Schwerpunkt Weihnachtsbaum

Die Lebensqualität der Weihnachtsbäume

Wie wir den Bäumen guttun und sie uns

Von Clemens Arvay | Für uns Pflanzenbiologen sind schwere Zeiten angebrochen: Wir können den Fernseher oder das Radio nur noch mit einer ausreichenden Dosis Baldriantropfen aus der Apotheke unseres Vertrauens einschalten. Die Gefahr, dass gerade dann über tuschelnde Farne, tratschende Brombeersträucher, stillende Baummütter und panisch um Hilfe schreiende Zimmerpalmen berichtet wird, ist derzeit einfach zu hoch.

Solche Schlagzeilen können bei Biologen mit der Zeit zu ernsthaften psychosomatischen Reaktionen wie einer sprunghaften Erhöhung der Pulsfrequenz, Herzrhythmusstörungen, Atemnot bis hin zu Übelkeit führen. Aber der Reihe nach …

Neulich berichtete ein bekannter Förster in einer deutschen Talkshow darüber, „wie die Lachse in die Bäume wandern“. Und wie tun sie das? Na, indem sie sich von Wildtieren fressen lassen, den Verdauungstrakt passieren, im Wald ausgeschieden werden und sich von Mikroorganismen in Humus verwandeln lassen, bis ihre molekularen Fragmente irgendwann von Baumwurzeln aufgenommen werden. So „wandern“ die Lachse „in die Bäume“. Der Moderator zeigte sich ganz überrascht über diese „moderne Wissenschaft“, welche gerade die „Geheimnisse der Natur“ lüftet. Glücklicherweise stand mein Baldrianfläschchen in unmittelbarer Reichweite zur Fernbedienung.

Das Lieblingslied der Pflanzen

Und haben Wissenschaftler nicht nachgewiesen, dass Pflanzen klassische Musik mögen und bei Heavy Metal sterben? Jetzt müssen Teenager zur Weihnachtszeit womöglich im ganzen Land von früh bis spät Mozart, Bach und Beethoven ertragen und dürfen keine Rockmusik mehr hören, weil das dem Weihnachtsbaum nicht guttut. Nicht, dass ich an klassischer Musik etwas auszusetzen hätte, aber das Verbot von Hardrock widerstrebt doch jeder modernen Pädagogik. Ach, das haben wir alles dieser Dorothy zu verdanken.

Foto: jojjik – stock.adobe.com

1973 erschien das Buch „The Sound of Music and Plants“ aus der Feder einer professionellen Kirchenmusikerin. Sie liebte sakrale Klänge, aber sie hasste Rockmusik. Dorothy Retallack war davon überzeugt, dass die harten Trommelschläge des damals neuen Musikstils schädlich für uns Menschen sind und die soziale Entwicklung von Jugendlichen stören. Sie benutzte Alben von Led Zeppelin und Jimi Hendrix, um sie Pflanzen vorzuspielen. Deren Wachstum verglich sie dann mit Pflanzen, die sie mit Musik von Johann Sebastian Bach bespielt hatte. Laut Retallack seien die Pflanzen aus der „Rockgruppe“ schlechter gewachsen als die aus der „Klassikgruppe“. Das sollte der Beweis dafür sein, dass Rockmusik für unsere Zellen schädlich ist.

Wie immer, wenn bei einem Experiment etwas herauskommt, was das Weltbild der Experimentatoren punktgenau bestätigt, wäre größte Vorsicht geboten gewesen. Doch die Meldung ging um die Welt: Rockmusik hemmt das Wachstum von Pflanzen, klassische Musik fördert es. Und mehr als vierzig Jahre später hält sich dieser Mythos noch immer hartnäckig.

Es sei nur am Rande erwähnt, dass Dorothy Retallack ihre Versuche in privaten Häusern und nicht in Forschungsglashäusern durchführte, die aber für Pflanzenexperimente unerlässlich gewesen wären. Auch die ­geringe Gruppengröße von nur fünf Pflanzen und die fehlenden Wiederholungen widersprachen jedem wissenschaftlichen Anspruch. Man hätte ja der Musikerin einfach ihre Freude an dem Experiment und ihren für sie zufriedenstellenden Ergebnissen lassen können und alles könnte längst Geschichte sein. Wenn da nicht diese Medien wären …

Fast niemand weiß, dass die Biologen Richard Klein und Pamela Edsall schon 1965, also fast zehn Jahre vor Dorothy Retallack, ähnliche Versuche im botanischen Garten in New York durchgeführt hatten. Das eindeutige Ergebnis: Die Art der Musik hat keinen Einfluss auf die Gesundheit oder das Wachstum von Pflanzen. Allerdings kann sich zum Beispiel die Wahl der Lautsprecher auf die Gewächse auswirken. Tonanlagen mit höherer Wärmeabstrahlung können das Wachstum von Pflanzen beschleunigen. Daran wird ersichtlich, wie viele mögliche Tücken und Fallen man bei der Durchführung solcher Versuche berücksichtigen muss, um wirklich vergleichbare Ergebnisse zu erzielen. Über die unspektakulären Ergebnisse der New Yorker Botaniker Klein und Edsall berichtete abgesehen von botanischen Fachjournalen kein einziges Medium. Und das, obwohl sie ihre Experimente in gut ausgestatteten Forschungsglashäusern durchgeführt hatten.

