Arzneimittel und Therapie

Wie viel Cannabis kriegt Deutschland?

Ein Stimmungsbild zum einmonatigen Geburtstag des neuen Gesetzes

rr | Seit vier Wochen ist es in Deutschland möglich, Cannabis als Medizin zulasten der gesetzlichen Krankenkassen zu verordnen. Mit plakativen Schlagzeilen wie „Kiffen auf Rezept“ wurde in den Publikumsmedien das Interesse der Bevölkerung für diese neue Therapieoption geweckt. Dementsprechend groß war die Nachfrage schon vor Inkrafttreten des neuen Gesetzes am 10. März 2017. Gab es seit dem Startschuss einen Run auf Cannabis als Medizin? Wir fragten nach bei Krankenkassen, Apothekern, Ärzten und Patienten.

Das Repertoire an Cannabinoid-haltigen Arzneien erstreckt sich von Fertigarzneimitteln über Rezepturen mit Dronabinol bis hin zu losen Cannabis-Blüten und Zubereitungen daraus. Auch nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes ist „Cannabis als Medizin“ keine Regelleistung der GKV und kommt nur dann als Therapieoption infrage, wenn keine andere allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung zur Verfügung steht. Und auch dann entscheidet die Krankenkasse im Einzelfall, ob die Kosten aus dem Topf der Allgemeinheit bezahlt werden. Vorsichtig kalkulierte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) vorab den Bedarf an Cannabis-Blüten in Deutschland auf Basis der ca. 1000 Patienten, die bisher eine Ausnahmegenehmigung hatten: Bei einer durchschnittlichen Tagesdosis von 1 g bräuchte man 365 kg Cannabis-Blüten pro Jahr, um ihre Versorgung weiterhin sicherzustellen. Einen „plötzlichen Dammbruch“ mit sprunghaft steigenden Verordnungszahlen hielt man für unwahrscheinlich, aber sicher sein konnte man sich nicht.

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In Deutschland kann Cannabis als Medizin auf Kassenrezept verordnet werden – von einer flächendeckenden Versorgung kann aber keine Rede sein.

Zu früh für konkrete Zahlen

Rein rechnerisch könnten nun – einen Monat nach Inkrafttreten des Gesetzes – die ersten GKV-Rezepte die Apotheken erreichen. Ein Antrag auf Genehmigung der Kostenübernahme muss von der Krankenkasse innerhalb von drei Wochen bearbeitet werden, unter Einbeziehung des medizinischen Dienstes innerhalb von fünf Wochen. Handelt es sich um eine Palliativversorgung, darf die Entscheidung nur drei Tage auf sich warten lassen.

Auf Nachfrage gab die IKK classic an, bis zum 22. März 2017 rund 70 Anträge zur Kostenübernahme von Cannabinoid-haltigen Arzneimitteln erhalten zu haben, am 7. April waren es schon 104. Insgesamt 35 Anträge wurden vom 10. März bis 7. April von der IKK classic genehmigt. Bei der DAK-Gesundheit sind in diesem Zeitraum ca. 340 Anträge eingegangen.

Nicht alle Krankenkassen waren zu einer Auskunft bereit. Der Barmer Ersatzkasse lagen keine Zahlen vor, da die Anträge auf Kostenerstattungen für Cannabinoid-haltige Arzneimittel bisher nicht gesondert erfasst wurden. Die AOK nannte keine Zahlen, räumte aber ein, dass das Patienteninteresse für diese Therapieoption deutlich spürbar ist und viele Anträge eintreffen. Alle angefragten Krankenkassen gaben an, bei der Entscheidung regelhaft ein Gutachten des medizinischen Dienstes einzuholen.

