Aus den Ländern

Demenz – wi(e)der das Vergessen

Viele kleine Schritte verbessern die Therapie – der Durchbruch steht noch aus

MARBURG | Demenz – diese Diagnose löst bei den Betroffenen und ihren Angehörigen Gefühle wie Hilflosigkeit und Angst aus. Wie kann patientenorientierte Pharmazie bei Demenzerkrankungen aussehen? Welche Hilfestellungen kann die Apotheke den Patienten und Angehörigen anbieten? Solche Fragen standen im Fokus der 22. Jahrestagung der Fachgruppe „Christen in der Pharmazie“ am 21. bis 23. März in Marburg.

In Deutschland schätzt man 1,4 Millionen Demenzkranke. Die Krankheit dauert fünf bis zehn Jahre, die durchschnittlichen Gesamtkosten pro Patient und Jahr betragen 43.000 €. Wegen der Folgen für die Sozialversicherungssysteme ist die Politik alarmiert. „Diese Krankheit stiehlt Leben, bricht Herzen und zerstört Familien“, so der britische Premierminister David Cameron im Dezember 2013 auf dem G-8-Gipfel. Dort wurde eine stärkere Finanzierung der Forschung beschlossen, um bis zum Jahr 2025 eine wirksame Therapie zu haben.

Demenzformen und Scheindemenzen

Foto: Claudia Gehrhardt
Prof. Dr. Carsten Culmsee

Charakterisiert ist Demenz nicht nur durch die sprichwörtliche „Vergesslichkeit“, sondern auch durch die deutliche Abnahme weiterer kognitiver Fähigkeiten, wie Urteilsvermögen und Verarbeitung neuer Informationen. Eine Demenz liegt dann vor, wenn diese Störungen der Hirnfunktionen länger als sechs Monate andauern und nicht durch eine andere Erkrankung, wie z.B. eine Depression, begründet sind. Außenstehende bemerken den Verlust von Handfertigkeiten, Sprachstörungen oder Schwierigkeiten beim Rechnen, also auch beim Bezahlen – nicht immer sind die Augen schuld, wenn ein Kunde das Geld nicht abzählen kann.

Über die medikamentöse Therapie der Demenz referierte Prof. Dr. Carsten Culmsee, Professor für Klinische Pharmazie an der Universität Marburg. Culmsee relativierte die Angst vor einem bevorstehenden massiven Anstieg der Alzheimer-Erkrankungen infolge der demografischen Entwicklung hin zu einer stetig älter werdenden Gesellschaft, denn die älteren Menschen seien heute gesünder und aktiver als früher. Daher werde die Anstiegskurve deutlich flacher verlaufen als vielfach prognostiziert.

Der Lebensstil hat in aller Regel einen größeren Einfluss auf das Erkrankungsrisiko als eine eventuelle genetische Disposition. Lediglich bei seltenen genetischen Veränderungen kommt es unvermeidlich zur Frühform der Demenz im Alter von 40 bis 45 Jahren. Manche Scheindemenz ist durch einen Vitaminmangel oder eine Dehydratation bedingt und lässt sich durch eine Supplementierung bzw. durch vermehrtes Trinken oder notfalls eine Infusion beheben.

Eindrucksvoll zeigte Culmsee die problematischen Folgen einer Polymedikation am konkreten Beispiel eines Patienten, der 13 Medikamente erhielt. Dazu zitierte er: „Die erfolgreichste Methode, um eine Abnahme der unerwünschten Arzneimittelwirkungen herbeizuführen, besteht in der kritischen Durchsicht aller Verordnungen und dem Absetzen aller nicht unbedingt notwendigen Verordnungen. Durch Polymedikation kann ein voll funktionsfähiger Mensch zu einem verwirrten, inkontinenten, bettlägerigen Patienten werden.“ (Royal College of Surgeons, 1984). Einige Psychopharmaka können die kognitiven Fähigkeiten verschlechtern. Digoxin oder hohe Dosen Ibuprofen können eine Pseudodepression verstärken.

Bei den häufigsten Demenzerkrankungen – Alzheimer-Demenz, Lewy-Körper-Demenz und vaskuläre Demenz – ist keine Heilung, sondern allenfalls eine Linderung der Symptomatik möglich. Während die Alzheimer-Krankheit mit einer stetigen Verschlechterung der kognitiven Fähigkeiten einhergeht, können bei der Lewy-Körper-Demenz starke Schwankungen und bei der vaskulären Demenz längere Plateauphasen auftreten.

