Schwerpunkt Contergan

Des einen Fluch, des anderen Segen

Der klinische Stellenwert von Thalidomid und Co. heute

Prof. Dr. med. Katja Weisel arbeitet am Universitätsklinikum Tübingen, wo sie die hämatologische und onkologische Ambulanz und das Myelomzentrum leitet. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen auf den Gebieten der Hämatologie, Onko­logie, Immunologie, Rheumatologie und Pneumologie. Darüber hinaus ist sie im medizinischen Beirat des Bundesverbandes Multiples Myelom aktiv. | Von Rut Katzenmaier

Das Multiple Myelom stellt eine bösartige Tumorerkrankung aus der Gruppe der Non-Hodgkin-Lymphome dar, die durch Entartung einer einzigen Plasmazelle entsteht, deren Klone sich dann im Knochenmark ausbreiten. Mit nur einem Prozent zählt das Multiple Myelom zu den seltenen Krebserkrankungen. Es gehört jedoch zu den häufigsten Tumoren im Knochenmark.

Foto: Universitätsklinikum Tübingen
Prof. Dr. med. Katja Weisel

Das Myelomzentrum in Tübingen ist eines der größten und führenden europäischen Zentren zur Behandlung der Myelomerkrankung. Die Ärzte arbeiten international eng mit anderen Studiengruppen zusammen. „Unser Ziel ist es, nicht nur das Leben mit der Myelomerkrankung zu verlängern und die Lebensqualität zu verbessern, sondern auch einen Beitrag dazu zu leisten, dass die Erkrankung endlich für einen wesentlichen Teil der Patienten heilbar wird“, fasst Weisel zusammen. „Entscheidend hierfür ist die Durchführung klinischer Studien. Diese ermöglichen es uns, unseren Patienten neue Arzneimittel mit weniger Nebenwirkungen und einem verbesserten Wirkungsgrad anzubieten.“

Abb. 1: Thalidomid, Lenalidomid und Pomalidomid

Ein wesentlicher Meilenstein in der Myelomtherapie war die Einführung der immunmodulatorischen Therapie Ende der 1990er-Jahre. Als das wichtigste Arzneimittel dieser Substanzklasse gilt Lenalidomid (Revlimid®).

Prof. Dr. Hans-Peter Lipp, Chefapotheker am Universitätsklinikum Tübingen: „Hierbei handelt es sich um einen Wirkstoff, der dem Thalidomid in der chemischen Struktur sehr ähnlich ist. Lenalidomid wird insbesondere für die Behandlung des Multiplen Myeloms, des Myelodysplastischen Syndroms (MDS) und des Mantelzell­lymphoms eingesetzt. Die antineo­plastische und antiangiogenetischen Wirkungen kommen den Patienten insoweit entgegen, da sich die krankhaft veränderten Zellen in ihrem Blut schlechter vermehren.“

Foto: Universitätsklinikum Tübingen
Prof. Dr. Hans-Peter Lipp

Die TNF-α- und tumorhemmenden Effekte sind im Gegensatz zu Thalidomid 50.000-mal stärker ausgeprägt, während die unerwünschten Wirkungen wie Polyneuropathien, Thromboembolien und Sedierung schwächer und seltener auftreten. Ein teratogenes Potenzial ist jedoch nach wie vor gegeben.

Lenalidomid (Revlimid®) ist seit Juli 2007 zur Myelomtherapie in Deutschland zugelassen und wird sowohl als alleinige Therapie als auch in Kombination mit anderen Arzneimitteln eingesetzt – zur Erstbehandlung, in der Erhaltungstherapie nach Stammzelltransplantation und in der Rezidivbehandlung. Der Wirkstoff aktiviert wesentliche Bestandteile im Immunsystem des am Myelom erkrankten Patienten. Außerdem wirkt er im Knochenmark direkt und fördert die Apoptose in den ­Myelomzellen.

T-Rezepte – besondere Vorschriften für besondere Arzneimittel

Abb. 2: T-Rezept (Deckblatt, Teil I). Die Durchschrift (Teil II) dient der Auswertung und ist im Patientenfeld geschwärzt.

Eine ärztliche Verschreibung von Arzneimitteln mit Lenalidomid, Pomalidomid oder Thalidomid muss auf einem nummerierten zweiteiligen amtlichen Vordruck (T-Rezept) erfolgen. Die Gültigkeit des Rezeptes beträgt sechs Tage nach Ausstellungsdatum und es darf nur ein Arzneimittel pro Rezept verordnet werden. Frauen im gebärfähigen Alter dürfen nur den Bedarf für vier Wochen verordnet bekommen, ansonsten für zwölf Wochen. Der Arzt muss durch Ankreuzen bestätigen, dass die Sicherheitsbestimmungen eingehalten und Informationsmaterial ausgehändigt wurden, und ob es eine „In-Label“- oder „Off-Label“-Therapie ist. Das erste Blatt (Teil I) dient der Apotheke zur Verrechnung. Der Teil II muss wöchentlich zur Auswertung an das Bundes­institut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) geschickt werden. Bei der Ausstellung von T-Rezepten im Rahmen des Entlass­managements sind diese nur drei Werktage gültig. Dabei sind die BtM- und T-Rezepte nicht speziell gekennzeichnet. Sie kann man nur an der „4“ im Statusfeld erkennen.

Thalidomid selbst ist in Deutschland erst seit Juli 2009 wieder auf dem Markt und zur Behandlung des Myeloms bei Patienten zugelassen, die nicht für eine Hochdosistherapie geeignet sind oder eine Induktionsbehandlung vor Hochdosistherapie erhalten sollen.

Zum Weiterlesen

C. Bilharz: Plasmazellen außer Kontrolle – Das Multiple Myelom und seine Folgen.
DAZ 2015, Nr. 52, S. 24

A. Edalat, B. Besemer: Die Sache mit dem „T“ – Verschreibungen auf T-Rezepten – zwischen Tragik und Therapie­hoffnung. DAZ 2016, Nr. 6, S. 22

A. Edalat, B. Besemer, O. Rose, H. Derendorf: POP-Fall – Ein Patient mit Multiplem Myelom.
DAZ 2016, Nr. 29, S. 36

Als dritte immunmodulatorische Substanz wurde Pomalidomid entwickelt, das unter dem Namen Imnovid® seit September 2013 erhältlich ist. Dieser Wirkstoff wird bei Patienten mit Rezidiven eingesetzt, die schon eine Behandlung mit Bortezomib und Lenalidomid und mindestens zwei Vor­therapien erhalten haben.

„Die immunmodulatorische Therapie ist für uns sehr wichtig in der Myelomtherapie. Gerade Lenalidomid ist ein in der Regel gut verträglicher Wirkstoff, der dauerhaft alleine oder in Kombination mit anderen Arzneimitteln als Tablette eingenommen werden kann“, betont Prof. Katja Weisel. „Dennoch gilt als oberster Grundsatz bei allen Therapien die Patientensicherheit: Hierzu gehört gerade bei diesen Arzneimitteln eben auch die strikte Einhaltung des Schwangerschaftspräventionsprogrammes.“

In keiner anderen onkologischen Erkrankung des Blutes oder des Knochenmarks gab es in den letzten Jahren eine rasantere Entwicklung von neuen Substanzen als beim Multiplen Myelom: Der Einsatz dieser – nur über T-Rezept zu beziehenden – Mittel hat in der Behandlung des Multiplen Myeloms eine neue Ära eingeläutet. |

Autorin

Rut Katzenmaier, freie Journalistin, geboren in Essen, aufgewachsen im Südschwarzwald und wohnhaft im Raum Stuttgart

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