Feuilleton

Vor 70 Jahren wurde Auschwitz befreit

Auch SS-Apotheker hielten das mörderische System am Laufen

Vor 70 Jahren, am 27. Januar 1945, wurde Auschwitz, das größte der von den Nationalsozialisten errichteten Vernichtungslager, befreit. Damit endete eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte. Zu den Tätern gehörte der Lager­apotheker Victor Capesius, welcher am 20. August 1965 im Frankfurter Auschwitz-Prozess zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt wurde.

Im 19. Jahrhundert wurde Auschwitz, das damals ebenso wie das nahe Krakau zu Österreich-Ungarn gehörte, zu einem wichtigen Eisenbahnknotenpunkt ausgebaut, blieb aber eine Kleinstadt am Rande des oberschlesischen Industriegebiets. Beim Untergang des Habsburgerreichs kam es an den neugegründeten polnischen Staat. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt und dem Überfall Deutschlands auf Polen im September 1939 wurde es Schlesien angegliedert. Nicht zuletzt wegen der guten ­Eisenbahnanbindung fiel die Wahl der Nazis auf Auschwitz, als sie ein großes Konzentrationslager planten.

Foto: Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau

Die Rampe im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, aufgenommen vom SS-Hauptscharführer Bernhard Walter bei der Ankunft eines Transports ungarischer Juden, Mai 1944. SS-Männer in Uniform, Funktionshäftlinge in Häftlingskleidung.

Drei Konzentrationslager …

Ab 1940 starteten die Nazis mit dem Bau des Stammlagers Auschwitz I. Dort konnte anfangs auf einige leer stehende Kasernen des polnischen Heeres zurückgegriffen werden, die zunächst als Durchgangslager für polnische Häftlinge dienten. Es folgten 1941 die Errichtung des 170 ha großen Vernichtungslagers Auschwitz II (Birkenau) und danach der Bau des Arbeitslagers Auschwitz III (Monowitz), der durch die IG Farben AG maßgeblich gefördert wurde. Die dort internierten Häftlinge bauten unter unmenschlichsten Bedingungen ein neues Chemiekombinat (Buna-Werk). Nach durchschnittlich drei bis vier Monaten Arbeitseinsatz starben sie infolge Unterernährung, Entkräftung und Misshandlungen. Zeitweilig zählte die Baustelle zu den größten in Europa. In dem Buna-Werk sollten neben synthetischem Kautschuk („Buna“) weitere kriegswichtige Produkte wie Flugbenzin, Kunststoffe und Arzneistoffe hergestellt werden. Die Kautschuk-Produktion konnte jedoch bis Kriegsende wegen Material- und Arbeitskräftemangels nicht angefahren werden.

Hinzu kamen noch etwa 50 kleinere Außenlager, die dem Hauptlager angeschlossen waren. Insgesamt umfasste die Lager-Sonderzone um Auschwitz 40 Quadratkilometer. In Auschwitz fanden weit über eine Million Menschen einen gewaltsamen Tod, zuvorderst Juden neben vielen Sinti und ­Roma. Genauere Angaben zu der Zahl der Opfer sind nicht mehr möglich, da die SS viele Unterlagen kurz vor der Befreiung des Lagers vernichtet hat.

… und eine Musterstadt

Auf der anderen Seite planten die Natio­nalsozialisten, das beschauliche Auschwitz zu einer deutschen Modellstadt nach dem Motto „Muster der Ostsiedlung“ zu verwandeln. Zuerst deportierten sie die dort lebenden Juden und siedelten einen Großteil der polnischen Bevölkerung um. Darauf lockten sie viele Deutsche nach Auschwitz, die dort gute Lebensbedingungen auch in Kriegszeiten vorfinden sollten. Für sie wurden Einfamilienhäuser mit Zentralheizung, Warmwasserversorgung, Garten und Garage gebaut. Bis Oktober 1943 waren 6000 Deutsche nach Auschwitz gekommen, 80.000 sollten es werden, neben den Angestellten und Arbeitern im Buna-Werk auch Verwaltungsbeamte, Lehrer, Handwerker usw. Somit entstanden zwei Parallelwelten in Auschwitz: einerseits die Musterstadt, andererseits die be­rüchtigten Konzentrationslager.

