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Lohnt sich die Mühe?

Hilfsmittelversorgung: Analyse eines überregulierten Marktes

Bei Hilfsmitteln ist alles anders als bei Arzneimitteln. Statt Apothekenpflicht und Kontrahierungszwang besteht hier die für Apotheker ungewohnte Frage, ob sie diese Produkte überhaupt anbieten und einem Vertrag beitreten oder nicht. Für die Antwort reichen Handelsspanne und Kostenrechnung nicht aus, denn Apotheker müssen auch die Reaktionen der Kunden und Mitbewerber berücksichtigen. Welche Überlegungen Apothekern dabei helfen können, zeigt dieser Beitrag. Er dient zugleich als Warnung, wie lebensfern die Arzneimittelversorgung werden könnte, falls auch dort Selektivverträge eingeführt würden. | Von Thomas Müller-Bohn

Schon die Frage, welche Produkte Hilfsmittel sind, zeigt die Komplexität des Themas. Denn während das Verkehrs- bzw. Zulassungsrecht Arzneimittel und Medizinprodukte unterscheidet, differenziert das Sozialrecht zwischen Arzneimitteln und Verbandmitteln (gemäß § 31 SGB V) einerseits und Hilfsmitteln (gemäß § 33 SGB V) andererseits. Hilfsmittel sind zulassungsrechtlich typischerweise Medizinprodukte, aber nicht alle Medizinprodukte sind Hilfsmittel. Zudem müssen Hilfsmittel von Geltungsarzneimitteln unterschieden werden, die zwar keine arzneimittelrechtliche Zulassung ­haben, aber als Arzneimittel behandelt werden – auch in der Umsatzstatistik. Zu diesen Geltungsarzneimitteln zählen ­insbesondere Teststreifen (siehe nebenstehenden Kasten) und Spezialdiäten.

Teststreifen – ganz anders als Hilfsmittel

Für Teststreifen gibt es vertragliche Preisvereinbarungen mit den Krankenkassen und sie sind nicht apothekenpflichtig. Doch damit enden die Gemeinsamkeiten zwischen Teststreifen und Hilfsmitteln. Denn Teststreifen sind Geltungsarzneimittel und ihre Marktbedingungen unterscheiden sich vielfach vom Hilfsmittelmarkt.

Die herausragende Besonderheit bei Blutzuckerteststreifen ist, dass mit der Auswahl des verwendeten Gerätes auch über die nötigen Teststreifen entschieden wird. Maßgeblich dafür sind der Arzt und noch mehr die Schulung des Patienten. Daraufhin dominieren zwei große Hersteller den Teststreifenmarkt und der Rest verteilt sich auf eine Vielzahl kleinerer Anbieter mit überwiegend deutlich niedrigeren Preisen. Doch Apotheken und Krankenkassen können an der Wahl der Teststreifen im Regelfall nichts ändern - ganz anders als bei Hilfsmitteln. Ökonomische Anreize durch die Lieferverträge zwischen Krankenkassen und Apotheken sind hinsichtlich der Produktauswahl weitgehend sinnlos. Sie können die Apotheken nur zu günstigem Einkauf animieren, doch das ist selbstverständlich. Im Teststreifenmarkt ist damit das klassische Dilemma einer Krankenversicherung besonders stark ausgeprägt: Der Entscheider (der Arzt) ist selbst weder Nutzer noch Zahler und die ökonomischen Anreize in den Lieferverträgen betreffen ihn nicht.

Immer niedrigere pauschale Vertragspreise geben dieses Dilemma an die Apotheken weiter und bringen sie in eine unangenehme „Sandwich“-Position zwischen den Krankenkassen und den Teststreifenherstellern. Doch die Apotheken haben praktisch keine Wahl zwischen den Teststreifen. Um dieser Situation gerecht zu werden, hat sich in etlichen Lieferverträgen eine Gliederung der Teststreifen in zwei und gelegentlich drei Gruppen durchgesetzt. Dann erhalten Apotheken unterschiedliche Pauschalen für hoch- und niedrigpreisige Teststreifen.

