Arzneimittelentwicklung

Auf dem Weg zur Patientenzentrierung

EMA fordert passende Arzneimittel für Alte und Multimorbide

Von Sven Stegemann | Die European Medicines Agency (EMA) hat am 1. August 2017 das bereits 2013 angekündigte Reflexionspapier zur zukünftigen Entwicklung von Arzneimitteln unter Berücksichtigung der alternden Gesellschaft und der damit verbundenen immer älter werdenden Patienten herausgegeben [1]. Damit geht die EMA einen entscheidenden Schritt weiter, die ­patientenzentrierte Arzneimittelentwicklung entscheidend voranzubringen.

Mit einem Reflexionspapier fasst die EMA eine bestimmte Problematik und die bislang vorliegenden wissenschaftlichen Daten sowie das dazu vorhandene Wissen zusammen. Obwohl ein Reflexionspapier keine rechtlich bindende Vorschrift darstellt, bezieht die EMA damit klar Stellung zu Studien und Daten, die sie künftig von den pharmazeutischen Herstellern erwartet. So war bereits das Reflexionspapier zu pädiatrischen Formulierungen (2007) der Ausgangspunkt für die später verabschiedeten Richtlinien, die die pharmazeutische Industrie zur Entwicklung von pädiatrischen ­Arzneiformen im Zuge einer neuen Arzneimittelzulassung verpflichtete.

Multimorbidität und Polypharmazie

Parallel zur steigenden Lebenserwartung und zunehmenden Zahl alter Menschen in Europa dürfte sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten die Patientenpopulation entwickeln, die geprägt ist von einem hohen und sehr hohen Alter. Es gibt zwar Anzeichen dafür, dass die zunehmende Lebenserwartung mit einer längeren Aufrechterhaltung der Gesundheit einhergeht [2], allerdings wird die Patientenpopulation mit multiplen chronischen Erkrankungen (Multimorbidität) dennoch weiter stark zunehmen [3]. Multimorbide Patienten müssen in der Regel zahlreiche Arzneimittel gleichzeitig einnehmen (Polypharmazie) und sind häufig von verschiedenen funktionalen Einschränkungen betroffen. Dies führt zu einer sehr hohen Komplexität der Arzneimitteltherapie, die von diesen Patienten immer weniger bewältigt oder ordnungsgemäß durchgeführt werden kann [4].

Arzneimittelbezogene Probleme treten deshalb besonders bei multimorbiden Patienten mit Polypharmazie auf, weshalb das Medikationsmanagement eingeführt wurde. Dennoch lassen sich nicht alle Probleme durch ein effizientes Medikationsmanagement lösen, weil etwa die Patienten das Arznei­mittel selbst nicht richtig erkennen, verstehen oder anwenden können.

Arzneimittel müssen „anwendbar“ sein

Mit dem Reflexionspapier zur pharmazeutischen Entwicklung von Arzneimitteln, die zum Gebrauch bei älteren Patienten vorgesehen sind, wird erstmals dieser Gesamtkontext berücksichtigt. Die EMA gibt mit ihrer Forderung nach einer „patientenzentrierten Arzneimittelentwicklung“ dem Patienten einen höheren Stellenwert in der Arzneimittelentwicklung, als es bislang der Fall ist. Die patientenzentrierte Arzneimittelentwicklung zielt nicht nur auf die Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit des Arzneimittels als Produkt ab, sondern bezieht dessen Gebrauch unter realen Bedingungen der Patienten mit ein. Die Qualität des Arzneimittels ist damit nur gegeben, wenn sowohl die älteren Patienten als auch deren pflegende Angehörige oder professionellen Pfleger in der Lage sind, es anzuwenden.

Dies bezieht auch mit ein, dass intuitiv Veränderungen am Medikament vorgenommen werden, weil sie nicht in der ursprünglichen Form angewendet werden können. Steht z. B. eine niedrigere Dosierung, wie sie aufgrund des Alters oder einer Arzneimittelinteraktion beim Patienten benötigt wird, nicht zur Verfügung, muss das Medikament auf einfache Weise teilbar sein.

Bei älteren, multimorbiden Patienten mit Polypharmazie muss das einzelne Medikament immer im Kontext einer Gesamttherapie gesehen werden. Hier geht die EMA besonders auf die Wiedererkennbarkeit etwa durch die Verwendung von Farben sowie die Vermeidung von speziellen Einnahme­restriktionen (z. B. vor dem Essen) ein, die das Risiko von Medikationsfehlern erhöhen.

Auch hinsichtlich der Darreichungsformen und Formulierungen geht die EMA in ihrem Reflexionspapier über die bisherige Betrachtung hinaus und wägt das Nutzen-Risiko-Verhältnis für die speziellen Charakteristika der anwendenden Patientenpopulation ab. Patienten mit Schluckbeschwerden leiden häufig auch an einer verringerten Speichelproduktion (Xerostomie), sodass orodispersible Tabletten nicht ausreichend im Mund zerfallen bzw. geschluckt werden können. Zudem sind orodispersible Tabletten sehr hydrophil und eignen sich häufig nicht für Medikamentendosierer.

Tabelle 1 fasst die wichtigsten Punkte des Reflexionspapiers der EMA zusammen.

