Naturheilmittel

Hoch geschätzt und doch unterschätzt

Naturheilmittel aus Verbrauchersicht

Von Cosima Bauer und Uwe May | Naturheilmittel entsprechen dem Zeitgeist und werden vor allem in der Apotheke gekauft. Was genau aber gehört aus Verbrauchersicht zu diesem Marktsegment und warum werden die Mittel so sehr geschätzt? Aufbauend auf einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung wurde der Markt der Naturheilmittel in der vorliegenden Studie erstmals exakt erfasst und in seiner Bedeutung für die Gesundheitsversorgung und die gesamte Volkswirtschaft dargestellt.

Die Anwendung von Naturheilmitteln gehört medizinhistorisch betrachtet zu den Urformen jeglichen Versuchs des Menschen, sein gesundheitliches Wohlbefinden zu verbessern bzw. Erkrankungen zu lindern oder zu heilen. Viele dieser ursprünglichen Naturheilmittel haben bis heute ihre therapeutische Berechtigung behalten oder sogar ausgebaut. Dabei sind neben die hierzulande traditionell gebräuchlichen Mittel im Zuge der Globalisierung auch zunehmend Naturheilmittel getreten, die ihren Ursprung in anderen Kulturkreisen haben.

Gerade im deutschsprachigen Raum sind der Zuspruch und das Vertrauen der Bevölkerung in Naturheilmittel besonders groß. Dies spiegelt sich in der Bekanntheit und breiten Verwendung vieler Naturheilmittel in der Bevölkerung wider. Damit einhergehend finden viele Naturheilmittel fachkundige Akzeptanz und somit Eingang in die Therapie durch Angehörige der Heilberufe. Die Beliebtheit von Naturheilmitteln in der Bevölkerung und deren positive Bewertung durch Fachleute haben wiederum Resonanz in Politik und Gesetzgebung gefunden, indem bestimmte Formen von Naturheilmitteln, namentlich z.B. Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen (beispielsweise Homöopathika und Phytopharmaka), einen besonderen Stellenwert genießen. Dies kommt etwa dadurch zum Ausdruck, dass benannte Therapeutika unter bestimmten Bedingungen GKV-erstattungsfähig sind.

Grafik: © DAZ/Hammelehle; Fotos: M. Schuppich – Fotolia.com

Verschiedene repräsentative Umfragen in der Bevölkerung und in den Fachkreisen dokumentieren, dass dieser Zuspruch und die Akzeptanz der Naturheilmittel im Verlauf der zurückliegenden Jahrzehnte deutlich zugelegt haben und bis heute weiter steigen. Vor dem Hintergrund der skizzierten Bedeutung ist bemerkenswert, dass es bis heute weder eine herrschende Lehrmeinung noch eine einheitliche Sichtweise oder gar eine Legaldefinition zum Begriff der Naturheilmittel gibt.

Unstrittig ist, dass Naturheilmittel innerhalb verschiedener z.T. gesetzlich definierter Kategorien von Produkten vorkommen. Hierzu gehören Arzneimittel, Lebensmittel, Medizinprodukte, Kosmetika, Nahrungsergänzungsmittel und Diätetika. Die von Experten vorgenommene Segmentierung des Markts in solche Produktkategorien oder die weitergehende Differenzierung etwa im Arzneimittelbereich nach dem Rechtsstatus in z.B. freiverkäufliche versus apothekenpflichtige, rezeptpflichtige versus rezeptfreie Präparate oder in (GKV-)erstattungsfähige versus Selbstzahler-Präparate, entspricht dabei nicht der Sichtweise der Verbraucher. Gleiches gilt für das Festmachen des Naturheilmittelangebots an bestimmten Vertriebskanälen.

Hieraus ergeben sich konkrete Fragestellungen, die einerseits die Kundensicht des relevanten Markts und darauf aufbauend den volkswirtschaftlichen Stellenwert der Naturheilmittel betreffen. Bezüglich des erstgenannten Aspekts ist hier allen voran die Frage von Interesse, welche Produkte und eventuell auch Dienstleistungen die Bevölkerung und im Speziellen die Verwender unter dem Begriff Naturheilmittel subsumieren und wo sie Grenzziehungen zu anderen Segmenten vornehmen. In diesem Zusammenhang ist auch relevant, wo und in welchem Kontext Naturheilmittel gekauft werden und mit welcher Motivation dies erfolgt.