Dies verringert zwar den wirtschaftlichen Druck auf die Apotheken, ändert aber nichts an der Marktsituation auf der Angebotsseite. Die Krankenkassen hingegen möchten den Marktanteil der niedrigpreisigen Teststreifen erhöhen oder die Preise der bisher hochpreisigen Teststreifen senken, ähnlich wie sie mit ihren Verträgen die Märkte für Hilfsmittel und Rabattvertragsarzneimittel beeinflussen. Dazu müssen aber die Ärzte die Patienten mit den passenden Geräten schulen. Um dies zu erreichen, haben Krankenkassen zumindest in Westfalen-Lippe und Schleswig-Holstein die Teststreifen in die Arzneimittelvereinbarungen mit den Kassenärztlichen Vereinigungen einbezogen. Wenn die Auswahl günstiger Teststreifen als wirtschaftliche Verordnungsweise gilt und dazu Zielvereinbarungen geschlossen werden, schafft dies einen Anreiz für die Ärzte und wirkt sich auf die Marktentwicklung aus, wie aus den genannten Regionen zu hören ist. Anstatt auf die Apotheken wirkt der wirtschaftliche Druck damit auf die Hersteller der Teststreifen.

Auf Hilfsmittel entfallen nur etwa vier Prozent der Apotheken­umsätze. Marktkenner gehen davon aus, dass aufsaugende Inkontinenzprodukte davon etwa 40 Prozent ausmachen. Weitere für Apotheken besonders relevante Hilfsmittelgruppen sind ableitende Inkontinenzprodukte, Kompressionsstrümpfe und -strumpfhosen sowie Überleitungssysteme, beispielsweise Nadeln oder Ports. Produkte zur Stomaversorgung bereiten in Apotheken erheblichen Aufwand und erfordern intensive Beratung. Daher haben sich vergleichsweise wenige Apotheken darauf spezialisiert. Die übrigen Hilfsmittel sind im Apothekenmarkt eher Randerscheinungen, aber sie können für einzelne Apotheken durchaus relevant sein.

Welcher Vertrag gilt?

Früher wurde die Lieferung von Arznei- und Hilfsmitteln gemeinsam in einem Vertrag geregelt, doch inzwischen gibt es eine kaum noch überschaubare Vielfalt von Verträgen für die Lieferung unterschiedlicher Hilfsmittel zulasten verschiedener Krankenkassen. Zunächst schlossen einzelne Ersatzkassen in der Erwartung besonders günstiger Konditionen eigene Hilfsmittelverträge auf Bundesebene ab. Doch auch solche Verträge gelten inzwischen nur noch für Länder, deren Verbände zustimmen. Außerdem gibt es auch auf Landesebene neben den Primärkassenverträgen unterschiedliche Verträge mit verschiedenen Krankenkassen und getrennte Regelungen für verschiedene Hilfsmittelgruppen. Noch unübersichtlicher wird es, wenn die Krankenkassen einzelne Regelungen ändern oder Vertragsteile kündigen. Daher können etliche Regelungen nicht mehr im ABDA-Artikelstamm abgebildet werden.

Wie kompliziert dies ist, verdeutlichte Axel Pudimat, der Vorsitzende des Apothekerverbandes Mecklenburg-Vorpommern, bei der Mitgliederversammlung des Verbandes am 2. April 2014 in Rostock. Er berichtete, dass es beim „OT2“-Hilfsmittelliefervertrag der Barmer GEK zu fast jedem Beitritt einer Apotheke Rückfragen in der Verbandsgeschäftsstelle gegeben habe. Pudimat kam zu dem Fazit: „Die Komplexität der Hilfsmittelverträge mit den verschiedenen Kostenträgern ist für die einzelne Apotheke im Alltagsgeschäft nicht mehr zu bewältigen.“

Viele Varianten für Preise

Preise werden häufig als Stückpreise festgelegt und manchmal über Aufschläge auf den Einkaufspreis. Viele Preisvereinbarungen beziehen sich auf Festbeträge oder es werden sogar prozentuale Abschläge von den Festbeträgen vereinbart. Festbeträge bestehen für Einlagen, Hörhilfen, Inkontinenzhilfen, Kompressionsprodukte, Sehhilfen und Stomaartikel, die jeweils in Gruppen austauschbarer Produkte zusammengefasst werden. Bei Hilfsmitteln zum Verbrauch, insbesondere zur Inkontinenz- oder Stomaversorgung, gibt es zunehmend Lieferpauschalen für einen Versorgungszeitraum. Die Krankenkassen übertragen damit das für sie nicht beeinflussbare Mengenrisiko auf die Leistungserbringer. Denn das Apothekenteam kann im persönlichen Kontakt zum Patienten die benötigten Mengen besser ermitteln. Die Apotheken müssen dann versuchen mit einer Mischung leicht und schwer betroffener Patienten rentabel zu arbeiten. Wenn für leichte, mittlere und schwere Inkontinenz unterschiedliche Pauschalen gelten, wie bei einem Vertrag in Hamburg, wird die Mischkalkulation zwar erleichtert, aber das Apothekenteam muss zusätzlich die aufzusaugenden Urinmengen dokumentieren.