Lagerapotheke des KZ Auschwitz

Im Sommer 1940 wurde gleichzeitig mit dem Baubeginn des Konzentra­tionslagers eine Apotheke im Stammlager Auschwitz zur künftigen Ver­sorgung der SS-Angehörigen sowie der Häftlinge eingerichtet.

Der erste Leiter der Lagerapotheke war von Juli 1940 bis November 1941 Henry Storch (1911 –1982). Dieser konnte erreichen, dass die Apotheke in einem Haus außerhalb des eigent­lichen, durch Starkstromleitungen abgesicherten Stammlagers Platz fand. Im Erdgeschoss waren je eine Apotheke für die SS und für die Häftlinge sowie ein Apothekenmagazin untergebracht. Im ersten Stock befand sich ein größerer Raum für den Apothekenleiter, im Keller waren zwei Räume als Warenlager eingerichtet. Im Dachgeschoss wurden Medikamente gelagert, die aus dem Gepäck der mit der Bahn ankommenden Häftlinge konfisziert worden waren.

SS-Apotheker Victor Capesius

Auf Storch folgte zunächst Adolf Krömer (1890 –1944), und dessen Nachfolger wurde Victor Capesius, der die Apotheke bis zum Schluss leitete. Ihm unterstanden zwölf Mitarbeiter, darunter mehrere Apotheker und Drogisten als Funktionshäftlinge. Zu ihnen zählte auch der Berliner Jude Dr. Fritz Peter Strauch (1897 –1957), der dank Capesius bei der Selektion an der Rampe vor der sofortigen Tötung verschont geblieben war und aufgrund seiner Tätigkeit auch die KZ-Haft überlebte, später eine Apotheke in München eröffnete und dann wieder freundschaftliche Beziehungen zu seinem Kollegen und ehemaligen Vorgesetzten unterhielt.

Capesius war 1907 als Sohn eines Arztes, der neben seiner Praxis auch eine Apotheke besaß, in Reußmarkt (Siebenbürgen, rumän. Miercurea Sibiului) geboren. Nach dem Studium der Pharmazie in Klausenburg (Cluj) war er zunächst Militärapotheker. Daran schloss sich 1931 bis 33 sein Promotionsstudium in Wien an. Hierauf arbeitete er in Rumänien als Handelsvertreter für die Bayer-Werke, damals ein Tochterunternehmen der IG Farben AG. Nebenher leitete er gelegentlich die Heeresspital­apotheke in Cernavode und wurde so 1941 zum Hauptmann der Reserve befördert. Im August 1943 wurde er infolge eines Abkommens zwischen Deutschland und Rumänien aus der rumänischen Armee entlassen und zum Hauptsturmführer der SS ernannt (entsprach dem Rang eines Hauptmanns). Er wurde dem SS-Gruppenführer (entspricht dem Rang eines ­Generalmajors) Dr. Carl Blumenreuter (1881 –1969) unterstellt, der im SS-Sanitätsamt in Berlin als Sanitätszeugmeister und Chefapotheker fungierte. Capesius nahm im Zentralsanitäts­lager in Warschau an einer einmonatigen Ausbildung zum Apotheker der Waffen-SS teil und wurde zunächst Chefvertreter in der Lagerapotheke des KZ Dachau. Dann wurde er als Nachfolger des erkrankten (oder bereits gestorbenen?) Lagerapothekers Krömer nach Auschwitz versetzt.