Antidementiva

Foto: Claudia Gehrhardt
Ginkgoblätter wirken leider nur sehr begrenzt gegen die Alzheimer-Demenz.

Zur Arzneitherapie von Alzheimerpatienten stehen lediglich drei Wirkstoffgruppen – Acetylcholinesterasehemmer, Memantine und mit Abstrichen Ginkgopräparate – zur Verfügung. Die Acetylcholinesterasehemmer Rivastigmin, Galantamin und Donepezil bremsen den Verlust acetylcholinerger Neuronen im Gehirn. Da sie auch die Aktivität des Parasympathikus steigern, können sie beträchtliche Nebenwirkungen verursachen. Herzarrhythmien, Magen-Darm-Ulzera, COPD oder Epilepsie sind daher wichtige Kontraindikationen dieser Wirkstoffe.

Memantin ist ein Antagonist des glutamatergen NMDA-Rezeptors. Es soll bei Alzheimerpatienten im mittleren und fortgeschrittenen Stadium die Überaktivierung der glutamatgesteuerten Neuronen durch die (toxisch) erhöhten Glutamatspiegel (das erhöhte „Grundrauschen“) beenden, die Calciumhomöostase der Neuronen wiederherstellen und ihre Funktion wieder normalisieren. Zudem wirkt es indirekt dopaminerg und anticholinerg. Da Memantin zu erhöhter Unruhe führt, sollte die Einnahme nicht nach 16 Uhr erfolgen. Engwinkelglaukom, Niereninsuffizienz, Prostatahyperplasie und Herzinsuffizienz sind wichtige Kontraindikationen. Ferner kann Memantin Psychosen auslösen.

Ginkgo-biloba-Extrakte wirken allenfalls moderat bei leichter bis mittlerer Demenz. Für Ginkgo sprechen die niedrigeren Kosten und die gute Verträglichkeit. Die beschriebenen Nebenwirkungen und mögliche Wechselwirkungen von Ginkgopräparaten sind zumeist klinisch nicht relevant; erhöhte Aufmerksamkeit ist geboten bei gleichzeitiger Einnahme von blutgerinnungshemmenden Wirkstoffen sowie zentral dämpfenden Pharmaka.

Alle drei therapeutischen Gruppen können das Fortschreiten der Alzheimer-Demenz bestenfalls um mehrere Monate – im Mittel ein halbes Jahr – verzögern, aber nicht aufhalten. Daher riet Culmsee, nach längerer Therapie und beim Auftreten von starken Nebenwirkungen den Nutzen gegen die Nachteile abzuwägen und die Medikamente gegebenenfalls wieder abzusetzen.

Foto: Rebekka Kreisel
Die Uhr lässt sich nicht zurückdrehen. Das zerstörte Uhrwerk ist irreparabel.

Aktuelle Forschungen zur Alzheimer-Demenz

Ausgehend von den Mechanismen der Neurodegeneration und der Neuroprotektion, berichtete Culmsee über verschiedene Ansätze der Alzheimer-Demenz-Forschung. Leider habe sie bislang nicht zu einer erfolgreichen Arzneitherapie geführt. Die Pharmaforschung befinde sich in einem „Tal der Tränen“, und manche Firma habe das Scheitern eines von ihr entwickelten Wirkstoffs in der klinischen Prüfung nicht überlebt.

So hatte man versucht, die Aktivität verschiedener Sekretasen zu beeinflussen, um dadurch die Bildung des toxischen Amyloid-beta (Aβ) zu vermindern. Auch aktive und passive Immunisierungen mit Aβ-Antikörpern wurden untersucht. Aber entweder fehlte der Nachweis der klinischen Wirksamkeit, oder Nebenwirkungen waren der Grund für das Aus.

Neben Aβ ist auch das Tau-Protein ein pathologischer Faktor. Aktuell wird versucht, die Entzündungsprozesse im Gehirn mit TNF-α-Blockern zu beeinflussen – die Ergebnisse der klinischen Prüfung sind abzuwarten.