Große Unterschiede in den Details

Auch die Genehmigungsfreigrenze, also der Rechnungsbetrag, über dem die Krankenkasse die Hilfsmittellieferung vorab genehmigen muss, unterscheidet sich erheblich. In einigen Verträgen beträgt sie netto 200 Euro (z. B. im Primärkassenvertrag in Schleswig-Holstein) oder sogar 250 Euro (z. B. für viele Hilfsmittel bei der Techniker Krankenkasse), in anderen dagegen nur 50 Euro (z. B. im bundesweiten Ersatzkassenvertrag, soweit keine vereinbarten Preise gelten). Je niedriger die Grenze ist, um so mehr steigt der bürokratische Aufwand – auch für die Krankenkassen. Gemäß manchen Verträgen müssen allerdings bestimmte Hilfsmittel gar nicht genehmigt werden. Bei Krankenkassen, die keine Verträge mit den ­Apothekerverbänden haben, müssen dagegen prinzipiell alle Lieferungen genehmigt werden, aber auch solche Krankenkassen (z. B. die BIG direkt gesund) erklären mitunter Ge­nehmigungsverzichte für einzelne Hilfsmittelgruppen.

Um die Apotheken bei den Genehmigungen zu entlasten, betreiben einige Apothekerverbände Clearingstellen, die diese Verwaltungsarbeit für die Apotheken erledigen. Aus der für Schleswig-Holstein und Hamburg tätigen „Hilfsmittelstelle für Apotheken“ (HilmA) des Apothekerverbandes Schleswig-Holstein wird berichtet, auf ein Drittel der Anfragen könne sofort geantwortet werden, dass gar keine Genehmigung nötig sei. Doch die Apotheken können vielfach nicht mehr verfolgen, welche Krankenkasse in welchen Fällen auf eine Genehmigung verzichtet.

Ein weiteres Beispiel für die großen Unterschiede zwischen den Verträgen betrifft die Inhalationsgeräte. Gemäß den bundesweiten Verträgen mit den Ersatzkassen können solche Geräte an Patienten der KKH-Allianz verliehen werden, während die DAK die Versorgung ausgeschrieben hat und Apotheken nur für die Notfallversorgung abhängig vom Wochentag und von der Uhrzeit zulässt. Für einige andere Ersatzkassen können die Geräte dagegen dauerhaft an die Patienten abgegeben werden. Die Unterschiede zwischen den Verträgen reichen bis zu den Abrechnungsmodalitäten, beispielsweise zur Frage, ob „Mischrezepte“ mit Arznei- und Hilfsmitteln zulässig sind.

Bürokratie in jeder Form

Der Trend zu mehr Verträgen wird durch die Möglichkeit der Krankenkassen zur Ausschreibung verstärkt. In § 127 SGB V hatte der Gesetzgeber 2007 dazu zunächst eine „Soll“-Regelung getroffen und diese später zur „Kann“-Regelung abgemildert. Denn wenn die Versorgung ausschließlich durch Ausschreibungsgewinner erfolgen darf, bedeutet dies für die Patienten, auf ihre gewohnten Versorger verzichten zu müssen. Zur Erleichterung wurde später auch der § 127 (2a) SGB V geschaffen, wonach andere Versorger bestehenden Verträgen beitreten können, soweit diese nicht als K.o.-Ausschreibungen konzipiert sind.