Die gar nicht neue Pflanzensoziologie

Was wir heute in den Medien alles über das angeblich so „geheime“ Leben der Pflanzen hören und lesen, ist eigentlich gar nicht so neu und geheimnisvoll. Es ist Biologen seit vielen Jahrzehnten bekannt, dass zum Beispiel die Bäume des Waldes über ein gigantisches unterirdisches Netzwerk aus Pilzen und Wurzeln miteinander verbunden sind, über das sie unter anderem Nährstoffe und biologische Signale miteinander austauschen. Damit befasst sich die Vegetationsökologie, die jeder Biologiestudent schon im ersten Semester vermittelt bekommt. Und die biologische Kommunikation der Bäume ist seit ebenso vielen Jahrzehnten Gegenstand der sogenannten Pflanzensoziologie.

Pflanzen kommunizieren nicht tuschelnd und quasselnd miteinander, sondern über bioaktive Moleküle, die alle zu den Terpenen oder Terpenoiden (das sind Terpene mit funktionellen Gruppen) gehören. Diese fungieren als bedeutungstragende, chemische Verbindungen. Es sind somit Botenstoffe. Ein Beispiel: Wenn ein Baum – sagen wir ein Nadelbaum – von einem Krankheitserreger angegriffen wird, erhöht sein Immunsystem die Produktion von Abwehrstoffen wie Pinen, Limonen und Cineol. Diese als „Phytonzide“ bezeichneten Terpene reichern sich dann in der Waldluft an. Da es sich eben um Abwehrstoffe handelt, korreliert ihre Konzentration in der Luft mit der Art und Stärke des Schädlingsbefalls. Bäume haben im Laufe der pflanzlichen Evolution gelernt, aus dem biochemischen Milieu des Waldes Rückschlüsse auf drohende Gefahren zu schließen. Wenn nun ein Baum am Waldrand die Abgabe bestimmter Terpene erhöht, reagieren auch Bäume, die weiter im Waldesinneren wachsen, durch ihr Immunsystem mit einer ­Aktivierung ihrer Abwehrkräfte und einer erhöhten Terpenproduktion. So verbreitet sich diese Form der Botschaft im Reich der Bäume: „Achtung, wir werden angegriffen!“ Es sind die großen Regelkreise der Natur, die dabei wirksam werden.

Diese Abläufe sind mit denen im menschlichen Organismus vergleichbar. Auch unser Immunsystem hat sich als ein im biologischen Sinne kommunikationsfähiges Sinnessystem erwiesen, das dynamisch auf Einflüsse aus der Umwelt reagiert, indem es Boten- und Abwehrstoffe produziert. Unsere Organe und Zellen „kommunizieren“ ebenfalls untereinander – und mit dem Gehirn.

Aber wir würden nicht ernsthaft auf die Idee kommen, zu behaupten, unser Magen „unterhält sich“ mit dem Darm, die Leber „tuschelt“ oder das Immunsystem „schreit nach Hilfe“, wenn es bestimmte Botenstoffe aussendet, welche zu einem Wundheilungs- oder Abwehrprozess führen. Die Kommunikation der Bäume im Wald ist vergleichbar mit der biologischen Kommunikation von Zelle zu Zelle, Organ zu Organ. Wir können uns dabei den Wald wie einen übergeordneten, ausgedehnten Organismus vorstellen – ein biologisches System der Zusammenhänge. In gewisser Weise unterhält das komplexe Ökosystem des Waldes über die Aktivität der Bäume ein kollektives Immunsystem. Bäume sind faszinierende Lebewesen und ich persönlich habe großen Respekt vor ihnen. Aber sie „stillen“ ihre „Babys“ nicht, richten keine „Kindergärten“ und auch keine „Sozialämter“ ein. Sie schicken kein „Fax“ und „telefonieren“ nicht über unterirdische Leitungen. Pflanzen sind aus evolutionsbiologischer Sicht die „gänzlich anderen Wesen“. Davon geht für mich die eigentliche Faszination des Pflanzenreichs aus. Ich halte die Vermenschlichung von Pflanzen durch die Medien für einen Irrweg. Manchmal habe ich den Eindruck, wir wollten die Pflanzen erst zu einer Art Mensch erklären, damit wir über sie staunen können. Sie sollen „wie wir“ sein.

