Interpharm 2016 – Festvortrag

Selber Denken sorgt für Durchblick

Wie man sich nicht von reißerischen Schlagzeilen überrumpeln lässt

rs | In welchem Land sind die meisten Menschen untreu? Welcher Anteil an PC’s hat Viren? Wo ist die Ärzteversorgung in Deutschland am besten? Statistische Antworten auf populäre Fragen sind eine Steilvorlage für jede Redaktion. Ergebnisse „repräsentativer“ Befragungen und Daten aus „wissenschaftlichen“ Studien werden dann gern zu ebenso plakativen wie falschen Schlagzeilen gedreht. „Die meisten statistischen Sachverhalte des Alltags sind aber einfach mit gesundem Menschenverstand zu hinterfragen“, ist Prof. Dr. Björn Christensen überzeugt. Der Mathematikprofessor gab Nichtstatistikern eine amüsante Anleitung zum „Ausgang aus der selbst verschuldeten statistischen Unmündigkeit“.
Foto: DAZ/A. Schelbert

Prof. Dr. Björn Christensen

„Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ ist nach Kant der Wahlspruch der Aufklärung. Aber wie schnell gehen wir angeblichen Fakten auf den Leim, wenn sie gedruckt daherkommen? Auch jenen der Fachpresse? „Mediziner mögen Westerland auf Sylt und meiden Munster in Niedersachsen“, titelte beispielsweise ein Ärzteblatt. Eine Studie zum Ärztemangel habe ergeben, dass sich in Westerland rund 800 Einwohner einen Hausarzt teilen, in Munster an die 3000 (das Soll-Verhältnis liegt etwa in der Mitte).

Wie Verhältniszahlen lügen

Also eine dramatische Unter- bzw. Überversorgung? Unsinn: Den Verhältniszahlen liegen die gemeldeten Bewohner zugrunde. Am Bundeswehrstandort Munster sind tausende Berufssoldaten gemeldet, die aber durch Truppenärzte versorgt werden. In Tourismuszentren wie Sylt ist es umgekehrt. Ortsansässige Ärzte versorgen Massen an nicht gemeldeten Urlaubern.

Dieselbe (Un-)Logik steht auch hinter kuriosen Fakten wie diesem: Das Land mit der höchsten Kriminalitätsrate im Verhältnis zur Wohnbevölkerung ist der Vatikan. Formal korrekt, denn den 500 Staatsangehörigen stehen auf dem winzigen Staatsgebiet Ströme von Touristen mit einladenden Handtaschen gegenüber. Die Polizei hat viel zu tun.

Wie man Mittelwerte verschiebt

Mit manchen statistischen Tricks lassen sich medizinische Behandlungserfolge vortäuschen: Teilt man zum Beispiel Kohorten von Tumorpatienten damals und heute nach den gleichen Stadien ein und vergleicht ihre Lebenserwartung, so ist diese heute scheinbar höher. Verbessert hat sich aber allein die Diagnostik, die kleinere, also insgesamt mehr Metastasen erkennt; dadurch steigt die Patientenzahl, die dem fortgeschrittenen Stadium zugerechnet wird, jene im leichteren Stadium sinkt. Ohne jedes therapeutische Zutun steigt in beiden ­Gruppen der Mittelwert der Lebenserwartung. Mithilfe des so genannten Will-Rogers-Phänomens kann auch Vorsorgeuntersuchungen eine längere Überlebenszeit „attestiert“ werden.

Mit Korrelation Kausalität vortäuschen

Korrelationen sind ein zentrales Element der Statistik mit besonderer Anfälligkeit für Fehlschlüsse. Das Problem beginnt, wo auf einen kausalen Zusammenhang geschlossen wird. So besteht eine eindeutige Korrelation zwischen der Zahl der brütenden Storchenpaare und der Geburtenzahl in Deutschland, genauso wie zwischen der Körpergröße der Miss Germany und der aktuellen Dorsch-Fangrate ... Berüchtigt ist auch die in einem hochrangigen Journal publizierte Arbeit über den glasklaren Zusammenhang zwischen Schokoladenkonsum und der Zahl der Nobelpreisträger, die ein Land hervorbringt. Christensen formulierte als Merksätze, Erstsemester Statistik:

  • 1. Statistische Korrelationen können durch dritte Einflüsse hervorgerufen werden, ohne dass ein direkter Zusammenhang besteht.
  • 2. Ursache und Wirkung können nicht immer klar bestimmt werden.
  • 3. Selektive Datenauswahl kann einen Zusammenhang vortäuschen.

Befragungen durchschauen

Viele „repräsentative“ Untersuchungen basieren auf 1000 Befragten. Das klingt solide. Häufig wird allerdings die Datengrundlage gesplittet, z. B. ­anteilig nach der Bevölkerung der 16 Bundesländer. So werden aus n = 1000 schnell n = 247 in Nordrhein-West­falen und n = 8 in Bremen. Man sollte sich bei regionalen Ergebnissen von Befragungen fragen, ob sie aufgrund geringer Fallzahlen nur dem Zufall geschuldet sind oder ob sie inhaltliche Substanz haben. „Selbst bei 100 Befragten in jedem Bundesland, eine andere beliebte Methode, kann das Ergebnis noch zufällig sein, darunter erst recht“, sagte Christensen.

Natürlich sind auch repräsentative Studien aus hochoffiziellen Quellen nicht vor einem Bias gefeit. So verkündeten im Jahr 2013 zwei renommierte Hochschulen in Verbund mit dem Bundesamt für Risikobewertung Ergebnisse einer wissenschaftlichen Studie zur Antibiotikagabe bei Tieren. Erste Ergebnisse fielen erfreulich positiv aus – auffällig positiv. Offenbar verhielten sich die teilnehmenden Landwirte und Tierärzte leitliniengemäß. Eine Nachfrage ergab, dass die ausgewerteten Daten nur von Teilnehmern stammten, die sich freiwillig gemeldet hatten. Dass bei dieser Befragung kein offenkundiges Fehlverhalten preisgegeben bzw. aufgedeckt wird, liegt auf der Hand. Ein „Freiwillige vor“-Design lag einer anderen öffentlich geförderten Studie zugrunde, die bei 40% von 220.000 Computern per Fernanalyse Virusbefall feststellt. Die Teilnehmer mussten sich für den PC-Check selbst anmelden. Die selektive Datenbasis interessierter Freiwilliger ist natürlich nicht mit einem repräsentativen Anspruch in Einklang zu bringen.

Selbst denken

Aller Wahrscheinlichkeit nach werden weiterhin sechs- bis siebenstellige Summen in solch zweifelhafte Studien versenkt. Solange statistische Prognosen die Vergangenheit extrapolieren, ist keine Besserung in Sicht. Hoffnung besteht nur, wenn mehr Menschen sich ihres eigenen Verstandes bedienen. |


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