Aus den Ländern

Perspektiven pflanzlicher Arzneimittel

Von der Tradition zur Evidenz – ein mühsamer Weg

Pflanzliche Arzneimittel können in Deutschland wie ein „normales“ Arzneimittel zugelassen werden, ­sofern ausreichende Belege für die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit vorliegen. Wer das nicht schafft, dem bleibt der Weg der Registrierung als traditionelles pflanzliches Arzneimittel. Geht es auch umgekehrt? Von der Tradition zur Evidenz? Dieser Frage widmete sich ein Symposium der Kooperation Phytopharmaka am 8. November in Bonn.

Die gesetzlichen Vorgaben der EU zur Registrierung traditioneller Arzneimittel dienten ursprünglich dem Bestandschutz. Definitionsgemäß müssen die entsprechenden Präparate 30 Jahre lang in dieser Form medizinisch verwendet worden sein, davon 15 Jahre in der EU. Nach dem Inkrafttreten der entsprechenden Regelung ging die Zahl der Registrierungsanträge bis 2011 nach oben. Seitdem zeigt die Kurve nach unten. „Ist das System ausgereizt?“ fragte Priv.-Doz. Dr. Reinhard Länger, der in der österreichischen Medizinmarktaufsicht AGES PharmMed u. a. für die Zulassung und Registrierung pflanzlicher Arzneimittel mitverantwortlich ist. Innovationen bei traditionellen pflanzlichen Arzneimitteln bezeichnete Länger als „extrem schwierig“. Die Produkte seien vom Gesetzgeber quasi zum Stillstand verpflichtet worden, denn Weiterentwicklungen, etwa ein neues Anwendungsgebiet oder eine andere Dosierung, brächten den Status der Tradition ins Wanken. Demgegenüber sieht Länger im Bereich der Nahrungsergänzungsmittel „Innovationen ohne Ende“.

WHO setzt auf traditionelle Medizin

Die Hersteller pflanzlicher Arznei­mittel halten diese ungleiche Wettbewerbssituation selbstredend für ungerecht. Immerhin unterstützt die Weltgesundheitsorganisation die sichere und wirksame Anwendung pflanzlicher Produkte als Arzneimittel, wie die Präsidentin der Gesellschaft für Phytotherapie Prof. Dr. Karin Kraft, Rostock, darlegte. Gemäß der WHO Traditional Medicine Strategy 2014 –2023 ist die traditionelle Medizin auch eine Option zur Behandlung chronischer und nicht übertragbarer Krankheiten. Laut Kraft gibt es hierfür in Deutschland ebenfalls wirksame Phytopharmaka. Im Gegensatz zu Nahrungsergänzungsmitteln erfüllen hierzulande alle zugelassenen Präparate die arzneimittelrechtlichen Anforderungen an Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit. Die WHO könnte nun auch den Weg für mehr Evidenz bei traditionellen Mitteln ebnen, denn sie fordert von den Ländern eine nationale Forschungsagenda. Davon werde auch die deutsche Phytotherapie pro­fitieren, hofft Kraft, z. B. durch eine stärkere öffentliche Förderung der Erforschung pflanzlicher Arzneimittel.

In den USA sind nur zwei Phytos zugelassen

Gelingt der Weg von der Tradition zur Evidenz in anderen Ländern besser? In den USA jedenfalls nicht, meinte Dr. Olaf Kelber, Darmstadt. Dort besteht zwar grundsätzlich die Möglichkeit, pflanzliche Präparate als Arzneimittel zuzulassen, aber die Anforderungen sind so hoch, dass erst zwei Produkte den Sprung geschafft haben, ein definierter Grüntee-Extrakt gegen Genitalwarzen (Veregen™) und ein definierter Extrakt aus Croton lechleri gegen Durchfall bei Erwachsenen mit HIV unter einer antiretroviralen Therapie (früher Fulyzaq®, jetzt Mytesi™). Ansonsten sieht es laut Kelber trotz 500 eingereichter Zulassungsgesuche eher trübe aus. De facto werden die Präparate in den USA so gut wie ausschließlich als Nahrungsergänzungsmittel in den Verkehr gebracht.

