DAZ aktuell

Heilberufler als „Dealer“?

Ein Gastkommentar von G. Schulze

Gerhard Schulze, geb. 1944, ist Professor für Soziologie an der Universität Bamberg. Seine Arbeiten untersuchen den kulturellen Wandel der Gegenwart.

Eines der großen pharmaziebezogenen Themen der letzten Jahre ist die Palliativmedizin. Was in diesem Bereich pharmazeutisch möglich ist, wird offenbar viel zu selten ausgeschöpft. Jedenfalls ist dies mein Eindruck, nachdem ich mit dem Fall einer alten Dame in meiner Verwandtschaft konfrontiert war, über den ich inzwischen mit einigen Experten geredet habe. Ihr Urteil: Das Therapiedesign sei suboptimal gewesen und der unter den gegebenen Umständen beste Weg zu spät eingeschlagen worden. Sie verwiesen auf das WHO-Stufenschema der Schmerztherapie, das die fachlichen Anforderungen des Themas ahnen lässt.

Angesichts der jeden Laien überfordernden pharmazeutischen Komplexität einerseits und der Leidensgeschichte andererseits, deren Zeuge ich wurde, irritiert die Art und Weise, wie die Medien mit dem Thema umgehen. „Vom Arzt zum Dealer“ ist beispielsweise ein Artikel in der FAZ vom 22. Januar überschrieben. Es geht darin um die opiatgestützte Schmerztherapie. Das WHO-Stufenschema, in dem Opioide einen festen Platz haben, wird hier nicht einmal erwähnt. Stattdessen wird das Tun der „abhängigen“ Patienten und ihrer „Drogendealer“ – gemeint sind Arzt und Apotheker – als „unethisch“ angeprangert.

Von den durch Unkenntnis verpassten Chancen einer qualitativ hochwertigen Palliativmedizin ist in der öffentlichen Diskussion kaum die Rede. Wenn es zu dieser Frage überhaupt Untersuchungen gibt, hört man als Laie nichts davon. Pharmazeutischer Sachverstand ist in der Publizistik selten anzutreffen, und so geht es in den einschlägigen Texten zum Thema Palliativmedizin vor allem um ethische Überlegungen.

Ethik zuerst – das ist die Devise, ob es nun um Klimaschutz, Energiewende oder um die Palliativmedizin geht. Aber ethische Spontanüberzeugungen führen schnell in Widersprüche. Einerseits soll die Palliativmedizin Menschen davon abhalten, bei unerträglichen Schmerzen den Freitod zu suchen. Hier besteht die ethische Überlegung darin, dass jeder Mensch, sei er auch noch so leidend, so lange wie möglich am Leben gehalten werden soll. Auf der anderen Seite wird entgegen aller Aufklärungsbemühungen suggeriert, dass die opiatgestützte Schmerztherapie abhängig machen kann. Selbst wenn dem so wäre, bleibt dennoch zu fragen, ob das in Extremsituationen überhaupt eine Rolle spielen darf. Soll der Patient Schmerzen bis zum bitteren Ende aushalten, um nur ja nicht abhängig zu werden?

Über Ethik glaubt jeder ohne großes Vorwissen reden zu können, gewissermaßen aus dem Bauch heraus. Nun hat aber die moderne Opiattherapie keine euphorisierende Wirkung. Die Warnung vor Abhängigkeit spiegelt Ignoranz, wenn nicht Bigotterie. Ethik ja, aber bitte komplex genug: mit Sachverstand und Empathie!

Der Heilberufler vor Ort dürfte mit einem resignierten Schulterzucken reagieren. „Lass sie doch schreiben“, könnte er sich denken, „mit der Wirklichkeit hat das nichts tun. Wir helfen, so gut es geht, und müssen uns dabei oft auf einen Grenzgang begeben. Schmerzpatienten leiden, und es ist viel wert, wenigstens die Schmerzen lindern zu können. Wer das so zu sehen gelernt hat, setzt Opioide nicht auf die Tabuliste.“

Doch solange das Hochamt der vierten Gewalt vor dem Risiko einer Medikamentenabhängigkeit warnt, werden anerkannte Maßnahmen der Palliativmedizin diskreditiert. Wenn Patienten deshalb leiden müssen, wird daraus Unmoral im Namen der Ethik. Benötigt werden Anwälte für den absoluten Vorrang der Schmerzbekämpfung. Diese Priorität gilt meines Erachtens keineswegs nur für die Sterbesituation. Schon lange vor dem Ende des Lebens können bei älteren Menschen chronische Schmerzen auftreten, deren Ursachen nicht mehr behandelbar sind.

Was sagen die Apotheker zu all dem? Was sagt die ABDA? Der künftige Pressesprecher Dr. Reiner Kern ist als Politikwissenschaftler nicht für Palliativmedizin zuständig, wohl aber für die öffentliche Diskussion darüber. Er kann Expertenvernunft mobilisieren, öffentlich machen und Unvernunft angreifen. Die ABDA könnte zu einer weithin beachteten und respektierten Instanz in der Öffentlichkeit werden – zur Stimme der Apotheker in kontrovers diskutierten heilberuflichen Fragen. Davon ist sie weit entfernt. Die stellvertretende Pressesprecherin, Apothekerin Ursula Sellerberg, gibt auf der ABDA-Homepage Tipps für die Zusammenstellung der Reiseapotheke.

Die ABDA überlässt ahnungslosen, vor allem von sich selbst überzeugten Moralpredigern das öffentliche Feld und die Meinungsführerschaft in brisanten Diskursen, die auf dringend pharmazeutische Sachkenntnis angewiesen sind. 

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.