Terpene und das menschliche Immunsystem

Tatsächlich neu und bislang wenig erforscht sind die Zusammenhänge zwischen Terpenen in der Waldluft und unserem Immunsystem. Feldstudien der Nippon Medical School in Tokio legten diesen Zusammenhang in den letzten Jahren offen. Hunderte Versuchspersonen zeigten bei Blutabnahmen nach Waldspaziergängen einen deutlichen Anstieg der natürlichen Killerzellen. Diese Vertreter der weißen Blutkörperchen haben die Aufgabe, Viren aus unserem Körper zu eliminieren und gefährliche Zellen, die zu Tumoren entarten könnten, aufzuspüren und abzutöten. Der Wald erhöht nicht nur die Anzahl der Abwehrzellen, er macht sie auch aktiver. Ein Tag im Wald führte in den Studien bei Stadtbewohnern zu einer 40-prozentigen Vermehrung der natürlichen Killerzellen im Blut, zwei Tage sogar zu einem 50-prozentigen Anstieg. Wer mindestens zwei volle Tage pro Monat in einem Waldgebiet verbringt, kann mit einer dauerhaften Wirkung auf das Immunsystem rechnen, wobei die Regelmäßigkeit der Waldbesuche ein sehr wichtiger Faktor ist. Das ist ein starkes Argument dafür, dass wir unsere Beziehung zu Wäldern neu überdenken sollten.

Es folgten weitere Studien, in denen Versuchspersonen in Hotels in Tokio untergebracht wurden. Die Hälfte von ihnen bekam nachts über einen Verdampfer Terpene aus der Japanischen Zypresse verabreicht. Bei der anderen Hälfte wurde die Luft nur mit herkömmlichem Wasserdampf angereichert – dem Placebo in der Studie. Und siehe da: Blutproben am nächsten Tag zeigten – genauso wie im Wald – einen Anstieg der natürlichen Killerzellen bei den Teilnehmern, die Baumsubstanzen eingeatmet hatten. Wenn wir die Terpene aus der Waldluft einatmen, reagiert unser Immunsystem nicht nur mit einer Vermehrung der natürlichen Killerzellen, sondern auch der drei wichtigsten antikarzinogenen Proteine Perforin, Granulysin und der Granzyme. Begleitende Untersuchungen an menschlichen Zellkulturen ­sicherten die Erkenntnisse ab und ­bestätigten, dass die Terpene Pinen, Limonen und Cineol die wirksamsten sind. Diese finden sich vor allem in Nadelbäumen.

Literaturtipp

Unser Körper endet nicht an der Hautoberfläche: Mensch und Natur sind tiefgreifend miteinander verbunden. Nach seinem Bestseller „Der Biophilia-Effekt“ tritt Clemens G. Arvay nun den wissenschaftlichen Beweis für die Heilkraft der Natur an: Auf welche Weise stärken Pflanzenstoffe im Wald unser Immunsystem? Welche Anti-Krebs-Wirkstoffe aus der Natur könnten auch in Medikamenten eingesetzt werden? Welche Rolle spielen Tiere in dem großen Organismus Erde, zu dem auch wir gehören? Und was tragen Begegnungen mit Tieren zur Herzgesundheit bei?

Arvay schildert seine Erkenntnisse als Biologe und zieht weltweit führende Forscher zurate. So etabliert er die neue Wissenschaft der Ökopsychosomatik, die unser Verständnis von uns selbst und unserer Verbindung mit der Umwelt revolutioniert.

Clemens G. Arvay

Der Heilungscode der Natur: Die verborgenen Kräfte von Pflanzen und Tieren entdecken

2016 , 256 S., gebunden 19,99 EUR, Riemann Verlag, ISBN 978-3570502013

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Ich mache es zu Weihnachten daher so: Ich kaufe eine lebendige Rotkiefer in einem großen Topf und schmücke sie. Beim Einatmen ihres ätherischen Dufts vergegenwärtige ich mir, dass die Substanzen, die sie abgibt, gut für mein Immunsystem sind. Rotkiefern gehören zu den reichhaltigsten Quellen für Pinene in Mitteleuropa. Sie enthalten diese wertvollen Terpene in ihrem ätherischen Öl und geben sie an die Umgebungsluft ab. Welche Musik ich an Heiligabend höre, spielt für meine Beziehung zu dem Baum keine Rolle – und auch nicht für die Gesundheit der Rotkiefer. Nach dem Fest pflanze ich sie in meinem Garten in die Erde. Dort entsteht – nach und nach – ein kleiner „Waldgarten“ nach dem Vorbild der Natur. Mit jedem neuen Baum wird das Ökosystem vor meiner Türe komplexer und die Luft reichhaltiger an bioaktiven Substanzen, die unsere Gesundheit fördern. Die junge Wissenschaft der Waldmedizin ist diesen Naturwirkstoffen auf der Spur. In Japan ist sie bereits staatlich anerkannt und wird vom öffent­lichen Gesundheitswesen unterstützt. Aber das ist eine andere Geschichte … |

Autor

Dipl.-Ing. Clemens G. Arvay, Biologe und Buchautor. Studium der Landschaftsökologie und angewandten Pflanzenwissenschaften in Wien und Graz. Arvay beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen Mensch und Natur, wobei er die gesundheitsfördernden Wirkungen des Kontakts mit Pflanzen, Tieren und Landschaften in den Mittelpunkt rückt. Er hat zahlreiche Bücher verfasst, darunter Bestseller wie „Der Biophilia-Effekt“, 2015 erschienen bei edition a.

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