Schwerpunkt Contergan

Was heißt denn schon behindert?

Eine Sängerin und Musiklehrerin meistert ihr Leben als Contergan-Geschädigte

Von Rut Katzenmaier | Sonnengelb ­fröhlich strahlt die Außenfassade des Mehrfamilienhauses in Böblingen, einer Kreisstadt etwa 20 Kilometer südwestlich von Stuttgart. Die Fenster sind hell erleuchtet, Kinderlachen ist zu hören, als Pekka Peltonen die Türe öffnet: Die Haushaltshilfe und ihr kleiner Sohn verabschieden sich gerade. Peltonens Frau, Angelika Bernhard-Peltonen, wartet schräg hinter ihm in der Wohnungstür. Das Erste, was auffällt, sind ihr Lachen und ihr offenes Auftreten. Zur Begrüßung gibt es das typisch deutsche Händeschütteln. Die Arme der Musiklehrerin sind jedoch um ein Vielfaches kürzer als normal – von Schulter bis zu den Fingerspitzen mögen es rund 20 Zentimeter sein – ein typischer Fall von Schädigung durch Contergan.
Foto: privat
Angelika Bernhard-Peltonen

Weder totgeschwiegen noch verborgen

Ein Schock war es für die Familie, als das jüngste der fünf Geschwister auf die Welt kam. „Meine Mutter hatte das Medikament vom Arzt verschrieben bekommen“, erinnert sich die heute 56-Jährige an frühere Gespräche mit der Mutter, die all die Jahre für die Selbstständigkeit der Tochter kämpfte. „Behinderte Kinder bekommen oft mehr Aufmerksamkeit seitens der Eltern, als nicht behinderte“, ist sie überzeugt. „Das kann zu Problemen und Zwistigkeiten führen. Meine älteren Geschwister waren aber schon weitestgehend selbstständig. Wir haben bis heute einen recht guten Draht zueinander.“

Verhätschelt und bevorzugt wurde Angelika Bernhard-Peltonen nicht. Ganz im Gegenteil: Sie wurde immer dazu angehalten, sich vieles zuzutrauen und zu ver­suchen, was sicherlich ein wichtiger Punkt für ­einen guten Start in ein selbstbestimmtes Leben war. In den 1970er-Jahren wurde eine Körper­behinderung je nach Elternhaus entweder totgeschwiegen und verborgen oder aber das Kind wuchs – wie Angelika Bernhard – ganz normal auf. Ob Kindergarten, Grundschule, Gymnasium und das anschließende Studium, die Hilfe von außen kam meist ganz von selbst. Die junge Frau lernte zwar schreiben – aber aufgrund der kurzen Arme eben langsamer als die Mitschüler. Kein Problem: Die Lehrer und Professoren stellten sich auf ihr Handicap ein. Das konnte bedeuten, dass ein Diktat in einer ­Zusatzstunde nochmals langsam ­diktiert wurde oder aber, dass mancher Lehrstoff eben nur theoretisch abgefragt wurde.

„Konkurrieren und zeigen, was ich kann – das war mir immer wichtig.“

Bekannt wie ein bunter Hund in ganz Baden-Württemberg

Auch in ihrer Freizeit ließ sich die Sopranistin damals nicht stoppen. Radfahren, Voltigieren und Discobesuche – geht nicht gibt’s nicht war die Devise. Was die Freundinnen machten, versuchte die junge Frau ebenfalls. „Mein früherer Chef kannte meine Mutter zwar nicht näher“, amüsiert sich Angelika Bernhard-Peltonens 24-jähriger Sohn Johannes. „Aber er fragte irgendwann, ob die Frau, die früher auf einem orangefarbenen Spezial-Mofa durch Böblingen und Umgebung sauste, vielleicht meine Mutter sei.“

Bekannt „wie ein bunter Hund“ wurde Angelika Bernhard-Peltonen spätestens nach ihrem Studium an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart: In ganz Baden-Württemberg trat sie bei Liederabenden und Kirchenmusik-Konzerten auf. „In dieser Arbeit konnte ich konkurrieren und zeigen, was ich kann – das war mir immer wichtig.“ Mit dem eigenen Auto zu den Konzerten und am nächsten Tag Unterricht an einer Musikschule geben – was auch für Nicht-Behinderte Stress bedeuten kann, ist für körperbehinderte Menschen noch einmal so anstrengend. Karriere um ­jeden Preis stand für die junge Frau nicht zur Debatte. Auch Forderungen, die heute als unmoralisch angesehen würden, wie etwa: „Wir bringen Sie im Fernsehen groß raus – aber Sie müssen sich so kleiden, dass man Ihre Behinderung nicht sieht“, kam sie nie nach. „Ich musste nicht alles mitnehmen und den Stress hielt ich weitestgehend niedrig, indem ich eben ausschließlich in Baden-Württemberg auftrat“, erklärt die Sängerin ihren damaligen Entschluss, nicht jeden Gesangs­termin wahrzunehmen.

