DAZ aktuell

Internethandeln bedroht Arzneimittelsicherheit

Warum ein Rx-Versandverbot auch zum Schutz der Bevölkerung geboten ist

Von Martin Wesch | Der Versandhandel über das Internet gefährdet nicht nur die Arzneimittelversorgung durch deutsche Apotheken, seitdem der Versand nicht mehr an die Preisbindung verschreibungspflichtiger Arzneimittel in Deutschland gebunden ist. Der Versandhandel bedroht die Arzneimittelsicherheit. Das ist keine neue Erkenntnis. Nationale und europäische Behörden und Institutionen haben seit Langem davor gewarnt. In Europa reagierten die Mitgliedstaaten auf diese Bedrohung jedoch unterschiedlich. Jetzt ist es auch in Deutschland höchste Zeit, den Versandhandel – zumindest für verschreibungspflichtige Arzneimittel – zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung zu verbieten.

Seit Eröffnung des Versandhandels für Arzneimittel über das Internet vom 1. Januar 2004 hat der illegale Handel mit Arzneimitteln deutlich zugenommen, wie das Bundeskriminalamt (BKA) bereits im Jahr 2007 feststellte [1]. Für den illegalen Handel mit Fälschungen von Arzneimitteln ist das Internet ein wesentlicher Vertriebsweg [2]. Mit der Öffnung des Versandhandels ergab sich eine Verbesserung der „Tatgelegenheitsstruktur, da die Detektierung illegaler Anbieter nunmehr schwieriger geworden ist“ [3]. Der frühere BKA-Präsident Ziercke warnte: „Das Internet stellt eine expandierende Kommunikationsplattform dar, die auch von Kriminellen genutzt wird, um illegale und potenziell gesundheitsgefährdende Arzneimittel anzubieten“ [4]. Nach Expertenmeinung sei zu vermuten, dass es bereits Todesfälle gäbe, ohne dass diese bekannt seien; Fälle gäbe es bereits im Zusammenhang mit gefälschten Anabolika und Schlankheitsmitteln [5]. Das BKA formulierte darum eine Handlungsempfehlung an den Gesetzgeber, „die Notwendigkeit des Handels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln über das Internet zu hinterfragen“ [6].

Europarat sieht im Versand eine erhebliche Bedrohung

Der Europarat erkannte schon 2006 die Bedrohung: „Orders for PoMs (prescription only medicine, Anm. verschreibungspflichtige Arzneimittel) over the Internet are both a serious threat to public health and also a means of ­undermining the entire drug regulatory framework“ [7]. Die Arzneimittelüberwachungsbehörden hätten nur beschränkte Möglichkeiten, in solchen Fällen zu ermitteln und zu kontrollieren [8]. Nach der Fälschungsrichtlinie des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates vom 8. Juni 2011 stellt der illegale Absatz von Arzneimitteln über das Internet eine erhebliche Bedrohung der öffentlichen Gesundheit dar, da gefälschte Arzneimittel auf diesem Weg die Öffentlichkeit erreichen können; darum müsse dieser Bedrohung begegnet werden [9].

Verbindliche Sicherheits­merkmale als Lösung?

Die Europäische Kommission stellte 2015 fest, die meisten Fälschungen beträfen zwar Original-Arzneimittel, doch es würden auch Fälschungen von Generika gemeldet [10]. Gefälscht werden sowohl verschreibungspflichtige als auch nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel; die meisten Arzneimittelfälschungen betreffen Produkte gegen sexuelle Funktionsstörungen, Sodbrennen und Krebs [11]. Die Europäische Kommission verordnete deshalb die Einführung von verbindlichen Sicherheitsmerkmalen (ein individuelles Erkennungsmerkmal und eine Vorrichtung gegen Manipulation) als Teil der äußeren Umhüllung verschreibungspflichtiger Arzneimittel, um das Eindringen gefälschter Arzneimittel in die Lieferkette wirksam zu verhindern. Ob die Maßnahmen dafür ausreichen, kann man bezweifeln, weil sehr viele „Stakeholders“ auf die Daten des individuellen Erkennungsmerkmals Zugriff haben werden [12]. Außerdem kann der Verbraucher die Prüfung der Sicherheitsmerkmale, welche in der Apotheke erfolgen soll, beim Versand über das Internet nicht nachvollziehen. Die Verordnung tritt auch erst am 9. Februar 2019 in Kraft, in einigen Mitgliedstaaten sogar erst ab dem 9. Februar 2025 [13].