Um einen Blick durch die „Brille der Verbraucher“ auf den Markt zu bekommen, wurde im Rahmen des hier beschriebenen Studienprojekts im November 2013 in Zusammenarbeit mit dem Marktforschungsinstitut TNS Infratest eine repräsentative Befragung der Bevölkerung durchgeführt. Insbesondere auf der Basis dieser demoskopischen Studie wurde eine Betrachtung der volkswirtschaftlichen Bedeutung des Naturheilmittel-Sektors durchgeführt.

Naturheilmittel aus Sicht der Bevölkerung

Die durchgeführte Befragung ist repräsentativ für die erwachsene Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland. Es wurden 1006 Interviews realisiert, die die Basis für die vorliegende Auswertung bilden. Die zehnminütigen Interviews wurden von dem beauftragten Marktforschungsinstitut TNS Infratest zwischen dem 20. und dem 22. November 2013 im Rahmen des sogenannten CATI-Omnibus (Computer Aided Telephone Interview) geführt. Die Interviews umfassten jeweils 15 Fragen, z.T. mit Unterfragen zu verschiedenen Aspekten. Abbildung 1 zeigt als Beispiel die Antworten der Bevölkerung auf die Fragen „Warum haben Sie sich für Naturheilmittel entschieden?“ und „Welche Eigenschaften angebotener Mittel sprechen aus Ihrer Sicht für eine gute Qualität des Produktes?“Auch bei der Frage nach den möglichen Kauforten gibt es ein breites Antwortspektrum. Es dominieren Apotheken (96%), Reformhäuser (89%), Natur- und Bioläden (88%), Drogeriemärkte (87%) und das Internet (84%). Aber auch in Wellnesseinrichtungen (50%) oder im Kosmetikstudio (28%) werden die Befragten fündig.

Abb. 1: Gründe für Naturheilmittel. Die Antworten der Bevölkerung auf die Fragen: „Warum haben Sie sich für Naturheilmittel entschieden?“ und „Welche Eigenschaften angebotener Mittel sprechen aus Ihrer Sicht für eine gute Qualität des Produktes?“

Gestützt nach Kategorien innerhalb von Naturheilmitteln gefragt, nannten die Befragten vor allem pflanzliche Arzneimittel und Hausmittel, aber auch Gesundheitstees, -bäder und Homöopathika. Naturheilmittel lassen sich also nicht auf eine einfache Formel reduzieren. Ein Großteil der Befragten (86%) hat bereits Erfahrungen mit Naturheilmitteln gesammelt. Drei von vier Befragten sehen in Naturheilmitteln die Chance, dadurch gegebenenfalls den Einsatz von (chemischen) Medikamenten oder den Arztbesuch zu vermeiden.

Interessant aus Apothekersicht ist, dass aus einer längeren Liste von Vertriebsorten, die den Befragten vorgelesen wurde, fast alle Befragten (96%) angaben, dass man Naturheilmittel in der Apotheke kaufen kann. Etwas abgestuft dahinter lagen Reformhäuser, Natur- und Bioläden sowie Drogerien und Drogeriemärkte mit jeweils 87 bis 89 Prozent und damit untereinander fast gleichbedeutend.

Volkswirtschaftliche Einordnung des Naturheilmittelmarkts

Hinsichtlich der Produktgruppen, die dem Bereich der Naturheilmittel (aus Sicht der Verbraucher) zuzuordnen sind, liefert die oben beschriebene Bevölkerungsbefragung zentrale Erkenntnisse. Ebenso wie Experten fassen die Verbraucher demnach den Naturheilmittel-Begriff grundsätzlich sehr weit. Abbildung 2 gibt hierzu einen Überblick.Ausgehend von der Abgrenzung der Produktgruppen und wiederum Bezug nehmend auf die Ergebnisse der Bevölkerungsbefragung stellt die Abbildung auf der ersten Seite dieses Beitrags die Akteure im Naturheilmittel-Markt dar. Erfasst sind von der Erzeuger- bis zur Anwenderebene des Naturheilmittel-Markts alle mittelbar oder unmittelbar hieran wirtschaftlich partizipierenden oder betroffenen Marktteilnehmer. Auf dieser Basis wurden im Rahmen der vorliegenden Untersuchung mehr als 100.000 Arbeitsplätze ermittelt, die dem Naturheilmittelmarkt in Deutschland zuzurechnen sind. Dabei nimmt in dieser Abbildung die wirtschaftliche Betroffenheit der Akteure von innen nach außen ab.

Abb. 2: Naturheilmittel: Produktgruppen, die unter den Begriff Naturheilmittel fallen.

