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Alt, krank und auf Hilfe angewiesen

Wie Apotheker die Arzneimitteltherapiesicherheit verbessern können

MERAN (du) | Der Bevölkerungsanteil älterer Menschen steigt stetig, ebenso die Prävalenz von chronischen Erkrankungen. Demenz, Depression und weitere alterstypische psychische Erkrankungen, oft auch ausgelöst durch eine komplexe Polymedikation, verschärfen die Situation. Kommen dann noch schlechtes Sehen und Hören sowie manuelle Einschränkungen hinzu, scheitern viele Patienten schon an der Arzneimittelanwendung. Ein breites Aufgabenfeld für Apotheker.

Wie Prof. Dr. Ulrich Jaehde, Bonn, im Rahmen des Pharmacon Meran ausführte, nimmt nahezu jeder zweite über 85-Jährige mehr als fünf Medikamente ein. Werden solche Patienten in Heimen versorgt, steigt die Zahl der verordneten Arzneimittel noch einmal deutlich an und damit auch das Risiko für Nebenwirkungen und Interaktionen. Eine vom Bundesministerium für Gesundheit geförderte Querschnittsanalyse aus Nordrhein-Westfalen zeigt, dass pro 100 Heimbewohnermonaten mit 8 unerwünschten Arzneimittelwirkungen zu rechnen ist. Mehr als die Hälfte hätte laut Jaehde vermieden werden können. Insgesamt wurden bei den erfassten 778 Heimbewohnern aus 11 Heimen 17 Stürze dokumentiert. Auch hier soll jeder Zweite vermeidbar gewesen sein. Insbesondere beim Medikationsprozess wurden Mängel festgestellt, Mängel, die sich durch ein multiprofessionelles Zusammenspiel von Pflegenden, heimversorgenden Ärzten und Apothekern minimieren lassen sollten. Vor diesem Hintergrund laufen derzeit verschiedene Modellversuche.

Jaehde konnte von ersten Erfolgen einer geriatrischen Medikationsanalyse berichten, die auf Basis einer Vereinbarung zwischen dem Apothekerverband Nordrhein und der AOK Rheinland/Hamburg zurzeit von 17 heimversorgenden Apotheken in Nordrhein-Westfalen durchgeführt wird und mit 55 Euro pro Analyse honoriert wird. Im Fokus stehen dabei potenziell inadäquate Medikamente, inadäquate Dosierungen und Arzneimittelinteraktionen bei über 65-Jährigen mit Polymedikation. Ersten Ergebnissen zu­folge wurden pro Patient 2 arzneimittelbezogene Probleme detektiert und hier insbesondere inadäquate Dosierungen. Der Zeitrahmen für eine solche Analyse wird mit 1,5 bis knapp 4 Stunden angegeben.

Foto: DAZ/du

Ein weiteres vielversprechendes Projekt ist das ebenfalls vom Bundesministerium für Gesundheit geförderte AMTS-AMPEL-Projekt. Hier wurden in den beteiligten Heimen AMTS-Teams aus heimversorgenden Apothekern und AMTS-Pflegern gebildet. Der AMTS-Pfleger dokumentiert täglich neu aufgetretene klinische Symptome, der AMTS-Apotheker führt einmal jährlich sowie bei Neuaufnahme, Krankenhausentlassung und bei Verdacht auf unerwünschte Arzneimittelwirkungen eine Medikationsanalyse durch. Zur Unterstützung dient eine in Anlehnung an eine Ampel aufgebaute AMTS-Merkkarte, die unter www.amts-ampel.de abrufbar ist. Mit der Veröffentlichung der Ergebnisse des AMTS-Ampel-Projekts wird in Kürze gerechnet. Schon die Zwischenergebnisse deuteten einen deutlichen Rückgang von unerwünschten Arzneimittelwirkungen durch die Intervention an. Jaehde geht von einer 50%igen Reduktion aus. Er begrüßte die hohe Akzeptanz in den Heimen und beklagte die geringe Akzeptanz der eingebundenen Hausärzte. Nur 15% der Vorschläge des AMTS-Teams seien aufgegriffen worden. Die Verweigerungs­haltung der Ärzte zu überwinden ist daher für Jaehde die entscheidende Herausforderung.

Schwindende Kraft

Doch auch öffentliche Apotheker können schon mit ganz einfachen Dingen zur Verbesserung der Arzneimittelsicherheit älterer Menschen beitragen. Apotheker Wolfgang Kircher, Autor des im Deutschen Apotheker Verlag erschienenen Standardwerks „Arzneiformen richtig anwenden“, sensibilisierte für die funktionellen Einschränkungen, mit denen ältere Patienten zu kämpfen haben. Schwindende Kraft in den Fingern und nachlassende manuelle Geschicklichkeit führen oftmals dazu, dass die Patienten schon an den Erstöffnungssicherungen der Darreichungsform scheitern, was Prof. Dr. Gerhard Eschweiler, Leiter des Geriatrischen Zentrums an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Tübingen, mit einem Beispiel aus seiner Praxis eindrucksvoll untermauerte (s. Kasten „Unter Tränen“).

Unter Tränen

Berta K., eine 83-jährige Patientin, leidet seit Längerem unter einer rezidivierenden depressiven Störung. Sie klagt über Schlafstörungen, Appetitlosigkeit und Gewichtsabnahme. Behandlungsversuche mit 15 mg und 30 mg Mirtazapin zur Nacht blieben ohne Erfolg und gaben Rätsel auf, bis die Patientin unter Tränen gestand, dass sie das abendliche Medikament nicht nehmen konnte, weil sie nicht in der Lage war, es aus dem Blister zu nehmen. Sie habe sich geschämt, einzugestehen, dass sie Hilfe brauche und dass sie niemanden habe, der ihr abends helfen kann.

Quelle: Prof. Dr. Gerhard Eschweiler, Tübingen

Gebrauchsfertig abgeben

In der Apotheke kann schon allein dadurch ein wesentlicher Beitrag zur Arzneimitteltherapiesicherheit geleistet werden, wenn noch nicht anwendungsfertige Darreichungsformen vor der Abgabe in den gebrauchsfertigen Zustand versetzt werden. Zudem verwies Kircher auf eine Reihe von mechanischen Hilfsmitteln wie Antirutschunterlagen, Tubenausdrückern und Wimpernzangen, mit denen den Patienten die Anwendung erleichtert werden kann.

Start low, go slow!

Eine besondere Herausforderung stellt die Polymedikation bei Patienten mit Demenz, Depression und kognitiven Dysfunktionen dar. So verwies Prof. Dr. Gerhard Eschweiler auf aktuelle Leitlinien zur Demenz- und Depressionsbehandlung bei alten und multimorbiden Menschen. Doch fehlt gerade für diese Patientengruppe die Evidenz, da die Gruppe der Hochbetagten und Multimorbiden in den entsprechenden Studien in der Regel ausgeschlossen ist. Für den Einsatz von Antidepressiva empfahl Eschweiler als Regel: Start low, go slow! Insbesondere bei den SSRI würde eine zu hohe Dosis zu Beginn der Therapie Übelkeit und Erbrechen auslösen, mit der Konsequenz, dass das Arzneimittel einfach nicht weiter eingenommen wird. |

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