Eine weitere Hürde für die Hilfsmittelbelieferung ist die Präqualifizierung, die getrennt für die Hilfsmittelgruppen erfolgt. Vordergründig geht es dabei um Qualitätsanforderungen an die Lieferanten von Hilfsmitteln. Insider sehen darin aber auch eine Marktbereinigung, bei der dubiose Briefkastenfirmen ausgesondert werden. Für die Apotheken bedeutet die Präqualifizierung allerdings zusätzliche Bürokratie, bei der viele Voraussetzungen einzeln nachgewiesen werden müssen, die für Apotheken selbstverständlich sind. Zudem muss das Verfahren alle fünf Jahre durchlaufen werden und es gelten teilweise wieder neue Bedingungen. Außer Zeit kosten die Präqualifizierungen auch Geld.

Zudem müssen die Apotheken den meisten Verträgen ausdrücklich beitreten, um danach liefern zu dürfen. Bei einigen Verträgen sind Mitglieder eines Apothekerverbandes allerdings automatisch Vertragspartner, doch auch dies muss mitunter erst bestätigt werden. Im Apothekenalltag muss daher bei Rezepten über Hilfsmittel zunächst jeweils geprüft werden, ob die Apotheke mit der jeweiligen Krankenkasse überhaupt einen gültigen Vertrag hat. Dies ist insbesondere bei selten vorkommenden Krankenkassen schwierig. Denn die Krankenkassen akzeptieren anders als früher nicht mehr die Regelungen am Sitz des versorgenden Unternehmens. Die Versorgung eines Urlaubers oder eines zugezogenen Patienten mit einer nur regional verbreiteten Krankenkasse wird dadurch erschwert. Das Problem ist so komplex, dass der Deutsche Apothekerverband an einem Online-Vertragsportal arbeitet, mit dem Apotheken künftig ihren jeweiligen Vertragsstatus prüfen können sollen. Die Dauer der Arbeit an dem schon seit längerer Zeit angekündigten Online-Portal unterstreicht, wie schwierig die Aufgabe offenbar ist.

Was gehört in die Kalkulation?

Vor diesem Hintergrund wird die Wirtschaftlichkeit der Hilfsmittelversorgung aus der Perspektive der Apotheken wesentlich durch vier Größen bestimmt:

  • den Vertragspreis bzw. die abzurechnende Pauschale,
  • den Einstandspreis,
  • den bürokratischen Aufwand und
  • das Risiko einer (Null-)Retaxation.

Eine Nullretaxation macht jede andere Kalkulation zunichte. Immerhin besteht die Hoffnung, dass das angekündigte Online-Portal des Deutschen Apothekerverbandes die Gefahr minimiert, irrtümlich zu liefern, obwohl kein gültiger Vertrag besteht. Dennoch bleibt angesichts der immer komplexeren Verträge die Gefahr, gegen irgendeine andere Regel zu verstoßen und eine Retaxation zu ­riskieren. Dagegen kann eine sorgfältige Organisation helfen, die jedoch den bürokratischen Aufwand erhöht. ­Zudem gibt es Lieferverträge, die Nullretaxationen ausschließen.

Handelsspanne kaum kalkulierbar

Apothekenleiter müssen im Hilfsmittelmarkt Entscheidungen treffen, die zwar in anderen Wirtschaftsbereichen üblich sind, aber für Apotheker, die sich als Versorger verstehen und einen Kontrahierungszwang gewohnt sind, fremdartig erscheinen. Doch Apothekenleiter müssen für jede Hilfsmittelgruppe entscheiden, ob sie diese überhaupt in ihr Sortiment aufnehmen wollen und dann für jeden Vertrag prüfen, ob sie diesem beitreten wollen.

Eine betriebswirtschaftlich sinnvolle Kalkulation als Grundlage für diese Entscheidungen sollte beim erzielbaren Stücknutzen, also der Differenz aus Verkaufs- und Einstandspreis beginnen. Dazu muss vom Stückpreis gemäß dem jeweils zu bewertenden Vertrag der Einstandspreis abgezogen werden. Doch der Einstandspreis steht üblicherweise nicht fest. Die Listenpreise sind meist unrealistisch. Die Großhändler geben oft auch schon bei kleinen Mengen Rabatte, aber die Konditionen schwanken. Welche Einstandspreise langfristig angenommen werden können, lässt sich erst nach einer längeren Marktbeobachtung halbwegs zuverlässig schätzen, bleibt aber immer unsicher. Schon bei dieser ersten Überlegung spielen die erwarteten Mengen eine Rolle. Der Apothekenleiter muss daher für jede Hilfsmittelgruppe den Bedarf seiner Kunden gut einschätzen können. Aus der zu erwartenden Mindestkundenzahl ergeben sich die Einkaufsmengen, die wiederum die Einstandspreise beeinflussen. Die Mengen werden tendenziell größer, wenn Kunden aller Krankenkassen mit dem jeweiligen Hilfsmittel versorgt werden. Dann muss aber auch der Vertrag mit dem niedrigsten Preis noch akzeptabel sein.

