Wirtschaft

„Die Apotheke ist ein öffentliches Gut“

Der Gesundheitsökonom Uwe May über den Sinn von Preisbindungen und den Wert der Apotheke

wes | Gerade (Gesundheits-)Ökonomen plädieren in der Folge des ­aktuellen EuGH-Urteils, dass die grenzüberschreitende Preisbindung für Arzneimittel europarechts­widrig ist, für eine Aufweichung der Preisbindungsregeln. Das soll „den Wettbewerb ankurbeln“ und für sinkende Preise sorgen. Der Gesundheitsökonom und VolkswirtProfessor Uwe May von der Hochschule Fresenius widerspricht diesen Thesen. Für ihn ist die Preis­bindung verschreibungspflichtiger Arzneimittel richtig und wichtig.
Foto: A. Müller/AVNR
Prof. Dr. Uwe May (hier im November auf dem OTC-Gipfel des Apothekerverbands Nordrhein) ist seit 2012 Professor für Gesundheitsökonomie mit Schwerpunkt Pharmakoökonomie an der Hochschule Fresenius in Idstein.

DAZ: Herr Prof. May, Sie haben sich kürzlich auf dem OTC-Gipfel sehr deutlich zum jüngsten Urteil des EuGH geäußert. Welche ökonomischen Folgen hat das Urteil, dass die deutsche Preisbindung für verschreibungspflichtige Arzneimittel für ausländische Versandapotheken nicht gilt?

May: Das Urteil ist natürlich eine Vorlage für den Versandhandel. Aber viel entscheidender für die deutschen Apotheken ist die Frage nach der Preisbindung in Deutschland. Würde die Preisbindung aufgeweicht, würde das große Risiken für die Apotheken mit sich bringen. Die Gefahren sind also eher mittelbar.

DAZ: Warum ist die Preisbindung so wichtig?

May: Die Preisbindung ist ein wichtiges Instrument, diesen Markt zu regulieren. Aus meiner Sicht ist sie für den Erhalt der flächendeckenden Apothekenversorgung unerlässlich.

DAZ: Aktuell hört man in der Diskussion oft, dass „jetzt endlich Wettbewerb ins System kommt“ – zuletzt hat sich der FDP-Chef Lindner in dieser Richtung geäußert. Was sagen denn Sie als Wirtschaftswissenschaftler zu solchen Argumenten?

May: Das stört mich am allermeisten, ja es ärgert mich geradezu: Hier wird das Argument der Ökonomie missbraucht! Es wird so hingestellt, dass wenn man ökonomisch denkt – lies: vernünftig – man auch hier für einen Preiswettbewerb sein muss. Denn eine Preisbindung passt natürlich nicht zur freien Marktwirtschaft. Also muss ich als Vertreter einer freien Marktwirtschaft für die Abschaffung der Preisbindung sein. Aber das ist ökonomisch nicht richtig! In der Volkswirtschaftslehre wird ganz genau unterschieden, ob ein Markt überhaupt funktionsfähig sein kann oder nicht. Das gehört zur ökonomischen Theorie und auch zur Wirtschaftspolitik. Und bei einem sogenannten Marktversagen muss der Staat regulierend eingreifen – sonst funktioniert auch eine Marktwirtschaft nicht.

Die Preisbindung ist für den Erhalt der flächendeckenden Apothekenversorgung unerlässlich.

DAZ: Warum liegt auf dem Apothekenmarkt ein Marktversagen vor?

May: Die Bedingungen, wann man von einem Marktversagen spricht, sind exakt definiert. Einfachstes Beispiel: In einem Monopol funktioniert der Markt nicht. Da würde sich auch keiner aufschwingen und sagen: Lasst den Markt walten, er wird das schon regeln. Es gibt aber auch eine ganze Reihe anderer Bedingungen. Im Apothekenmarkt ist der Begriff der öffentlichen Güter der Schlüssel.

DAZ: Können Sie für die Nicht-Ökonomen kurz beschreiben, was ein öffentliches Gut ist? Worin besteht das Marktversagen?