Immer mehr gefälschte Arzneimittel

Im Jahr 2006 wurden an den EU-Außengrenzen 2.711.410 medizinische Produkte beschlagnahmt [14]. Das entsprach einer Zunahme von 384 Prozent gegenüber dem Vorjahr; gefälschte Arzneimittel bildeten mit 24 Prozent damit die Spitze aller an den EU-Außengrenzen beschlagnahmten Produkte, gefolgt von Verpackungsmaterialien, Zigaretten und Kleidung [15]. Allein in Deutschland erhöhte sich die Zahl der Straftaten nach dem AMG (dazu gehören z. B. Dopingverstöße, Arzneimittelfälschungen oder Straftaten im Zusammenhang mit Tierarzneimitteln) von 1113 Fällen im Jahr 1988 bis auf 4708 Fälle im Jahr 2005 [16]. Seit dem Jahr 2002 ist eine konstante Zunahme zu verzeichnen von 23,4 Prozent im Jahr [17]. Die Anzahl der Ermittlungsverfahren, die bundesweit durch die Zollfahndung geführt werden, stieg im Jahr 2009 sogar um 58 Prozent im Vergleich zum Vorjahr [18]. Im Jahr 2015 führte dies zu 1280 Strafverfahren, die von allen deutschen Zollfahndungsämtern in diesem Deliktsbereich neu eingeleitet wurden [19]. Eine Untersuchung ergab, dass 57 Prozent der georteten Spam-Mails den Verkauf von Arzneimitteln bewarben, 44 Prozent der über das Internet verkauften Viagra-Pillen waren gefälscht, von 24 Webseiten, die Arzneimittel bewerben, waren 14 zu beanstanden [20].

Zulässiges Verbot zum Schutz der öffentlichen Gesundheit

Zu nationalen Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) mehrfach entschieden – zuletzt in seinem Urteil vom 19. Oktober 2016 zur Preisbindung [21] –, „dass unter den vom Vertrag (über die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV) geschützten Gütern und Interessen die Gesundheit und das Leben von Menschen den höchsten Rang einnehmen und dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, zu bestimmen, auf welchem Niveau sie den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gewährleisten wollen und wie dieses Niveau erreicht werden soll“ [22]. Da sich dieses Niveau von einem Mitgliedsstaat zum anderen unterscheiden kann, ist den Mitgliedstaaten ein Wertungsspielraum zuzuerkennen [23]. Die spezifischen Bedingungen für die Abgabe von Arzneimitteln an die Öffentlichkeit über den Einzelhandel sind auf Unionsebene nicht harmonisiert [24]. Vielmehr können die Mitgliedstaaten innerhalb der vom AEUV gesetzten Schranken die Bedingungen für die Abgabe von Arzneimitteln an die Öffentlichkeit festlegen [25].

Die Rechtfertigungsgründe, auf die sich ein Mitgliedstaat berufen kann, müssen von einer Untersuchung zur Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit der von diesem Mitgliedstaat erlassenen Maßnahmen sowie von genauen Angaben zur Stützung seines Vorbringens begleitet sein; den nationalen Behörden obliegt es insoweit, die dafür erforderlichen Beweise in jedem Einzelfall beizubringen [26]. Ein nationales Gericht muss somit, wenn es eine nationale Regelung darauf prüft, ob sie zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen nach Art. 36 AEUV gerechtfertigt ist, „mithilfe statistischer Daten, auf einzelne Punkte beschränkter Daten oder anderer Mittel objektiv prüfen, ob die von dem betreffenden Mitgliedstaat vorgelegten Beweise bei verständiger Würdigung die Einschätzung erlauben, dass die gewählten Mittel zur Verwirklichung der verfolgten Ziele geeignet sind, und ob es möglich ist, diese Ziele durch Maßnahmen zu erreichen, die den freien Warenverkehr weniger einschränken“ [27].

