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TK fordert „Spätbewertung“ von Arzneimitteln

TK präsentiert Innovationsreport 2014

BERLIN (ks) | Seit 2011 muss jedes in Deutschland neu eingeführte Arzneimittel seinen Zusatznutzen gegenüber bereits vorhandenen Therapien unter Beweis stellen. Dieser Regelung wird allgemein Respekt gezollt – zumal es ausgerechnet eine schwarz-gelbe Regierung war, die sich erstmals an den patentgeschützten Pharmamarkt wagte. Doch mit einer frühen Nutzenbewertung ist es nicht getan, meint die Techniker Krankenkasse (TK). Die neuen Arzneimittel müssten viel länger im Blick behalten werden. Erst in der breiten Anwendung zeigt sich schließlich, wie groß ihr Nutzen wirklich ist.


Die Erkenntnis ist nicht neu: Zum Zeitpunkt der Markteinführung ist noch nicht bekannt, welchen therapeutischen Fortschritt neue Arzneimittel im realen Versorgungsalltag darstellen. Die TK sieht dies nun in ihrem zweiten Innovationsreport bestätigt, den Wissenschaftler vom Zentrum für Sozialpolitik an der Universität Bremen erstellt haben. Prof. Dr. Gerd Glaeske und sein Team nahmen 20 Wirkstoffe, die 2011 – also im ersten AMNOG-Jahr – auf den Markt gekommen sind, unter die Lupe. Dabei zeigte sich: Für sieben dieser Wirkstoffe haben die Hersteller im Nachhinein Rote-Hand-Briefe verschickt, mit denen sie über nachträglich bekannt gewordene Risiken informierten. So gab es etwa allein zum MS-Arzneimittel Fingolimod (Gilenya®) vier Rote-Hand-Briefe.

Foto: DAZ/Sket
TK-Chef Jens Baas, AKdÄ-Vorsitzender Wolf-Dietrich Ludwig und Gerd Glaeske (v.l.) wollen Ärzten die AMNOG-Bewertungen näher bringen.

Ampelschema für neue Arzneimittel

Ohnehin erwiesen sich aus Sicht der Studienautoren nur drei der 20 Medikamente als echte Innovationen. Zur Bewertung zogen die Wissenschaftler auch Studien heran, die nach Markteinführung publiziert wurden. Überdies nutzten sie Daten der TK, um zu sehen, wie die Arzneimittel im Versorgungsalltag ankommen. Für die konkrete Bewertung nach dem Ampelschema wurden Punkte in drei Kategorien vergeben: Verfügbare Therapien (handelt es sich um eine weitere Therapieoption oder wird die medikamentöse Behandlung einer Krankheit erstmals ermöglicht?), Zusatznutzen und Kosten. Als wirklich innovativ bewertete das Glaeske-Team die Wirkstoffe Ticagrelor, Tafamidis und Abirateron – für sie leuchtet die „grüne Ampel“. Zehn weiteren Substanzen attestierte es zumindest einen begrenzt innovativen Charakter (gelb), die übrigen sieben bekamen eine „rote Ampel“ verpasst.

G-BA: Folgebewertungen sind geübte Praxis

Für Dr. Jens Baas, Vorsitzender des TK-Vorstands, zeigt dies: „Eine einmalige Bewertung neuer Arzneimittel reicht im Grunde nicht aus. Was wir brauchen, sind weitere Spätbewertungen mit Erfahrungen aus dem Versorgungsalltag, um den tatsächlichen Nutzen neuer Medikamente besser einschätzen zu können.“ G-BA-Chef Josef Hecken reagierte prompt: Eine solche Folgebewertung sei „schon längst geübte Praxis“. Wenn zum Zeitpunkt der Nutzenbewertung noch Evidenzlücken vorliegen, befriste der G-BA seine Beschlüsse schon jetzt regelhaft. Unabhängig davon habe der pharmazeutische Unternehmer bei neuer Evidenzlage ohnehin die Möglichkeit, nach einem Jahr eine weitere Bewertung eines Arzneimittels zu beantragen.

