Aus den Ländern

Gesundheitswesen im multikulturellen Lebensraum

Auch Apotheker spielen eine wichtige Rolle

Bristol war in diesem Jahr Treffpunkt für die Jahreskonferenz der National Association of Women Pharmacists (NAWP), die sich mit den Folgen der wachsenden internationalen Bevölkerung in England für das Gesundheitswesen befasste.

Sehr zu Recht ist diese bunte Hafen-, Handels- und Universitätsstadt im Westen Englands an der Flussmündung des Avon als Konferenzort gewählt worden, wie Dr. Christine E. ­Hine, Ärztin im öffentlichen Gesundheitswesen der Bristol Stadtverwaltung, zeigte. Bristols Bevölkerung wächst stetig (2013: circa 340.000 Menschen, 11% Bevölkerungswachstum im Zeitraum 2001 bis 2011) und wird immer jünger. Bei auffallend vielen unterschiedlichen Ethnien werden in Bristol 26 verschiedene Sprachen gesprochen: Polnisch, Somalisch und Indische Sprachen sind die vorherrschenden nicht-englischen Muttersprachen.

Wohnort entscheidet über gute Gesundheit

Untersuchungen zur Verteilung von Lebensrisiken zeigen je nach Wohnviertel verblüffende Unterschiede in der Lebenserwartung, im Risiko einer Krankenhauseinweisung aufgrund von Alkoholgenuss oder körperlicher Gewalt, im Anteil an sportlichen Tätigkeiten, an Rauchern und übergewichtigen Menschen. So beträgt die Lebenserwartung für Frauen in Southmead 78 Jahre, im benachbarten Henleaze 89 Jahre, die Sterblichkeitsrate vor Erreichen von 75 Jahren aufgrund von Atemwegserkrankungen beträgt in Southmead 79%, im Vergleich dazu in Henleaze 7%. Ähnliche Unterschiede wurden gefunden in der Akzeptanz von Vorsorgemaßnahmen wie HPV-Impfungen von Mädchen.

Was können Apothekerinnen und Apotheker tun? Gerade für die multikulturelle Bevölkerung sollten zum Beispiel Gelatine-freie Darreichungsformen, Beschriftung von Medikamenten in der Muttersprache ebenso zum Angebot gehören wie Kampagnen zu Vorsorgemaßnahmen wie HPV-Impfungen und Gewichtsmanagementprogramme.

„Ich bin immun gegen Erkrankungen im Heimatland“

Einem weiteren bedenkenswertem Aspekt der multikulturellen Gesellschaft widmete sich Derek Evans (Apotheker, Spezialist für Reisemedizin): Versorgung für Urlauber, die in ihren Ursprungsländern Familien und Freunde besuchen (TVR = Travellers visiting friends and relatives). Besonders gefährdet sind ältere Personen und Kinder. Durchfallerkrankungen z. B. durch kontaminiertes Wasser und Malaria sind besonders häufig. Der oft gehörte Satz: „Ich habe doch hier gewohnt, deshalb brauche ich keine Vorsorge zu betreiben“ ist spätestens sechs Monate nach Verlassen des Ursprungsland eine falsche Aussage. Der Referent ermunterte dazu, die Chance wahrzunehmen diese Kunden gut zu beraten. Fragen und Vorschläge zu Maßnahmen bezüglich des vollständigen Impfschutzes, der richtigen Malariaprophylaxe, einer guten Hygiene und einer guten Durchfallmedikation zeigen die Kompetenz des Berufsstandes.

Einfluss von Religion und Tradition auf die Gesundheit

Dr. Geetha Subramanian, Gynäkologin aus London, die als junge Ärztin aus Indien nach Großbritannien immigrierte, befasste sich mit dem Einfluss von Religion und Tradition auf die Gesundheit von Frauen. Wie eng miteinander verwoben Religion und Tradition mit dem gesundheitlichen Befinden sein können, zeigt sich in Indien, wo Ärzte und Apotheker immer auch Priester waren. Alte Traditionen sind meist auf eine Religion übertragen worden, haben aber in der Religion keinen Ursprung. Das schlimmste Beispiel hierfür ist die weibliche Beschneidung. Die persönlichen Verpflichtungen der immigrierten Frauen gegenüber ererbten, jahrtausendalten Traditionen sind stark. Dies sollten die beratenden Fachkräfte respektieren und sich selbst klarmachen.