Reverse Pharmakologie

Dass es auch anders geht, machte Dr. Axel Helmstädter, Frankfurt, am Beispiel der Nobelpreisträgerin für Physiologie oder Medizin des Jahres 2015 deutlich. Auf der Suche nach potenziellen Wirkstoffen gegen Malaria in Arzneimitteln der traditionellen chinesischen Medizin isolierte die chinesische Pharmakologin Youyou Tu aus dem Einjährigen Beifuß das Artemisinin – laut Helmstädter ein Paradebeispiel für einen gelungenen „­Reverse pharmacology“-Ansatz.

Ätherische Öle bei schlecht heilenden Wunden

Ein weiteres Beispiel brachte Prof. Dr. Jürgen Reichling, Heidelberg: Ätherische Öle, die in der Erfahrungsheilkunde bei schlecht heilenden Wunden eingesetzt werden, wurden mit erfolgversprechenden Ergebnissen in experimentellen Studien gegen bakterielle Infektionen getestet.

Bakterien leben vielfach in Biofilmen, wo sie für Antibiotika sehr schwer zugänglich sind. Biofilme sind dynamische Lebensgemeinschaften, die von einer extrazellulären polymeren Substanz umgeben sind, die u. a. aus Polysacchariden, Glykolipiden und Proteinen besteht. Bakterien können in den Biofilm eingedrungene Antibiotika abbauen oder durch wirksame Effluxpumpen aus dem Biofilm herausexpedieren. Dadurch können in der Praxis Antibiotika-Dosen erforderlich werden, die erheblich über den in vitro ermittelten minimalen Hemmkonzentrationen (MHK) liegen.

Ätherische Öle können Bakterien vernichten oder ihre Kommunikationsprozesse (Quorum sensing), die die Bildung des Biofilms steuern, unterbinden. So reduzierte Gewürznelkenöl in einer Konzentration von 1,6 Prozent (MHK: 3,2%) die Biofilm-Bildung um 65 Prozent im Vergleich zur unbehandelten Kontrolle; 1,5-prozentiges Pfefferminzöl (HMK: 6,4%) bewirkte sogar eine Reduktion von 73 Prozent. Es gibt tierexperimentelle und biochemische Belege dafür, dass Lavendelöl, Rosmarinöl, Pfefferminzöl und Wacholderbeeröl die Heilung chronischer Wunden äußerst aktiv beeinflussen. Dies betrifft Prozesse wie die Wundkontraktion, den Wundverschluss, die Reepithelialisierung und die Bildung von Granulationsgewebe. Im behandelten Gewebe waren wichtige wundheilungsfördernde Wachstumsfaktoren signifikant stärker exprimiert. Reichling sprach von einem „Riesen-Boom“ der Forschung auf diesem Gebiet.

Never change a running system

Prof. Dr. Susanne Alban, Kiel, legte dar, dass die Unterschiede zwischen traditionellen und „normalen“ Arzneimitteln im Hinblick auf die wissenschaftliche Evidenz überschätzt werden. Auch für „normale“ Arzneimittel seien die wissenschaftlichen Belege teilweise veraltet, und trotzdem haben sie in der medizinischen Praxis nach wie vor einen Stellenwert. Als Beispiel nannte sie Phenprocoumon (Marcumar®), ein Mittel mit 50 Jahren Anwendungserfahrung; ihm stellte sie die neuen oralen Antikoagulanzien gegenüber, die in der Praxis viele Fragen aufwerfen. So könne der Grundsatz „Never change a running system“ auch in der Therapie durchaus seine Berechtigung haben, meinte Alban. |

Dr. Helga Blasius, Remagen

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