SS und Waffen-SS

Die Ursprünge der Schutzstaffel, kurz SS genannt, gehen auf das Jahr 1923 zurück, als eine rund 20-köpfige Leibgarde zum persönlichen Schutz von Adolf Hitler etabliert wurde. 1925 ging aus dieser Vereinigung die SS hervor, welche Angriffe auf die Funktionäre der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) sowie deren Versammlungen abzuwehren hatte. Heinrich Himmler war seit 1929 Chef der SS und baute sie zielstrebig aus und gab ihr – im Unterschied zur SA – den Nimbus einer Eliteorganisation. 1933 hatte die SS bereits 200.000 Mitglieder. Ein Jahr später übernahm sie die Organisation und Kontrolle der Konzentrationslager. 1939 wurde schließlich die Waffen-SS gegründet. Wie der Name sagt, war die Waffen-SS ein paramilitärischer Verband. Sie unterstützte mit ihren straff organisierten Einheiten die Wehrmacht an der Front, tat sich aber vor allem bei der Verfolgung, Verhaftung und Tötung von Juden und anderen Menschen, die nach der NS-Ideologie kein Recht auf Leben hatten, hervor.

Im Zweiten Weltkrieg wechselten viele deutschstämmige Männer aus den Armeen der mit Deutschland verbündeten Staaten wie Rumänien in die Waffen-SS, oft ohne von deren speziellen Aufgaben zu wissen. Auf diesem Weg gelangte auch Victor Capesius zur Waffen-SS und nach Auschwitz. Mitte 1944 zählte die Waffen-SS etwa 600.000 Mitglieder.

Nach eigenen Aussagen begann Capesius seinen Dienst in Auschwitz im April 1944, anderen Quellen zufolge war er bereits ab Ende 1943 in Auschwitz tätig. Im November 1944 wurde er zum SS-Sturmbannführer befördert (entsprach dem Rang eines Majors). Am 18. Januar 1945 – kurz vor der Befreiung des KZ durch die Sowjets – verließ er Auschwitz und fuhr mit einigen anderen SS-Angehörigen per Sanitätskraftwagen nach Berlin.

Neuanfang nach dem Krieg

Nach Kriegsende wurde Capesius in Schleswig-Holstein von den Engländern aufgegriffen und im ehemaligen KZ Neugamme verhört. Im Mai 1946 aus britischer Kriegsgefangenschaft entlassen, begann er an der Technischen Hochschule in Stuttgart ein Studium der Elektrotechnik, da er als ehemaliger Angehöriger der SS zunächst keine Anstellung als Apotheker fand. Im Juli 1946 verhaftete ihn die amerikanische Militärpolizei erneut, nachdem ihn der ehemalige polnische Auschwitz-Häftling Leon Czelaski in München erkannt hatte. Zunächst wurde Capesius in das einstige KZ Dachau und danach in das Internierungslager Ludwigsburg eingewiesen. Da Czelaski zu dieser Zeit Capesius jedoch keine konkreten Vergehen, unter anderem auch wegen fehlender Zeugen, nachweisen konnte, wurde der ehemalige SS-Apotheker im August 1947 wieder entlassen. Danach arbeitete er in Stuttgart in der Raitelsberg-Apotheke. Im Oktober 1950 machte Capesius sich schließlich mit der Markt-Apotheke in Göppingen erfolgreich selbstständig. Später eröffnete er noch zusätzlich ein Kosmetikstudio in Reutlingen.

Neun Jahre Zuchthaus

Erst im 1. Auschwitz-Prozess, der von 1963 bis 1965 in Frankfurt am Main stattfand, wurde Victor Capesius am 19./20. August 1965 wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens vier Fällen an mindestens je 2000 Menschen zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt. Demnach hatte er sich am Tod von mindestens 8000 Menschen mitschuldig gemacht. Außer ihm waren 21 weitere Personen angeklagt.

Foto: Günter Schindler

Victor Capesius (vorn links) während des Auschwitz-Prozesses in Frankfurt. Hinter ihm die Angeklagten Oswald Kaduk und Emil Hantl.