Die weibliche Beschneidung - eine grausame alte Tradition

Dr. Greetha Subramanian ging ausführlich auf die weibliche Beschneidung ein, die diesbezügliche Situation in Großbritannien und die gesundheitlichen Folgen. Großbritannien hat einen hohen Anteil an Migranten aus Zentralafrika, dem Gebiet in dem die weibliche Beschneidung zum Alltag gehört. So kommt eine Untersuchung von Professor Alison Macfarlane und Efau Dorkenoo zu dem Schluss, dass in England und Wales bei ca. 65.000 Mädchen und jungen Frauen mit dem Risiko der Beschneidung gerechnet werden muss. Und das obwohl diese Verstümmelung ausdrücklich von der WHO geächtet wird, es eine eindeutige Verurteilung von bedeutenden Islamwissenschaftlern gibt, und in den westlichen Staaten dieses Verfahren mit einer hohen Strafe (in Großbritannien bis zu 14 Jahren Freiheitsentzug) geahndet wird, egal wo die ­Beschneidung stattgefunden hat. In den letzten Jahren hat die Zahl der Frauen, die aus diesem Grunde gynäkologische Hilfe in Anspruch nahmen, in Großbritannien zugenommen.

Informationen zur weiblichen Beschneidung finden Sie auf den folgenden Homepages:

www.frauenrechte.de ­(Organisation Terres des Femmes)

www.target-nehberg.de

Es gibt vier Varianten der weib­lichen Beschneidung:

  • I: Entfernung der Vorhaut der Klitoris, teilweise inklusive der Klitoris
  • II: zusätzliche Entfernung der äußeren Schamlippen
  • III: zusätzliche Entfernung der inneren Schamlippen, danach ­zunähen der Scheide bis auf eine kleine Öffnung
  • IV: alle anderen Verletzungen des Vaginalbereiches, die nicht medizinisch begründet sind

Die Beschneidung wird ohne Betäubung durchgeführt. Nach der Behandlung werden für mehrere Wochen bis zur Abheilung die Beine zusammengebunden. Auch wenn die Maßnahme von Frauen initiiert und durchgeführt wird, sind die Männer mit verantwortlich. Eine unbeschnittene Frau gilt in diesen Ländern als nicht heiratsfähig. Die Begründungen für die Beschneidungen sind nach westlichen Vorstellungen abenteuerlich. So wird z. B. behauptet, dass die unbeschnittene Klitoris zu einem Penis auswachsen kann. Die Fertilität soll erhöht sein und dem Mann verspricht man einen gesteigerten Lustgewinn. Auch ökonomische Gründe spielen eine Rolle, da eine beschnittene Braut mehr wert ist. Religiös wird diese Methode mit der Unreinheit des weiblichen Schambereiches begründet. Fatalerweise gelten diese Gründe auch oder erst recht in einem liberalen Land. Der eigentliche Grund ist der Erhalt der vorehelichen Jungfräulichkeit. Die Folgen sind fatal. Die Mädchen – die meisten Beschneidungen werden im Alter von vier bis zehn Jahren durchgeführt – sind durch diese Behandlung traumatisiert, fügt doch eine Vertrauensperson Schmerzen zu. Medizinische Komplikationen unmittelbar bei der Beschneidung sind u. a. Schockzustände durch die starken Schmerzen, starke Blutungen bis zum Verbluten, Infektionen oder Harnverhalt. Langzeitfolgen können Zerstörung der äußeren Geschlechtsorgane, ständige Schmerzen, Infektionen, verlängerte und schmerzhafte Menstruation, verlängerte Miktionszeiten oder Komplikationen bei Geburten bzw. erhöhte Todesraten bei Mutter und Kind sein.

Subramanian riet zu höchster Aufmerksamkeit bei Migrantinnen aus den Ländern, in denen Beschneidungen üblich sind. Besonders gefährdet sind Mädchen im Grundschulalter, deren Mütter und Großmütter beschnitten sind. Längere Reisen in die Ursprungsländer sollten hinterfragt werden. Es sollte möglichst schnell an professionelle Hilfe verwiesen werden, damit sinnvolle Aufklärung geleistet ­werden kann. |

Ulla Holtkamp

Antonie Marqwardt

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