Viel komplizierter wird die Kalkulation, wenn der Vertrag einen Pauschalbetrag für einen Versorgungszeitraum vorsieht. Besonders bei den wichtigen aufsaugenden Inkontinenzprodukten werden solche Verträge immer öfter vereinbart. Für die Apotheke bedeutet das eine Mischkalkulation aus guten und schlechten Risiken. Ob diese zugunsten der Apotheke aufgeht, kann nur ein Apotheker beantworten, der seine Kunden gut kennt – doch auch deren Bedarf kann sich ändern.

Aufzahlungen – Ausweg oder neues Problem?

Apotheken können auch Verkaufspreise über dem Vertragspreis erzielen, denn ebenso wie andere Versorger können die Apotheken qualitativ bessere Produkte gegen eine Aufzahlung anbieten. Dazu müssen die Apothekenteams den Kunden verdeutlichen, welche Vorteile die hochpreisigen Produkte bieten. Im Umgang mit Aufzahlungen sind allerdings auch die Apotheker untereinander, bis hin zu den Landesverbänden, gespalten. Einige betrachten solche Aufzahlungen als unethische Zwei-Klassen-Medizin, andere sehen sie als marktübliche Vorgehensweise, die auch den Patienten zugute kommt, die damit entsprechend ihren eigenen Wünschen versorgt werden. Betriebswirtschaftlich sind die Aufzahlungen wohl die beste Möglichkeit, die Hilfsmittelversorgung rentabel zu machen. Wiederum muss ein Apothekenleiter seine Kunden sehr gut kennen, um einschätzen zu können, wie realistisch Einnahmen durch Aufzahlungen sind.

Taktische Varianten

Doch auch wer seine Kunden sehr treffend einschätzt, kann mit seiner Kalkulation zu Hilfsmitteln vollkommen daneben liegen. Dies musste ein Apotheker erleben, der einem Inkontinenzvertrag einer Ersatzkasse mit einem für ihn ungünstigen Pauschalpreis beigetreten war. Der Apotheker wollte seine guten Arzneimittelkunden umfassend versorgen und nahm dafür einen kaum rentablen Preis in Kauf. Doch dann freute sich die Krankenkasse, an diesem Ort einen Versorger zu haben und teilte dies vielen anderen Versicherten mit, die bei dem Apotheker nun ihre Inkontinenzprodukte beziehen, aber ihre Rezepte weiter in ihre gewohnten Apotheken bringen. Zudem ist der Versorgungsbedarf solcher bisher unbekannter Kunden nicht einzuschätzen.

Zu der vergleichsweise unsicheren Berechnung der Handelsspanne kommen demnach noch viel kompliziertere vertragstaktische Überlegungen hinzu. Manche Apotheker fürchten, dass der Verzicht auf Hilfsmittellieferungen die Kunden zu Versendern führt, sodass sie auch mit ihren Rezepten zu Versandapotheken abwandern. Doch diese Gefahr dürfte eher gering sein, weil die typischen Hilfsmittelversender keine Versandapotheken sind. Andere Apotheker fürchten eher, die Kunden könnten zu einer benachbarten Apotheke abwandern, die eine komplette Versorgung einschließlich Hilfsmitteln anbietet. Doch wenn ein Vertrag für Apotheken ungünstige Konditionen enthält, dürften die meisten anderen Apotheken dies ebenso bewerten und einem solchen Vertrag eher fernbleiben. Auch diese Gefahr erscheint daher überschaubar, wenn sich nicht gerade eine benachbarte Apotheke auf diesem Gebiet schon deutlich positioniert hat. Dagegen droht gerade bei einem ungünstigen Vertrag, dass neue Kunden mit schlechten Risiken eine halbwegs tragfähige Mischkalkulation aushebeln.