Capesius war bereits am 4. Dezember 1959 morgens auf dem Weg zu seiner Apotheke in Göppingen von der Polizei verhaftet worden. Er war dringend tatverdächtig, im Jahr 1944 in Auschwitz „aus Mordlust und sonstigen niedrigen Beweggründen Menschen getötet zu haben“. Konkret wurden ihm folgende Straftaten zur Last gelegt: Teilnahme an Selektionen auf der Rampe in Auschwitz-Birkenau im Sommer 1944, Verwaltung und Zurverfügungstellung von Giftgas Zyklon B zur Tötung von Menschen und Durchführung von ­Experimenten an Häftlingen mit tödlichem Ausgang.

Die Selektionen an der Rampe

Capesius gab bei seiner Vernehmung zwar zu, dass er an der Rampe (Haltepunkt der Züge) in Auschwitz-Birkenau Dienst getan hatte. Der Dienst habe jedoch nur im Abholen von Medikamenten bestanden, die dem Gepäck der dort Angekommenen routinemäßig entnommen wurden. An den Selektionen sei er niemals beteiligt gewesen, wie er ausdrücklich betonte, sondern habe sich diesem Befehl stets ver­weigert und durch andere SS-Ärzte ver­treten lassen.

Generell waren ab Frühjahr 1944 in Auschwitz alle SS-Führer der Dienststelle „SS-Standortarzt“, zu der neben den SS-Ärzten auch die SS-Apotheker und SS-Zahnärzte zählten, durch den SS-Standortarzt Eduard Wirths (1909 – 1945) verpflichtet worden, Dienst an der Rampe bei der Ankunft der mittlerweile stark gestiegenen Zahl der Häftlingstransporte zu leisten. Rampendienst bedeutete, dass der diensthabende SS-Arzt oder -Apotheker ­darüber zu entscheiden hatte, welche Personen nach ihrer Ankunft im Konzentrationslager zur sofortigen Tötung in die Gaskammer geschickt wurden. Er musste auch überwachen, dass die Hilfspersonen das Giftgaspräparat Zyklon B (s. Kasten) ordnungsgemäß in die Gaskammer einwarfen, und ihnen im eventuellen Notfall einer Gasvergiftung durch Sauerstoffbeatmung erste Hilfe leisten. Schließlich hatte er zu entscheiden, wann die Gaskammer wieder geöffnet wurde, damit die Leichen der Ermordeten dann dem Krematorium zugeführt werden konnten.

Zyklon B

Für das Blausäure (Cyanwasserstoff, HCN) enthaltende Präparat Zyklon, welches ursprünglich für die Vernichtung von Ungeziefer entwickelt wurde, bekam die Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung mbH, kurz ­Degesch genannt, 1920 ein Patent. Der geruchlose, flüssige Cyanwasserstoff ist leicht flüchtig (Siedepunkt: 25,7 °C). Eingeatmet oder über die Haut resorbiert, blockiert er die Zellatmung. Es folgt innerhalb kurzer Zeit ein qualvoller Erstickungstod. Daher war dem Zyklon der stark riechende Bromessigsäureethylester beigesetzt, der sich nach dem Öffnen der Zyklon-Dosen sofort verbreitete und vor undichten Dosen warnte.

1924 folgte ein Patent für das Nach­folgepräparat Zyklon B. Jetzt war die Blausäure auf Kieselgur als porösem Trägermaterial aufgebracht, und die Zubereitung wurde weiterhin mit einem Warnstoff in Metalldosen luftdicht konfektioniert.

Im Zweiten Weltkrieg entwickelte sich die Wehrmacht zu einem wichtigen Abnehmer des preisgünstigen Zyklon B für die Entwesung von Kasernen und anderen Massenunterkünften. Weiteren Einsatz fand das Präparat zur Entgasung verlauster Kleider.