May: Ein öffentliches Gut ist das Gegenteil eines privaten Guts. Ein privates Gut ist dadurch charakterisiert, dass man andere von der Nutzung ausschließen kann und dass es eine Rivalität in der Nutzung gibt. Zum Beispiel können Sie anderen Leuten verbieten, Ihr Auto zu benutzen. Und wenn Sie Ihr Auto benutzen, kann damit zur gleichen Zeit niemand anderer fahren. Das ist bei öffentlichen Gütern anders. Hier kann niemand ausgeschlossen werden und mehrere Menschen können es gemeinsam nutzen. Ein Beispiel wäre die Autobahn – mal abgesehen vom Stau haben wir da normalerweise keine Rivalität. Andere Beispiele sind die Landesverteidigung, das Justiz- und Bildungswesen usw.

DAZ: Also das Arzneimittel ist ein privates, die Apothekeninfrastruktur aber ein öffentliches Gut?

May: Genau. Die Arzneimittelversorgung erfüllt alle Charakteristika eines öffentlichen Guts. Jedermann, der Sonntagnacht eine Apotheke braucht, kann sie nutzen. Das Problem bei den öffentlichen Gütern ist, dass sie der Markt nicht bereitstellt. Das hat überhaupt nichts mit ihrer Bedeutung zu tun – viele öffentliche Güter sind lebenswichtig. Aber der Einzelne will das öffentliche Gut zwar benutzen wenn er es braucht, für seine Bereitstellung aber nicht bezahlen.

Die meisten Leute finden, dass Apotheker wie Ärzte bezahlt werden sollten. Aber die Arzneimittel sollen gleichzeitig immer günstiger werden.

Da das Apothekenwesen ein öffentliches Gut ist, ist es aber überhaupt nicht unökonomisch, dass der Staat eingreift. Wenn der Markt nicht funktioniert, muss er eingreifen. Dafür stehen ihm verschiedene Instrumente zur Verfügung: Verbote, öffentliche Bereitstellung, Steuerfinanzierung oder eben Preisregulierung.

DAZ: Wenn wir aus dem öffentlichen Gut der Arzneimittelversorgung ein privates Gut machen – was die Konsequenz mancher aktueller Vorschläge wäre – könnten also Einzelne von der Versorgung ausgeschlossen werden? Wer nicht bereit ist, 150 Euro Notdienstzuschlag zu bezahlen, der muss eben bis Montag warten?

May: Richtig, das wäre so. Man könnte aus dem öffentlichen Gut ein privates machen. Sie können für die Autobahnnutzung eine Maut erheben – und wer nicht bezahlt, darf sie nicht benutzen. Aber bei der Arzneimittelversorgung wäre das nicht richtig. Wir haben eine Situation, in der der Einzelne nicht immer erkennen kann, was für ihn das Beste ist. In solchen Situationen muss der Staat paternalistisch handeln, weil er einen Informationsvorsprung vor seinen Bürgern hat. Er muss ihn schützen. Auch das ist allgemein akzeptiert, das Verbot von Drogen ist nur ein Beispiel dafür. Hier könnte man theoretisch auch sagen: Lass doch den souveränen Konsument selbst entscheiden.

Bei der Autobahn und der Maut funktioniert ein solches Konstrukt, weil der Einzelne eben schneller von A nach B will und bereit ist, dafür zu bezahlen. Aber wenn man in der Gesundheitsversorgung Hürden aufbaut, dann entscheidet sich der Gesunde unter Umständen unvernünftig. Wenn Impfungen selbst teuer bezahlt werden müssen, lassen sich weniger Menschen impfen.

DAZ: Könnte eine Beratungsgebühr, wie sie zur Apothekenhonorierung auch vorgeschlagen wird, eine solche Hürde darstellen?

May: Ja, wenn sie vom Patienten selbst bezahlt werden muss. Aber auch die Arzneimittel bezahlt bei uns nicht der Patient selber. Da könnte man auch argumentieren, dass das nicht marktwirtschaftlich sei – aber wir haben ein großes gesellschaftliches Interesse daran, dass Kranke behandelt werden.