Kaufmännische Sicht

Dies spricht dafür, anstatt viele taktische Überlegungen anzustellen, besser eine kaufmännische Grundregel zu beherzigen und nur Verträge einzugehen, die aus sich heraus mindestens einen kleinen positiven Ertrag erwarten lassen. Um dies zu ermitteln, müssen von dem mindestens zu erwartenden Stücknutzen (Differenz aus Verkaufs- und Einstandspreis, s. oben) die Kosten abgezogen werden, die unmittelbar dem Produkt zuzuschreiben sind. Dies sind zumindest die Arbeitskosten für die produktbezogene Beratung, die manchmal mühsame Lieferung, insbesondere bei voluminösen Inkontinenzprodukten, und die ebenfalls aufwendige Verwaltung. In dem letzten Aspekt sehen Insider zunehmend das größte Problem. Die Handelsspanne mag oft gering, aber auf den ersten Blick noch hinnehmbar sein, doch der immer größere Zeitaufwand für die Bürokratie zehrt den kleinen Ertrag vielfach auf. Eine ehrliche Kalkulation muss dies berücksichtigen. Wenn nach Abzug der produktbezogenen Kosten nichts übrig bleibt, ist das Hilfsmittel ein Verlustgeschäft. Die entscheidende Frage ist daher, wie viel Arbeitszeit in der Apotheke insgesamt für die Lieferung eines Hilfsmittels einschließlich der Verwaltungsarbeit benötigt wird.

Auch wenn einzelne Hilfsmittelumsätze bei der obigen Rechnung nur eine schwarze Null einbringen, müssen zumindest einige Vertragspreise hoch genug sein, um auch die Fixkosten der Hilfsmittelgruppe zu finanzieren. Dazu müssen die Fixkosten auf die einzelnen Packungen umgelegt werden. Dies sind insbesondere die Kosten für die Präqualifizierung und gegebenenfalls für die Einrichtung eines besonderen Lagers. Diese Rechnung erfordert allerdings eine schwierige Prognose über die erwarteten Abgabemengen. Noch schwieriger ist einzuschätzen, wie viele Retaxationen stattfinden werden.

Entscheidungen und ihre Folgen

Alle diese Überlegungen sollen letztlich bei der Entscheidung helfen, einem Vertrag beizutreten oder nicht. Die Notwendigkeit, über jeden Vertrag einzeln entscheiden zu müssen, erweist sich damit letztlich als sinnvoll. Denn so können Apotheker die Verträge auswählen, die ihnen akzeptabel erscheinen, und ein bestimmtes Hilfsmittel möglicherweise nur den Patienten einzelner Krankenkassen anbieten. Doch auch ein gutes Controlling, das Mengen, Einkaufskonditionen und Kosten berücksichtigt, kann nur ermitteln, ob ein Hilfsmittelvertrag überhaupt eine Aussicht auf einen positiven Deckungsbeitrag bietet. Als größtes betriebswirtschaftliches Problem erscheint hingegen, dass nahezu alle betrachteten Größen mit viel größerer Unsicherheit behaftet sind als im Arzneimittelmarkt. Dies beginnt bei den schwankenden Einstandspreisen und endet bei den Retaxationen. Mindestens ebenso wichtig wie der erwartete Ertrag ist daher die persönliche Risikoeinschätzung des Apothekenleiters. Wer bewusst vorsichtige Annahmen wählt, wird einen Vertrag möglicherweise ablehnen, den ein risikofreudigerer Kollege mit dem Blick auf die bei günstiger Entwicklung vorhandenen Chancen noch akzeptiert.

Letztlich ermöglicht es diese Logik einzelnen Krankenkassen, immer tiefere Preise durchzusetzen, insbesondere wenn andere Krankenkassen mit höheren Preisen die Infrastruktur sicherstellen. Damit gibt der Hilfsmittelmarkt auch einen Eindruck davon, wie sich der Arzneimittelmarkt vermutlich entwickeln würde, wenn dort Selektivverträge eingeführt würden. Eine zersplitterte Vertragslandschaft, ausufernde Bürokratie und die Steuerung der Versorgungswege durch die Krankenkassen wären dann auch bei Arzneimitteln zu befürchten. |


Autor

Dr. Thomas Müller-Bohn, Apotheker und Diplom-Kaufmann, Redakteur der DAZ



E-Mail: mueller-bohn@t-online.de

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