Tab. 1: Aspekte des Reflexionspapiers [1], die bei der Arzneimittelentwicklung für ältere Patienten berücksichtigt werden müssen.
Kriterium
Erläuterung
Patientenakzeptanz
Bezieht sich auf die Bereitschaft und Möglichkeit des Patienten, ein Arzneimittel anzuwenden.
Darreichungsform und Applikationsart
Betrachtet die verschiedenen Formen (oral, bukkal/dental, okular, nasal, inhalativ, transdermal, par­enteral) im Zusammenhang mit alters- oder krankheitsbedingten Einschränkungen und Gegebenheiten.
Verabreichung durch Nahrungssonden
Weist darauf hin, dass Arzneimittel auch durch Nahrungssonden verabreicht werden und dass eine entsprechende Handlungsanleitung vorliegen muss.
Modifikationen zur Verabreichung
Verweist auf typische Aspekte der Arzneimittelanwendung bei älteren Patienten wie Tablettenteilen und Mischen mit Nahrung, die in der Entwicklung berücksichtigt werden müssen.
Dosierungsfrequenz/Einnahmezeiten
Adressiert die steigende Komplexität der Arzneimittelanwendung durch verschiedene Einnahmezeiten oder -bedingungen (z. B. vor dem Essen, nach dem Essen).
Hilfsstoffe der Formulierung
Betrachtet Hilfsstoffe und deren Sicherheit unter dem Aspekt der Polypharmazie und chronischen Anwendung.
Verpackungssysteme
Bezieht sich auf die Handhabung der Primär- und Sekundärpackmaterialen durch alte und multimorbide Patienten mit eingeschränkten sensorischen und motorischen Fähigkeiten.
Hilfsmittel und Medizinprodukte
Weist auf die mögliche Verwendung von Dosierhilfen (z. B. Messbecher) unter altersbedingten Einschränkungen und Erkrankungen (z. B. M. Parkinson) hin.
Arzneimittel­informationen
Hebt die Bedeutung der Produktinformation für Patienten, Pflegende und Fachkräfte hervor, um die richtige Einnahme sicherzustellen.
Medikationsmanagement
Geht auf die Umsetzung durch den Patienten ein, einschließlich der Verwendung von Tages- und Wochendosierern, in denen das Medikament haltbar und wiedererkennbar sein muss.
Patientencharakteristika
Der Anhang beschreibt die speziellen und typischen Bereiche, in denen alte Patienten von jüngeren abweichen können, insbesondere Kognition, Sensorik, Mobilität, Physiologie und Pathophysiologie.

Technische Möglichkeiten gezielt umsetzen

Die patientenzentrierte Arzneimittelentwicklung für ältere Patienten stellt aufgrund der multifaktoriellen Problematik sicherlich eine Herausforderung dar [5]. Allerdings sollte man nicht vergessen, dass bereits zahlreiche pharmazeutische Technologien existieren, die nur gezielt umgesetzt werden müssen, um bessere Arzneimittel für die Hauptanwendergruppe der älteren Patienten hervorzubringen. Zum Beispiel können Kombinationsarzneimittel dazu beitragen, eine komplexe Therapie und die damit verbundenen Medikationsfehler zu vermeiden.

Anstelle von großen Tabletten können multipartikuläre Systeme, die als „Sprinkle“ in die Nahrung eingebracht werden, Verwendung finden. Hierzu müsste dann die Kompatibilität der Formulierung mit den typischen Nahrungsmitteln (z. B. Joghurt, Apfelmus) und die Akzeptanz der älteren Patienten geprüft werden. Da ein solches Arzneimittel nicht nur von älteren ­Patienten, sondern auch von jüngeren Patienten ohne Einschränkungen eingenommen werden kann, entstehen universell einsetzbare Arzneimittel. Dies dürfte auch für das Arzneimittelmanagement durch den Apotheker von Bedeutung sein und seine wichtige Rolle in der Optimierung der Therapie älterer und multimorbider Patienten stärken. Mit dem Reflexionspapier ist die Industrie nun aufgefordert, ältere Patienten in die Gestaltung und Produktentwicklung mit einzubeziehen, anstatt automatisch auf ihre Standardformen zurückzugreifen.

Das Reflexionspapier ist derzeit nur ein Entwurf, der bis zum 31. Januar 2018 kommentiert werden kann. Als Apotheker sollten wir uns angesprochen fühlen, unsere reichlichen Erfahrungen mit dem realen Arzneimittelgebrauch und den typischen Problemen alter, multimorbider Patienten in die weitere Diskussion des Reflexionspapiers einzubringen. |

Literatur

[1] EMA. Reflection paper on the pharmaceutical development of medicines for use in the older population; www.ema.europa.eu/docs/en_GB/document_library/Scientific_guideline/2017/08/WC500232782.pdf

[2] Christensen K et al. The challenges ahead. Lancet 2009;374(9696):1196-1208

[3] Charlesworth CJ et al. Polypharmacy Among Adults Aged 65 Years and Older in the United States: 1988-2010. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2015;79(8):989-995

[4] Shippee ND et al. Cumulative complexity: a functional, patient-centered model of patient complexity can improve research and practice. J Clin Epidemiol 2012;65:1041-51

[5] Stegemann S et al. Defining patient centric pharmaceutical drug product design. AAPS J 2016;18(5):1047-1055

Autor

Sven Stegemann ist Professor für Patientenzentrierte Medikamentenentwicklung und Produktionstechnologie an der Technischen Universität Graz und Präsident der Geriatric Medicine Society.

Univ.-Prof. Dr. Sven Stegemann, Technische Universität Graz, Institut für Prozess- und Partikeltechnik, Inffeldgasse 13, A - 8010 Grazautor@deutsche-apotheker-zeitung.de

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