Sie verdiente das Geld – er hielt den Haushalt in Ordnung

Die Eheschließung mit dem Finnen Pekka Peltonen und die Geburt des gemeinsamen Sohnes Johannes änderte dann nochmals die Prioritäten. Gerade die Geburt des Kindes brachte neue Herausforderungen mit sich. Da jeder Handgriff im Haushalt für Contergan-Geschädigte eine Herausforderung darstellt, übernahm ihr Ehemann diesen Part. Kochen, Kind versorgen, Haushalt in Ordnung halten – das waren seine Aufgaben – aber nicht nur. Er schrieb auch Kindergeschichten und arbeitete als freier Journalist und Übersetzer – immer von Zuhause aus, versteht sich. „Und ich habe das Geld verdient, auf der Bühne und als Lehrerin“, amüsiert sich Angelika Bernhard-Peltonen über die in den vergangenen Jahren doch eher unübliche Arbeits­teilung. „Seit 2011 singe ich allerdings nicht mehr öffentlich. Das überlasse ich jüngeren. Ich hatte meine Erfolge, jetzt ist deren Zeit gekommen.“

2007 übernahm sie eine Teilzeitstelle an einem musikalisch-orientierten Gymnasium in Böblingen. Sechs Schulstunden pro Woche Gesangs- und Stimmbildung mit Kindern und Jugend­lichen. Dass sie Freude an dieser Arbeit hat, merkt man sofort – während des Erzählens leuchten die Augen der Sopranistin.

„Wie man aussieht, ist nicht wichtig. Musikalität und Stimme zählen, nicht Haarfarbe, Gewicht oder Körperbau. Für die Schüler bin ich Frau Bernhard-Peltonen. Dass ich Körperschädigungen habe und woher diese kommen, interessiert niemanden. Das nenne ich Inklusion in Reinkultur!“

Das „ganz normale Leben“ tut ihr gut. „Ich bin sicherlich kein „Durchschnitts-Conti“. Für mich war immer klar, dass ich aus meinem Leben etwas machen will. Mich in die Ecke zu setzen, zu jammern und mit dem Schicksal zu hadern, war nie mein Ding“, bringt die heute 56-Jährige ihr Leben auf den Punkt. Dass ihr so vieles gelungen ist, verdankt sie vor allem den Unterstützern, denen sie im Laufe ihres Lebens immer wieder begegnet ist.

Foto: privat

Viel Unterstützung im Leben

„Es fanden sich immer Menschen, die an mich geglaubt und mir geholfen haben. Sei es ein Unternehmer, der mir eine Vorrichtung baute, damit ich Mofa fahren konnte, ein Reitlehrer, der sagte, dass er mich unterstützt, wenn ich voltigieren will oder mein kriegsversehrter Professor an der Hoch­schule, der dafür sorgte, dass ich mich überhaupt einschreiben konnte.“

Die finanzielle Unterstützung seitens Staat oder Contergan-Stiftung ließ dagegen jahrelang zu wünschen übrig. „Zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel“, ärgert sich Pekka Peltonen noch heute. „Erst seit einigen Jahren sind die Summen angemessen. Man darf nicht vergessen, dass Contergan-Geschädigte dauernd Hilfe brauchen. Zähneputzen, Anziehen, Essen kochen – ohne fremde Hilfe ist das nicht zu schaffen. Mir tut es unendlich leid um die Menschen, die verstorben sind, bevor die Renten ihren Leiden entsprechend angepasst wurden.“

Die Kosten, wie etwa die Bezahlung von Pflegepersonal sowie Umbauten im Haushalt oder am Auto, sind immens und konnten früher oftmals nicht abgedeckt werden. Wohl dem, der Hilfe in der Familie findet: Angelika Bernhard-Peltonen konnte sich immer auf Mutter, Geschwister, Ehemann und Sohn verlassen. Alle packten an.

Was wird im Alter geschehen?

„Aber wir werden nicht jünger, und auf Dauer kann ich diese Hilfe nicht voraussetzen“, erklärt die Musiklehrerin die geplanten größeren Sanierungen und Umbauten an ihrem Haus. Ein behindertengerechtes Badezimmer und ein Wintergarten mit Rampe oder Rollstuhl-Lifter stehen auf dem Wunschzettel. Der Hintergrund ist klar ersichtlich: Noch kann sie laufen, aber die Spätschäden von Contergan sind bekannt. Neben falsch liegenden Blutgefäßen sowie Herzschäden treten im Alter verstärkt Gelenkprobleme und Knochenschäden auf. „Das Motto ,Du kannst alles, was die anderen auch können!‘ zieht Folgeschäden nach sich“, zuckt die Pädagogin die Schultern. „Jahrelange Fehlhaltungen führen zu entsprechendem Knochen- und Knorpelverschleiss. Da kann man als ‚Conti‘ gar nichts gegen tun. Wir schauen jetzt rechtzeitig, dass wir darauf vorbereitet sind. Außerdem: Was hilft es denn schon, zu jammern? Bei niemandem wird es im Alter besser.“ |

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