter Druck geraten – und damit etablierte Unternehmen wie Novo Nordisk, Sanofi oder wiederum Roche.

Wohin die Entwicklung gehen könnte, das zeigte kürzlich wieder einmal die jährliche Verleihung der Breakthrough Prizes im Silicon Valley an vier Biomedizin-Forscher, die für ihre Arbeiten im Bereich der Zell- und Proteinforschung sowie von Alzheimer ausgezeichnet worden sind. Das Ziel dahinter: Die Vorgänge im menschlichen Körper noch besser verstehen, um noch bessere Therapien entwickeln zu können. Die Arbeit, soviel scheint sicher, wird den Wissenschaftlern nicht ausgehen. |

Autor

Thorsten Schüller ist freier Wirtschaftsjournalist und schreibt u. a. für DAZ.online über den Apotheken-, Pharma- und Großhandelsmarkt.

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