Aufgrund der statistischen Daten, aus welchen sich die Gefahren des Versandhandels über das Internet für die Gesundheit und das Leben der Menschen ergeben, müsste sich der Nachweis erbringen lassen, dass ein Verbot des Versandhandels zumindest für verschreibungspflichtige Arzneimittel, von denen die größte Gefahr bei Fälschungen ausgeht, geeignet und verhältnismäßig ist. In 21 von (noch) 28 EU-Mitgliedstaaten ist der Versandhandel mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln verboten und in nur sieben Mitgliedstaaten erlaubt [28]. Die überwiegende Mehrheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Union hat dafür gute Gründe. Deutschland sollte dahinter nicht zurückstehen und die öffentliche Gesundheit nicht einer „interessanten Sparmöglichkeit“ [29] opfern. |

Quellen

[1] Sürmann, Arzneimittelkriminalität – ein Wachstumsmarkt? Köln: Luchterhand, 2007, S. 111.

[2] Sürmann, a.a.O., S. 111.

[3] Sürmann, a.a.O., S. 111 Fn. 345.

[4] Zoll, Pressemitteilung vom 14.10.2010, zitiert nach Wesch in Rimkus/Stieneker, Pharmazeutische Packmittel, 2013, S. 398 Fn. 21 m.w.N.

[5] Sürmann, a.a.O., S. 103 Fn. 317.

[6] Sürmann, a.a.O., S. 113 und 103; Wesch in Dieners, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 16 Rn. 90.

[7] Europarat, Survey report, Counterfeit medicines, 2006, S. 136 Ziff. 16.7 Abs. 3.

[8] Europarat, a.a.O., S. 136 Ziff. 16.7 Abs. 4.

[9] Richtlinie 2011/62/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 08.06.2011, ABl. 2011, L 174/74 [76], Eingangserwägungen Nr. (21).

[10] Delegierte Verordnung (EU) 2016/161 der Kommission vom 02.10.2015, ABl. 2016 L 32/1, Begründung Ziff. 1 Abs. 3, S. 2.

[11] Delegierte Verordnung (EU) 2016/161, a.a.O., Begründung Ziff. 1 Abs. 3, S. 2.

[12] Delegierte Verordnung (EU) 2016/161, a.a.O., Begründung Ziff. 1 Abs. 4 und 5, S. 2.

[13] Delegierte Verordnung (EU) 2016/161, a.a.O., Art. 50.

[14] Europäische Kommission, Public Consultation in Preparation of a Legal Proposal to Combat Counterfeit Medicines for Human Use, vom 11.03.2008, S. 2.

[15] Europäische Kommission, Public Consultation in Preparation of a Legal Proposal to Combat Counterfeit Medicines for Human Use, vom 11.03.2008, S. 2, 3 und 13.

[16] Sürmann, Arzneimittelkriminalität – ein Wachstumsmarkt? Köln: Luchterhand, 2007, Abb. 1, S. 18.

[17] Sürmann, Arzneimittelkriminalität – ein Wachstumsmarkt? Köln: Luchterhand, 2007, S. 19.

[18] Zoll, Pressemitteilung vom 14.10.2010, zitiert nach Wesch in Rimkus/Stieneker, Pharmazeutische Packmittel, 2013, S. 397.

[19] Der Zoll gegen Arzneimittelkriminalität – Zum Schutz des Verbrauchers vor Risiken und Nebenwirkungen, Stand: April 2016.

[20] Wesch in Rimkus/Stieneker, Pharmazeutische Packmittel, 2013, S. 398 m.w.N.

[21] EuGH vom 19.10.2016 – C-148/15, Rn. 30 m.w.N.

[22] EuGH vom 19.10.2016 – C-148/15, Rn. 30; so auch das Europäische Parlament und der Rat in der Richtlinie 2001/62/EU vom 08.06.2011, Eingangserwägungen Ziff. (22), ABl. L 174/76.

[23] EuGH vom 19.10.2016 – C-148/15, Rn. 30 m.w.N.

[24] Richtlinie 2001/62/EU vom 08.06.2011, Eingangserwägungen Ziff. (21), ABl. L 174/76.

[25] Richtlinie 2001/62/EU vom 08.06.2011, a.a.O.

[26] EuGH vom 19.10.2016 – C-148/15, Rn. 35.

[27] EuGH vom 19.10.2016 – C-148/15, Rn. 36.

[28] DAZ.online, Was darf wo verschickt werden?, Stuttgart, 28.10.2016.

[29] So der SPD-Politiker Karl Lauterbach, FAZ vom 14.11.2016, Nr. 266, S. 17, vgl. auch DAZ vom 17.11.2016, Nr. 46, S. 11 (4561).

Autor

Dr. Martin Wesch, 
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Medizinrecht, 
Fachanwalt für Arbeitsrecht

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