Arzneimittel und Therapie

Schlange stehen für Vesikur

Wann hat das Warten endlich ein Ende?

rr | Lieferschwierigkeiten stehen auf der Tagesordnung in Deutschlands Apotheken. Bei Impfstoffen wundert sich kaum jemand mehr. Dass man aber auch einmal an einem Blasenspasmolytikum leerlaufen würde, klingt wie ein schlechter Scherz. Vesikur® (Solifenacin) zählt derzeit zu den heiß begehrtesten Kontingent-Arzneimitteln. Steckt dahinter tatsächlich eine gesteigerte Nachfrage – oder Kalkül?

Die Tage, in denen man Vesikur®5 mg und 10 mg zuverlässig über den klassischen Lieferweg beziehen konnte, sind Vergangenheit. Mittlerweile ist man als kleine Apotheke mit einem Urologen in der Nachbarschaft für jede Packung vom Großhandel dankbar. Die Misere begann im April 2016, als bei den urologischen Spasmolytika Festbetragsanpassungen vorgenommen wurden. Das Anticholinergikum Toviaz® (Fesoterodin) verlor infolge des niedrigen Erstattungspreises deutlich an Attraktivität: Die Patienten müssen die Toviaz®-Mehr­kosten von über 100 Euro aus eigener Tasche zahlen. Das Pharmaunternehmen Astellas dagegen passte sich den neuen Gegebenheiten an, senkte den Verkaufspreis seines Anticholinergikums Vesikur® (Solifenacin) drastisch und wurde belohnt: Der Absatz verdoppelte sich. Seltsam war nur, dass die Zahl der Verordnungen bei Weitem nicht im gleichen Ausmaß gestiegen ist…

Foto: Klaus Eppele – stock.adobe.com
Bitte hinten anstellen! Die Nachfrage nach dem Blasenspasmolytikum Solifenacin (Vesikur®) übersteigt derzeit die in Deutschland zur Verfügung stehende Menge. Schuld ist die Kontingentierung des Arzneimittels.

Wo ist das Leck?

Astellas gibt an, Vesikur® in ausreichender Menge für den deutschen Markt zu produzieren und an den Großhandel auszuliefern. In einigen Apotheken kommen dennoch nicht genügend Packungen an. Dem Hersteller ist bekannt, dass die Ware im großen Stil ins Ausland verkauft wird, wo man höhere Preise erzielen kann, vermutlich nach Skandinavien oder Großbritannien. Der Finger zeigt in Richtung der Apotheker-Kollegen, die eine Großhandelserlaubnis besitzen. Doch sie haben das deutsche Recht auf ihrer Seite.

Streng limitiert

Zuallererst möchte man jedoch die Patienten in Deutschland versorgen, beteuert Astellas. Das wird allerdings zum Problem, wenn ein Großteil der Packungen ins Ausland wandert. Der in München ansässige Hersteller hält sein Präparat deshalb zurück und gibt es nur in limitierter Stückzahl als sogenanntes Kontingent-Arzneimittel an seine Kunden weiter. Doch selbst im wirtschaftlich wenig reizvollen Direkteinkauf gibt es für jede Apotheke maximal 16 Packungen pro Monat. Stärke und Packungsgröße sind dabei nicht per se frei wählbar.

Foto: Astellas
Das Objekt der Begierde

Gemeinsam mit dem pharmazeutischen Großhandel, initiiert durch die Apothekergenossenschaft Noweda, erarbeitete man im Mai die Lösung eines Notfalldepots, auf das Apotheken in dringenden Fällen zugreifen können. Mit einem Fax pro Packung Vesikur® versichert die Apotheke, dass ein tatsächlicher Bedarf besteht und ein aktuelles Rezept vorliegt. Die Auslieferung der Ware erfolgt mit der nächstmöglichen Tour, nicht selten erst einen Tag später. Ein hoher organisatorischer Aufwand für alle Beteiligten. Und auch dieser ist nicht immer von Erfolg gekrönt, wie Apotheker aus der Praxis berichten können.