Ab September 1941 wurde Zyklon B in Auschwitz zur systematischen Massen­ermordung von Häftlingen in Gaskammern eingesetzt. Zur Täuschung der ­Opfer wurden Zyklon-B-Chargen ohne Geruchswarnstoff eingesetzt, die eigentlich nur für die Behandlung von ­Lebensmitteln zugelassen waren.

Im Mai und Juni 1944 wurden 440.000 Juden aus Ungarn, zu dem damals auch ein großer Teil Siebenbürgens gehörte, nach Auschwitz-Birkenau transportiert. 300.000 von ihnen wurden sofort nach ihrer Ankunft in die Gaskammern geschickt und getötet. Da Ca­pesius die ungarische Sprache sicher beherrschte, hat er sich damals besonders gut für den Dienst an der Rampe geeignet, um die Ankömmlinge nach ihrem Gesundheitszustand zu befragen, so die Feststellung des Gerichts.

Capesius behauptete zwar, niemals Selektionen an der Rampe durchgeführt zu haben, aber acht Zeugen sagten während des Auschwitz-Prozesses in Frankfurt glaubhaft aus, dass sie Capesius sofort nach ihrer Ankunft in Auschwitz eindeutig erkannt hatten. Insbesondere Ärzte, die Capesius durch seine einstige Tätigkeit als Handelsvertreter kannten, identifizierten ihn. Ein Zeuge hatte Capesius zusammen mit dem berüchtigten Lagerarzt Josef Mengele (1911 – 1979) bei den ­Selektionen gesehen.

Andere Zeugen sagten aus, Capesius habe in der Lagerapotheke Geld, Schmuck, Armbanduhren und herausgebrochenes Zahngold gehortet. Demnach habe er das an der Rampe zurückgelassene Gepäck nicht nur nach Medikamenten durchsucht, wie es seine Aufgabe war, sondern auch Wertgegenstände geplündert. In der Urteilsbegründung sagten die Richter, Capesius habe sich an dem Gut der Ermordeten „in einem Umfang bereichert, der selbst in Auschwitz auffallen musste, wo auf diesem Gebiet nicht gerade gewissenhaft umgegangen wurde“.

Auch ehemalige SS-Angehörige bestätigten, dass Capesius laut Dienstplan, der in der Dienststelle des SS-Standortarztes aushing, immer wieder zum Rampendienst eingeteilt worden war.

Beteiligung an barbarischen Menschenversuchen?

Nicht weiter verfolgt hatte das Gericht den Anklagepunkt, Capesius habe „Versuche mit narkotisierenden Mitteln“ an Häftlingen unterstützt. Er soll ihnen Evipan (Wirkstoff: Hexobarbital) und Morphin zusammen mit Kaffee appliziert haben, um sie zum unkontrollierten Reden zu bringen. Mindestens zwei Testpersonen starben an ­diesen Experimenten.

Auch folgendes Verbrechen konnte dem SS-Apotheker nicht mehr sicher nachgewiesen werden: Er soll mehrfach das Phenol angefordert, verwaltet und weitergegeben hatte, das zahlreichen Häftlingen im KZ Auschwitz injiziert wurde, um sie zu töten. Im Lagerjargon hieß diese Tötungsmethode „Abspritzen“. Bei der Zeugenvernehmung hatten sich hier Widersprüche ergeben. Während ein Zeuge behauptete, dass der Standortarzt Wirths das ­Töten durch Phenolinjektionen bereits im Jahr 1943 verboten habe, nachdem jemand versehentlich auf diese Weise umgebracht worden war, sagte ein ­anderer Zeuge aus, dass dieses Verbot erst im Sommer 1944 erging; im ersten Fall wäre Capesius möglicherweise noch nicht in Auschwitz tätig gewesen.