Der Naturheilmittel-Markt in Deutschland wurde im Rahmen der Untersuchung volkswirtschaftlich quantifiziert mit dem Ziel, soweit möglich, die Beiträge zum Bruttoinlandsprodukt der einzelnen Wirtschaftssubjekte in dem Kernbereich sowie den jeweiligen Randsektoren zu erfassen. Limitiert wird dieser Ansatz einerseits durch die unscharfe Abgrenzung des Naturheilmittel-Sektors gegenüber angrenzenden Produktgruppen. Zum anderen ist die begrenzte Verfügbarkeit veröffentlichter Daten zu berücksichtigen, die sich auf das entsprechend abgegrenzte Naturheilmittel-Marktsegment beziehen. Vor dem Hintergrund beider Limitationen und aufbauend auf dem bisherigen Erkenntnisgewinn ergibt sich eine statistische Erfassung des Naturheilmittel-Markts nach Umsatzwerten, dargestellt in Abbildung 3.Der Gesamtmarkt der Naturheilmittel beläuft sich nach einer konservativen Kalkulation auf ein Umsatzvolumen von 3,3 Milliarden Euro zu Endverbraucherpreisen pro Jahr. Die Apotheke als Vertriebskanal profitiert hier in besonderem Maße, wie die Tabelle illustriert.

Abb. 3: Naturheilmittel-Markt: Statistische Erfassung des Naturheilmittel-Markts nach Umsatzwerten. Erschwert wird dies durch die unscharfe Abgrenzung zu angrenzenden Produktgruppen und eine begrenzte Verfügbarkeit veröffentlichter Daten.

Der Markt der rezeptfreien pflanzlichen und homöopathischen Arzneimittel in Apotheken erwirtschaftet rund 1,7 Milliarden Euro pro Jahr. Damit ist bezogen auf den Umsatzanteil knapp ein Drittel des gesamten rezeptfreien Apothekenmarkts (OTC und OTX-Markt) diesen besonderen Therapierichtungen zuzurechnen. Der Vergleich mit dem obengenannten Volumen des Naturheilmittel-Markts zeigt dabei aber auch explizit das enorme Potenzial der Naturmedizin insgesamt für die Apotheke: So ist der gesamte Umsatz mit Naturheilmitteln fast doppelt so hoch wie der Apothekenumsatz mit pflanzlichen und homöopathischen Arzneien.

Die Hersteller von Naturheilmitteln sind häufig mittelständische Familienunternehmen. Standortpolitisch hat der Naturheilmittel-Markt für Deutschland daher eine hohe Bedeutung: Mehr als ein Drittel des europäischen Markts für pflanzliche Arzneimittel und fast ein Viertel des Weltmarktumsatzes mit Homöopathika entfällt auf Deutschland, das somit auch als „Naturapotheke der Welt“ gelten kann. In diesem Zusammenhang zeigte sich in der vorliegenden Studie auch, dass die deutsche Bevölkerung bei Naturheilmitteln dem Label „Made in Germany“ eine besondere Güte beimisst.

Letztlich sei darauf verwiesen, dass Naturheilmittel als Teil der Selbstmedikation einen nicht unerheblichen Beitrag zur Rationalisierung innerhalb des GKV-Systems leisten. Umfangreiche Untersuchungen im Hinblick auf die gesundheitsökonomische Wertschöpfung von Selbstmedikation seit dem Jahre 2000 (zuletzt eine Analyse für Österreich) zeigen, dass Selbstmedikation und damit auch die Anwendung von Naturheilmitteln eine nachhaltige Finanzierung des Gesundheitssystems fördern. Es hat sich herausgestellt, dass Selbstmedikation mit pflanzlichen und homöopathischen Arzneimitteln in Apotheken Einsparungen für das Gesundheitssystem bewirkt, indem ein gegebenenfalls ineffizienter Einsatz von Medikamenten sowie medizinisch nicht notwendige Arztbesuche vermieden werden können. Vor dem Hintergrund von täglich mehr als zwei Millionen Selbstmedikationsfällen in deutschen Apotheken ist davon auszugehen, dass diese im OTC-Sektor insgesamt, nicht zuletzt aber auch im Bereich der Naturmedizin einen wichtigen Beitrag zum effizienten Einsatz begrenzt verfügbarer Gesundheitsressourcen leisten.