DAZ: Könnte es sein, dass die Arzneimittelpreisbindung in der öffentlichen Wahrnehmung fehlinterpretiert wird? Die ärztliche Gebührenordnung ist auch eine Preisbindung, deren Abschaffung fordert aber kaum jemand.

May: Ich glaube, dass die meisten Leute – nicht nur die Leute auf der Straße, sondern auch Beteiligte an der öffentlichen Diskussion – das tatsächlich nicht von dieser Seite betrachten. Wir haben ja auch mal eine Umfrage dazu gemacht, wie Apotheker bezahlt werden sollen. Das Ergebnis war sehr positiv für die Apotheker: Die meisten Leute finden, dass die Honorierung der Apotheker an die der Ärzte angelehnt werden sollte. Das sei der adäquate Lohn für die apothekerliche Beratung.

DAZ: Der Verbraucher sagt aber auch, dass er findet, dass Milchbauern fair bezahlt werden müssen – und greift dann zur Milch für 69 Cent …

May: Das ist genau der Grund, warum der Staat paternalistisch handeln muss. Bei den Arzneimitteln wird auch gesagt, dass sie in der Apotheke zu teuer seien – aber die Beratung, die soll gleichzeitig immer noch besser und intensiver werden. Es gibt einen Widerspruch zwischen der Wertschätzung der apothekerlichen Leistung und der Einsicht, dass diese auch bezahlt werden muss.

Die Preisbindung ist ein Weg, um diesen Widerspruch aufzulösen. Mit ihr können auch Leistungen außerhalb des Rx-Bereichs finanziert werden – z. B. Beratung im OTC-Bereich oder das Abraten von Arzneimitteln. Es geht doch nur darum, dass man am Ende auf ein ökonomisch adäquates und somit vertretbares Einkommen für die Leistungen und Qualifikationen der Apotheker kommt, um diese zu finanzieren.

Ökonomen bevorzugen es zwar, wenn Leistungen dort finanziert werden, wo sie erbracht werden. Also die Beratung bei OTC wird bei der OTC-Abgabe bezahlt, Rx-Beratung bei der Rx-Abgabe. Aber es wird nicht funktionieren, dass der Apotheker sagt: Hier haben Sie Ihre Packung Schmerzmittel, wenn Sie wollen, dass ich Sie berate, kostet das nochmal 2,50 Euro. Der nicht ausreichend informierte Patient sagt dann: Nein Danke, brauche ich nicht – weil er gar nicht weiß, dass er sie braucht …

Die Arzneimittelversorgung erfüllt alle Charakteristika ­eines öffentlichen Guts. ­Deswegen ist es nicht un­ökonomisch, wenn der Staat reguliert.

DAZ: Welche Regulierungsinstrumente sind denn aus Ihrer Sicht sinnvoll, um die Finanzierung des Apotheken­systems zu sichern?

May: Unser Apothekensystem, wie es heute ist, funktioniert hervorragend. Es hat sich bewährt, die Verbraucher schätzen es. Es gibt natürlich auch andere funktionierende Systeme. Es gibt beispielsweise Länder, auch in Europa, die haben staatliche Apotheken. Aber eine Grundregel der Ökonomen ist: Wenn der Wettbewerb etwas regeln kann, dann lass es den Wettbewerb regeln.

Das Bild der Apotheke sollte sich stark wandeln. Die Apotheke in Deutschland ist eine nicht genügend genutzte Ressource – obwohl vier ­Millionen Menschen pro Tag hingehen.

Eine völlige Preisfreigabe – am besten noch mit Konkurrenz durch die Drogerie- und Supermärkte im OTC-Bereich – würde jedoch die Flächendeckung stark gefährden. Diese müsste man dann durch Subventionen stützen. Subventionen werden von fast allen Volkswirtschaftlern – zu Recht – sehr kritisch gesehen, weil sie meistens einen Wohlfahrtsverlust bedeuten. Da versickert zu viel Geld.

Die Preisbindung der Arzneimittel ist ein guter Weg, die Apothekeninfrastruktur sicherzustellen. Und sie ist der geringere Eingriff als eine Steuerfinanzierung auf der einen oder Subventionierung auf der anderen Seite. Und sie hat bewiesen, dass sie funktioniert.

