Die Seite 3

Ein Jahr danach

Foto: DAZ/Kahrmann
Dr. Benjamin Wessinger, Chefredakteur der DAZ

Wissen Sie noch, wo Sie am 31. August 1997 waren, als Lady Di starb? (Ich war am Züricher Hauptbahnhof, als ich davon erfuhr.) Oder am 11. September 2001, als das World Trade Center einstürzte? (Damals war ich Famulant in einer Apotheke.) Als der Europäische Gerichtshof am 19. Oktober 2016 sein Urteil zu den deutschen Rx-Boni verkündete, saßen wir in der DAZ-Redaktion in Stuttgart und warteten gespannt auf die Nachricht aus Luxemburg. So richtig unruhig waren wir nicht, zu unwahrscheinlich erschien uns, dass die Richter die Preisbindung kippen könnten. In einem der beiden Editorials der DAZ 2016, Nr. 42 (das Urteil wurde an einem Mittwoch verkündet, nach Redaktionsschluss der DAZ am Dienstagabend, weswegen wir zwei Editorials schrieben: Eines mit dem Titel „Noch einmal gutgegangen“ und eines für den anderen Fall) habe ich die Situation vor dem Urteil mit der trügerischen Sicherheit vor dem Brexit verglichen: Niemand konnte sich vorher so richtig vorstellen, wie die Sache nachher ausgehen würde. Doch um kurz nach halb zehn Uhr am Mittwoch, den 19. Oktober 2016 war klar, dass das Unvorstellbare Realität geworden war.

Nach dem ersten Schock brach in der Redaktion eine hektische Betriebsamkeit aus, die lange anhalten sollte. Reaktionen und Einschätzungen wurden eingeholt, Kommentare und Analysen geschrieben, Experten, Standesvertreter und Politiker befragt. Und gleichzeitig ging die Suche nach möglichen Lösungen los: Wie könnten die Folgen für die Arzneimittelversorgung in Deutschland in akzeptablen Grenzen gehalten werden?

Die ABDA brachte sofort eine Beschränkung des Versandhandels auf das europarechtlich geforderte Mindestmaß ins Spiel: das sogenannte Rx-Versandverbot. An dieser Forderung hält sie seither ­eisern fest, mit einer bemerkenswerten Geschlossenheit. So lange noch die Chance besteht, dass der Versand von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln verboten werden könnte, will man den Kritikern und Gegnern dieser ­Lösung kein „Schlupfloch“ bieten. Den Bundesgesundheitsminister wusste die ABDA schnell an ihrer Seite, auch er bleibt seiner Linie treu.

Genutzt hat der eiserne Wille bisher leider nichts. Das Rx-Versandverbot wurde trotz einer entsprechenden Initiative des Bundesrates und einer allerdings eher theoretischen Mehrheit im Bundestag (die Union hätte zusammen mit der Linkspartei gegen den Koalitionspartner SPD stimmen müssen) in der nun zu Ende gegangenen Legislaturperiode nicht mehr beschlossen. Der noch amtierende Bundesgesundheitsminister Gröhe hat zwar mehrfach erklärt, dass er das Rx-Versandverbot mit in die Koalitionsverhandlungen nehmen werde. Allerdings haben sich die wahrscheinlichsten beiden Partner der Union, FDP und Grüne, auf Bundesebene bisher immer gegen diesen Vorschlag gestellt. Sie werden die Regierungsbildung wohl kaum an dieser Frage scheitern lassen – die Union aber wahrscheinlich auch eher nicht.

Die Situation für die deutschen Apotheken ist also ein Jahr nach dem Urteil so unklar wie am Tag danach. Einige Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet, beispielsweise kam es bisher nicht zu einer massenhaften Gewährung von Boni durch deutsche Apotheken. Andere Sorgen waren wiederum gerechtfertigt. So hat der Anteil der ausländischen Versender an den Arzneimittelausgaben der Krankenkassen deutlich zugenommen, die EU-Arzneimittelversender locken die Patienten mit saftigen Boni.

Zu all dem kommt die Ankündigung – manche sagen: die Androhung – der Politik, das gesamte Honorierungssystem der Apotheken auf neue Beine stellen zu wollen. Die vor uns liegenden zwölf Monate könnten also genauso aufregend werden wie die letzten zwölf.

Benjamin Wessinger

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