Fazit

Naturheilmittel sind in Deutschland traditionell weit verbreitet und erfreuen sich einer großen und steigenden Beliebtheit. Rechtlich sind Naturheilmittel, soweit es sich um Fertigprodukte handelt, den gesetzlichen Kategorien Arzneimittel, Medizinprodukte oder Lebensmittel zuzuordnen. Sie sind auch sozialrechtlich relevant, da sie gegebenenfalls als Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen unter bestimmten Bedingungen GKV-erstattungsfähig sind. Sie werden zudem von vielen Ärzten auf dem sogenannten Grünen Rezept zu finanziellen Lasten der Patienten verordnet, es dominiert jedoch die Selbstmedikation. In der Wertschöpfungskette befindet sich eine Vielzahl von Akteuren vom Hersteller bis zum Vertrieb von Naturheilmitteln. Darüber hinaus existieren zahlreiche berufliche Anwender von Naturheilmitteln, z.B. Heilpraktiker, Homöopathen und Ärzte. Der Umsatz mit Naturheilmitteln beläuft sich, konservativ kalkuliert, auf 3,3 Milliarden Euro zu Endverbraucherpreisen pro Jahr. Der „Arbeitsmarkt Naturheilmittel“ umfasst nach einer ebenfalls konservativen Schätzung hierzulande mehr als 100.000 Arbeitsplätze. Er ist sowohl auf der Hersteller-, Vertriebs- als auf Anwenderseite sehr personalintensiv. Zudem sind besonders hochqualifizierte, häufig akademisch ausgebildete Arbeitskräfte gefragt.

Naturheilmittel bergen aus Apothekensicht ein hohes Potenzial. Dies gilt zum einen für die unmittelbare betriebswirtschaftliche Komponente in Form von Impulsen für den OTC-Markt. Zum anderen gilt es aus strategischer Sicht, dieses bedeutende Marktsegment, das heute aus Verbrauchersicht zuvorderst in der Apotheke verortet wird, dort weiter zu verankern und auszubauen. Naturheilmittel bieten dabei neue Chancen einer heilberuflichen Profilierung und Kundenbindung, nicht zuletzt in der zukunftsträchtigen Zielgruppe typischerweise jüngerer und überdurchschnittlich gebildeter Verwender. Ganz nebenbei leisten Apotheken auch mithilfe der sanften Heilkräfte aus der Natur einen nicht unwesentlichen Beitrag zu einem rationalen Mitteleinsatz im Gesundheitswesen.

Literatur

Institut für Demoskopie Allensbach: Naturheilmittel 2010. Erkenntnisse einer bevölkerungsrepräsentativen Befragung. Studie im Auftrag des BAH. Allensbach 2010.

May U, Bauer C, Wasem J. Naturheilmittel: „Vom Hidden Champion zum Weltmarktführer“: Marktabgrenzung und volkswirtschaftlicher Stellenwert von Naturheilmitteln in Deutschland; Gutachten im Auftrag der Dr. Willmar Schwabe GmbH & Co. KG, Berlin 2014.

May U, Bauer C. Der gesundheitsökonomische Stellenwert von OTC-Präparaten in Österreich. Wien 2013.

Weitere Literatur bei den Verfassern.

 

Der Beitrag fasst Ergebnisse einer breiter angelegten Untersuchung im Auftrag der Dr. Willmar Schwabe GmbH & Co. KG zum Markt der Naturheilmittel zusammen.

Autoren

Cosima Bauer, M.A. ist Politikwissenschaftlerin. Nach mehrjähriger Tätigkeit im Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller ist sie Mitbegründerin der Unternehmensberatung May und Bauer – Konzepte im Gesundheitsmarkt und gibt als Lehrbeauftragte an der Hochschule Fresenius und im Studiengang Consumer Health Care der Charité Universitätsmedizin ihre praktischen und wissenschaftlichen Erfahrungen weiter.
Kontakt: bauer@may-bauer.de
Prof. Dr. Uwe May ist Inhaber einer Professur für Gesundheitsökonomie mit Schwerpunkt Pharmakoökonomie an der Hochschule Fresenius, Mitbegründer der Unternehmensberatung May und Bauer – Konzepte im Gesundheitsmarkt und langjähriger Lehrbeauftragter im Studiengang Consumer Health Care der Charité-Universitätsmedizin Berlin. Bis 2011 war er als Abteilungsleiter im Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller für die Bereiche Gesundheitsökonomie sowie Selbstmedikation verantwortlich. Kontakt: uwe.may@hs-fresenius.de

Anschrift der Autoren:
Prof. Dr. Uwe May, Cosima Bauer, May und Bauer GbR,
Simrockstr. 4, 53619 Rheinbreitbach

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