Eine Subventionierung wäre allerdings immer noch besser, als auf das heutige Apothekensystem zu verzichten.

DAZ: Die Preisbindung ist ja nicht nur eine Maßnahme zur Verhinderung von Preissenkungen, sondern auch von Preiserhöhungen. Was würde denn die Abschaffung der Preisbindung für das solidarisch finanzierte Gesundheitswesen bedeuten?

May: Wenn man diesen Weg der marktwirtschaftlichen Preisbildung verfolgt, müsste man konsequenterweise auch Preiserhöhungen zulassen. Dann könnte der Apotheker für ein dringend benötigtes Antibiotikum einfach 100 statt 10 Euro verlangen. Genau diejenigen, die jetzt diesen Weg fordern, würden dann vehement Gegenmaßnahmen verlangen. Man würde sicher zu einer Höchstgrenze kommen.

Es gibt ultraliberale Ökonomen, die finden einen totalen Preiswettbewerb richtig, auch mit der Konsequenz, dass sich die Apotheken dann das Geld da holen, wo es gar keine Preiselastizität des Nachfragers mehr gibt, weil er das Arzneimittel unbedingt sofort braucht. Aber das ist aus meiner Sicht aber auch ein Grund für einen Eingriff. Es gibt eben keinen voll funktionsfähigen Markt bei Arzneimitteln, die Situation ist ja eigentlich mit einem Monopol vergleichbar: Der Patient braucht das Medikament so dringend, dass er jeden Preis zu zahlen bereit ist. Das zeigt, dass die freie Preisbildung im Gesundheits­wesen nicht adäquat ist. Deswegen gibt es sie ja auch nirgends anders im Gesundheitswesen.

Unser Apothekensystem funktioniert hervorragend. Es hat sich bewährt, die ­Verbraucher schätzen es.

DAZ: Wie könnte sich die Apotheken­honorierung denn weiterentwickeln?

May: Da muss ich jetzt ein bisschen visionär werden, das Bild der Apotheke sollte sich aus meiner Sicht stark wandeln. Die Apotheke in Deutschland ist eine nicht genügend genutzte Ressource – obwohl vier Millionen Menschen pro Tag hingehen. Apotheken könnten noch viel mehr leisten, vor allem im Bereich der Selbstbehandlung und der leichten Gesundheitsstörungen. Das müsste aber im System angelegt werden. Die Apotheken müssten mehr Kompetenzen und eine echte Lotsenfunktion bekommen.

Wir müssten die Apotheke stärken und sie dafür be­zahlen, dass sie die Therapietreue steigert. So würden die Kostenträger Geld sparen, und die Versorgung würde auch noch besser. Die aktuelle Diskussion um die Honorierung der Apotheken berücksichtigt solche Zusammenhänge nicht

Dazu kommt, dass wir große Bereiche haben, wo die Apotheke gesundheitsökonomisch betrachtet eine hohe Wertschöpfung hat, die überhaupt nicht honoriert wird. Um dies zu ändern, müsste man das aber anerkennen und nicht immer sagen, man wolle „an der Apotheke sparen“. Damit nimmt man sich sehr viele Chancen. In der Selbstbehandlung liegen Einsparpotenziale für die Krankenversicherung in Milliardenhöhe. Dazu werden wir demnächst eine Studie vorstellen. Noch höhere Einsparpotenziale gibt es in der Therapietreue. Man sagt, dass die Non-Adhärenz im Arzneimittelbereich bis zu 20 Milliarden Euro im Jahr kostet. Lasst uns doch einen Teil dieser Summe investieren, um den verbleibenden Überschuss dann einsparen zu können. Wir müssten die Apotheke stärken und sie dafür bezahlen, dass sie die Therapietreue steigert. So würden die Kostenträger Geld sparen, und die Versorgung würde auch noch besser. Die aktuelle Diskussion um die Honorierung der Apotheken berücksichtigt solche Zusammenhänge nicht, geht insofern also am Thema vorbei und ist in Anbetracht der gegenwärtigen sowie künftig noch möglichen Einsparpotenziale durch Apotheken auch unverhältnismäßig! |

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