Anfangs wurde das Phenol intravenös in den Arm injiziert. Da der Häftling dann aber erst bis zu einer Stunde später qualvoll verstarb, gingen die Mörder bald dazu über, den Opfern 10 bis 15 ml Phenol direkt in die Herzkammer zu injizieren, worauf sie sofort oder spätestens nach wenigen Minuten starben.

Gehilfe, nicht Mittäter

Letztendlich verurteilte das Frankfurter Schwurgericht Capesius als Gehilfen, nicht aber als Mittäter. Das Gericht sah es zwar als erwiesen an, dass er bei vier Selektionen, die von sieben Überlebenden während des Strafverfahrens zweifelsfrei bezeugt werden konnten, durch seine Auswahl die ­Tötung der Opfer gefördert habe. Dabei habe er „nicht widerstrebend den Rampendienst verrichtet“, sondern „die ­gegebenen Befehle bereitwillig ausgeführt“ und „die Vernichtungsaktionen ohne sittliche und moralische Hemmungen“ unterstützt. Ein direkter ­Täterwillen wurde bei ihm aber aus­geschlossen, da nicht mehr klar fest­gestellt werden konnte, dass er ein ­persönliches Interesse an dem Tod der von ihm selektierten Menschen hatte.

Leben nach der Haft

Im Januar 1968 kam Capesius nach acht Jahren Untersuchungshaft vorzeitig wieder auf freien Fuß, noch bevor das eigentliche Schwurgerichtsurteil über neun Jahre Zuchthaus im Februar 1969 als rechtskräftig bestätigt wurde.

Jetzt arbeitete er wieder in der einst von ihm eröffneten Markt-Apotheke in Göppingen, und zwar als Angestellter seiner Frau. Diese war ebenfalls Apothekerin, war 1959 von Rumänien in die Bundesrepublik übergesiedelt und hatte die Apotheke ihres Mannes übernommen. Kunden berichteten, dass beide Ungarisch miteinander sprachen, wenn sie sich etwas mitteilen wollten, was das Personal oder die Kundschaft nicht verstehen sollte.

Im März 1985 verstarb der ehemalige SS-Apotheker. |

Literatur

 [1] Gross Raphael, Renz Werner (Hrsg). Der Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963 –1965). Kommentierte Quellenedition, Band I und II. Frankfurt/M. 2013

 [2] Hayes Peter. Die Degussa im Dritten Reich – von der Zusammenarbeit zur Mittäterschaft. München 2004

 [3] Iwaszko Tadeusz, et al. Auschwitz 1940 –1945, Band II: Die Häftlinge, Existenzbedingungen, Arbeit und Tod. Oświęcim 1999

 [4] Klausing Belinda Karin. Apotheker in der SS und in den Konzentrationslagern in der Zeit des Nationalsozialismus. Diss. Heidelberg 2013

 [5] Lasik Aleksander, et al. Auschwitz 1940 –1945, Band I: Aufbau und Struktur des ­Lagers. Oświęcim 1999

 [6] Renz Werner. Der Apotheker Dr. Victor Capesius und die Selektionen in Auschwitz-Birkenau, in: Täter, Helfer, Trittbrettfahrer, Band 3: NS-Belastete aus dem östlichen Württemberg. Reutlingen 2014

 [7] Schlesak Dieter. Capesius der Auschwitz­apotheker. Bonn 2006

 [8] Steinbacher Sybille. Auschwitz, Geschichte und Nachgeschichte. München 2004

 [9] Ueberschär Gerd. Orte des Grauens – Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Darmstadt 2003

[10] Werle Gerhard, Wandres Thomas. Auschwitz vor Gericht: das Urteil gegen Dr. Victor Capesius. Göppingen 1997

Ich danke Herrn Werner Renz, Leiter des Archivs und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fritz Bauer Institut in Frankfurt am Main, für seine Unterstützung bei der Recherche.

Autor:


Dr. Walter A. Ried, Apotheker, Kronberg, E-Mail: ried.anton@web.de

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