Unterschiedliche Meinungen gibt es bei G-BA und TK auch zur frühen Nutzenbewertung von Arzneimitteln des Bestandsmarktes, die der Gesetzgeber bekanntlich beendet hat. „Hier gibt es noch viele Wirkstoffe, die wir gar nicht brauchen“, sagte Prof. Dr. Wolf-Dietrich Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AKdÄ), der als wissenschaftlicher Berater seinen Beitrag zum Innovationsreport leisten durfte. Der G-BA habe bereits genau die richtigen identifiziert. Und der AKdÄ-Vorsitzende ist überzeugt, dass hier kräftig hätte gespart werden können. Im Innovationsreport verpasst Glaeske auch nicht die Gelegenheit, drei Präparate des Bestandsmarktes genauer zu betrachten: Inegy®, Targin® und Lyrica®. Wenig überraschend leuchtet für alle drei die rote Ampel. Auch künftig will er für die TK den Bestandsmarkt im Auge behalten.

Spezialkapitel zu stratifizierender Medizin

Der TK-Report enthält überdies ein Sonderkapitel zu den Potenzialen und Grenzen der stratifizierenden Medizin. Schon die geläufigere Bezeichnung „personalisierte Medizin“ sei „irreführend“, erklärte Ludwig. Maßgeschneidert seien solche Therapien nicht. Und der Patient stehe auch nicht im Mittelpunkt. Als Onkologe sieht Ludwig zwar durchaus die Chancen der stratifizierten Medizin – eine zielgerichtete Therapie ist hier zweifelsohne wünschenswert – aber der Weg dorthin müsse von seriöser wissenschaftlicher Forschung geleitet sein. Ob die jeweils gewählten Biomarker wirklich sinnvoll seien, müsse in großen prospektiven Studien erwiesen werden; validierte Tests seien dringend nötig. Doch bislang gebe es nur kleine Fortschritte, so Ludwig. Zudem räumt er ein, dass viele Ärzte ihre Patienten nicht richtig über die Bedeutung solcher Tests informierten.

Kritik an Tests aus der Apotheke

Glaeske sieht daher nicht zuletzt die in Apotheken und über das Internet rezeptfrei verkauften Diagnostiktests kritisch. Das erklärte Ziel solcher Tests ist, die Arzneimittelsicherheit und -wirksamkeit zu erhöhen. Doch Glaeske ist überzeugt, hier werde ein positiver Eindruck vermittelt, der sich nicht halten lässt. Auch er vermisst aussagekräftige prospektive Studien zu diesen Tests, die patientenrelevante Endpunkte untersuchen. Zudem sei das Zusammenspiel von Genen, Umwelteinflüssen und Arzneimitteln noch nicht ausreichend untersucht. Einen routinemäßigen Einsatz dieser Tests kann er daher ganz und gar nicht empfehlen. Statt etwa die Therapiesicherheit einer Antibabypille zu überprüfen, sollten Frauen lieber gleich auf die sichereren Pillen der zweiten Generation zurückgreifen.

Baas hofft nun, dass viele Ärzte den Innovationsreport zu Rate ziehen werden, um sich unabhängig über neue Arzneimittel zu informieren. Die Kasse will ihnen dazu auf Wunsch auch einen individuellen Verordnungsreport zukommen lassen. Dieser zeige an, ob sie das neue Präparat tatsächlich bei solchen Erkrankungen verordnet haben, bei denen sie tatsächlich ihren Zusatznutzen aufzeigen können. Sanktionieren kann und will die TK Ärzte nicht, wenn sie „falsch“ verordnen – sie will aber ein Bewusstsein schaffen. Auch Ludwig legt seinen Kollegen und Kolleginnen den Report – ebenso wie andere unabhängige Informationsquellen zu Arzneimitteln – ans Herz. Er versteht nicht, warum sie bislang noch immer lieber „Hochglanzbroschüren“ der Industrie lesen, die lediglich „desinformieren“.

Kritik am TK-Report übte der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa). Das Grob-Bewertungssystem für Medikamente in Gestalt von Ampeln sei „ungeeignet, um die besonderen

Eigenschaften und Vorzüge neuerer Medikamente so zu erfassen, dass Ärzte und Patienten damit bessere Verordnungsentscheidungen treffen können“, erklärte Hauptgeschäftsführerin Birgit Fischer. Das zeige sich schon daran, dass von mehreren Medikamenten, die ein neues Therapieprinzip etablieren, stets nur eins als neue Therapieoption bewertet werde, die anderen aber nicht. Ein Arzt, so Fischer, würde hingegen unter diesen Mitteln das jeweils bestgeeignete für den Patienten auswählen – für die TK anscheinend unerwünscht. 

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