Den Stein ins Rollen bringen könnten die Ärzte, doch die scheinen bisher kein größeres Informationsbedürfnis zu Cannabis als Medizin zu haben, so der Eindruck verschiedener Ärztekammern. In den Apotheken kamen bisher kaum Rezepte an. Nach wie vor besteht aber ein erhöhter Informationsbedarf bei den Kollegen. Im Norden der Republik, genauer in Schleswig-Holstein, leitet man aus den Nachfragen der Apotheken ab, dass die Zahl der Verordnungen gestiegen ist. Beim Apothekerverband Bayern erwarten die Mitglieder mittelfristig ein Einpendeln auf relativ niedrigem Verordnungs­niveau. In Baden-Württemberg gibt es Hinweise darauf, dass vermehrt Privatrezepte über Cannabinoid-haltige Arzneimittel im Umlauf sind, die jedoch von der vom BfArM initiierten Begleiterhebung nicht erfasst werden. Erfahrungen der Westend Apotheke in Stuttgart lesen Sie im Interview auf Seite 27.

Konkrete Verordnungszahlen gibt es noch nicht, für eine allgemeine und quantitative Einschätzung ist es deshalb noch zu früh. Einige Trends lassen sich aber bereits erkennen.

Krankenkassen besonders streng

Allgemein herrscht auch vier Wochen nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes große Verunsicherung, vor allem in Bezug auf die Kostenübernahme durch die Krankenkassen. Die Deutsche Schmerzliga offiziell dazu aufgefordert, Erfahrungen bei der Antragstellung mit ihr zu teilen. Der Präsident der Fachgesellschaft Priv.-Doz. Dr. Michael Überall berichtet über zahlreiche Nachrichten, die mehrheitlich Ablehnungen der Kostenübernahme betrafen. Darunter sogar Fälle von Patienten, die bereits seit längerer Zeit die Therapie mit Cannabinoiden von der Krankenkasse bezahlt bekommen. Die Verunsicherung über die Gesetzesänderungen war teilweise so groß, dass selbst On-Label-Verordnungen von Nabiximols (Sativex®) nicht verlängert wurden.

Der Arzt Dr. Franjo Grotenhermen, der sich für Cannabinoid-basierte Therapien stark macht, hat den Eindruck, dass die Krankenkassen bisher strengere Maßstäbe an eine Kostenübernahme Cannabis-basierter Medikamente anlegen als die Bundesopiumstelle bisher für die Erteilung von Ausnahmeerlaubnissen.

Ärzte sind verunsichert

Seitens der AOK bemängelt man, dass viele Anträge nicht den gesetzlichen Vorgaben entsprechen, beispielsweise, dass der Antrag auf Kostenerstattung vom Arzt zu begründen ist. Erst auf dieser Basis könne man prüfen, ob die Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch für eine Therapie mit Cannabis-Arzneimitteln vorliegen.

Derzeit haben es Patienten aber scheinbar schwer, überhaupt einen Kassenarzt zu finden, der die Behandlung verordnet. Der Deutsche Hanfverband (DHV) berichtet von verzweifelten Mitgliedern, die große Hoffnungen mit dem neuen Gesetz verknüpften, aber bei Arztbesuchen oftmals auf Ablehnung gestoßen sind. In einem Fall hat ein Patient über 100 Ärzte aufgesucht, bis er Gehör fand. Die Ärzte begründeten ihre Ablehnung unter anderem damit, dass sie eine solche Behandlungsform gar nicht anwenden dürfen, und verwiesen auf einen Facharzt. Nach neuem Recht sind aber grundsätzlich alle Ärzte dazu befugt, Cannabis als Medizin zu verordnen. Der DHV vermutet, dass manche Ärzte befürchten, bei der Verschreibung als „Szene-Arzt“ bekannt zu werden, und deshalb so zurückhaltend reagieren.

Das Gesetz „Cannabis als Medizin“ sollte es ermöglichen, schwerkranken Patienten zu helfen, wenn andere anerkannte Therapieoptionen ihre Leiden nicht ausreichend lindern. Bisher scheint man diesem Ziel nicht nähergekommen zu sein. Die Deutsche Schmerzliga nimmt die große Verunsicherung bei Betroffenen und Ärzten zum Anlass, ein bundesweites Informationsprojekt zu Cannabis als Medizin zu starten und noch im ersten Halbjahr 2017 in 20 deutschen Großstädten entsprechende Patientenforen zu veranstalten. |

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