Die Politik ist gefragt

Einig ist man sich, dass es grundsätzlich einer politischen Lösung bedarf, um das Export-Problem zu lösen. Astellas schlägt die Einführung einer maximalen Export-Quote vor. Die Regierung hat dazu noch keine konkreten Ideen. Anfang Juni stellte die Linksfraktion eine Kleine Anfrage, ob der pharmazeutische Unternehmer mit Kontingent-Arzneimitteln gegen das Gesetz verstoße, da er trotz Lieferfähigkeit den Großhandel nicht bedarfsgerecht beliefere. Man sieht darin den im Arzneimittelgesetz (AMG) geregelten Sicherstellungsauftrag verletzt. Doch dem Bundesministerium für Gesundheit fehlt es noch immer an „belastbaren Hinweisen“.

Gerüchteküche brodelt

Die künstliche Knappheit weckt Erinnerungen an die sozialistische Planwirtschaft. In der freien Wirtschaft ist sie dagegen ein wirksames Marketinginstrument, um die Exklusivität eines Produktes zu sichern. Allerdings funktioniert das Prinzip nur so lange, bis ein anderer Anbieter die Lücke schließt. Oder der gleiche Anbieter mit einem neuen Produkt nachrückt. Im Fall von Solifenacin steht 2019 der Ablauf des Patentschutzes vor der Tür. Das Hamstern des Originals wird mit der Einführung von Generika schlagartig ein Ende haben. Astellas hat vorgesorgt und ist Mitte August mit seinem Beta-3-Adrenozeptoragonisten Mirabegron (BetmigaTM) auf den deutschen Markt zurückgekehrt, nachdem man sich 2015 wegen gescheiterter Preisverhandlungen ins Ausland verabschiedet hatte. Allerdings gibt es auch BetmigaTM momentan nur kontingentiert.

Ein weiteres Eisen im Feuer von Astellas ist das Kombinationspräparat Vesomni®, das beispielsweise in Großbritannien eingeführt wurde. Eine Tablette Vesomni® enthält 6 mg Solifenacin und 0,4 mg Tamsulosin. Zur Frage, ob ein Kombinationspräparat auch für den deutschen Markt interessant wäre, wollte man sich bei Astellas derzeit nicht äußern.

Ein Ende des Lieferengpasses von Vesikur® ist somit nicht in Sicht. Der Großhändler GEHE befindet sich nach eigenen Angaben in konstruktiven Gesprächen sowohl mit dem Hersteller als auch mit den Kunden, um „bereits sehr zeitnah eine tragfähige Lösung zu implementieren“. Die Noweda hat angekündigt, das Notfalldepot in absehbarer Zeit um weitere Artikel zu erweitern. Ein Handeln der Politik hält man dort für „längst überfällig“.

Versorgung nicht gefährdet

Bei all den Lieferschwierigkeiten kommt die Frage auf, ob Patienten mit überaktiver Blase um ihre Versorgung fürchten müssen. Nach gültiger Leitlinie sind Anticholinergika bei Harninkontinenz die Mittel der ersten Wahl. Sie hemmen kompetitiv parasympathische, über muskarinerge Rezeptoren vermittelte Acetylcholin-Effekte am Harnblasendetrusor und verbessern die Drangsymptomatik durch eine Verlängerung der Miktionsintervalle, eine Linderung des imperativen Harndrangs sowie eine Verringerung der Inkontinenzepisoden. Zur Verfügung stehen neben Solifenacin die tertiären Amine Darifenacin (Emselex®), Oxybutynin (Dridase®, Kentera®), Propiverin (Mictonetten®, Mictonorm®), Tolterodin (Detrusitol®) und Fesoterodin (Toviaz®) sowie das quartäre Amin Trospiumchlorid (Spasmex®, Urivesc®) – genügend Alternativen also, um sich nicht von Vesikur® abhängig machen zu müssen.

Dass Solifenacin von diesen Optionen ohnehin nicht grundsätzlich die beste Wahl ist, erläutert Privat-Dozent Dr. Andreas Wiedemann im Kommentar auf Seite 32. |

Quelle

„Vesikur wird ins Ausland verkauft – von Apothekern“. Meldung auf DAZ.online vom 22.02.2017

Noweda-Projekt gegen Lieferengpässe. Meldung auf DAZ.online vom 11.05.2017

Lieferengpässe...? Wo? Wer? Warum? Meldung auf DAZ.online vom 05.07.2017

S2e-Leitlinie „Harninkontinenz bei geriatrischen Patienten, Diagnostik und Therapie“, Stand:04/2016

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