Wie Grabsteine im Gehirn

Unklar ist noch immer, warum Alzheimer-Patienten mehr Aβ bilden. Möglicherweise gibt es sogar eine Prion-ähnliche interne Ansteckung, indem toxische Varianten des Aβ die physiologischen Varianten des Aβ in einer Kettenreaktion in die toxische Form umwandeln. Die Aβ-Plaques auf den Neuronen sind wahrscheinlich nicht toxisch, denn ihre Entfernung zeigte keine klinisch relevante Wirkung auf den Krankheitsverlauf. Sie sind wohl nur ein Hinweis für ein stattgefundenes Geschehen, sozusagen „Grabsteine im Gehirn“. Und jeder wisse, so Culmsee, dass ein Wegräumen von Grabsteinen keine Toten lebendig macht.

Diagnostik der Demenz

Foto: Jens Kreisel
Dr. Oliver Dodt

Zu Diagnostik, Prävention und konkreten Hilfen im Umgang mit Dementen referierte Dr. med. Oliver Dodt, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Rockenhausen.

Ob die höheren Erkrankungszahlen von Frauen nur mit der gleichfalls höheren Lebenserwartung zu erklären sind, ist nicht eindeutig geklärt.

Dodt riet dazu, Statistiken auch mal umgekehrt zu lesen, z.B. so: Bei 15% Erkrankten zwischen 80 und 84 Jahren sind immerhin 85% nicht betroffen. Solche Zahlen klingen weniger bedrohlich. Bezüglich der unklaren Ursachen verwies Dodt auf die amerikanische „Nonnenstudie“. Bei einigen Nonnen wurden erhebliche Plaques in den Gehirnen gefunden, ohne dass es bei ihnen irgendwelche Demenzsymptome gegeben habe.

Eine Demenz ist immer irreversibel und wirkt sich in verschiedenen Bereichen aus:

  • Verlust von zeitlicher, räumlicher und situativer Orientierung, Wortfindungsstörungen, schließlich Verlust der Sprachfähigkeit (Alzheimer-Patienten)
  • Verlust von Alltagskompetenzen, z.B. Ankleiden, planendes Denken und Handeln,
  • Verändertes Verhalten – sozialer Rückzug, Angst, Apathie, Wahn oder Enthemmung.

Dodt verglich den Gedächtnisverlust mit einem Sammelordner, aus dem die oben liegenden, jüngsten Seiten zuerst herausgerissen werden. So können Demenz-Patienten technische Geräte der letzten Jahre wie Mobiltelefon oder Mikrowelle, die sie schon benutzt hatten, nicht mehr bedienen. Früheste Erinnerungen wie Lieder aus der Kindheit sind dagegen noch lange abrufbar.

Häufig wird eine beginnende Demenz mit einer Depression verwechselt. Zu Beginn der Krankheit kaschieren Demente oft sehr geschickt ihre Defizite und sprechen nicht darüber. Depressive dagegen sind eher mitteilsam und wissen auch noch, wann sie was vergessen haben. Sie haben ein übersteigertes Defizitbewusstsein und eine tagesabhängig unterschiedliche Leistungsfähigkeit.

Alzheimer-Demenz

„Ich habe mich sozusagen verloren“, so beschrieb Auguste Deter ihren Zustand. Sie war die erste klinisch und pathologisch dokumentierte Alzheimer-Patientin der Medizingeschichte. An ihr erforschte Alois Alzheimer vor über 100 Jahren die später nach ihm benannte Krankheit. Heute ist die Alzheimer-Demenz mit einem Anteil von ca. 60% die häufigste Demenzform.

Durch einfache Tests wie den „DemTect“ (Demenz-Detektion), den „Mini-Mental-Status-Test“ und den „Uhrentest“ kann der Schweregrad der Demenz ermittelt werden. Dagegen hält Dodt die bildgebenden Tests (CT, MRT), insbesondere als frühdiagnostische IGeL-Leistung, wegen nicht ausreichend spezifischer Ergebnisse für unseriös. Nur zum Ausschluss von anderen Erkrankungen oder eines Hämatoms habe die Bildgebung ihre Berechtigung.

Eine Gendiagnostik sei nur bei Verdacht auf die früh auftretende (< 60 Jahre) erbliche Demenz sinnvoll (auf PSEN1, PSEN2 und APP). Dabei müsse auch bedacht werden, wie leibliche Verwandte mit den Konsequenzen eines positiven Testergebnisses umgehen. Sogar Auswirkungen auf die Versicherbarkeit von leiblichen Nachkommen sind hier denkbar.

Eine Liquorpunktion mit Bestimmung der Destruktionsmarker sei in diagnostisch unsicheren Fällen sinnvoll. Ob man sie auch zur Frühdiagnostik einsetzen soll, ist eine schwierige persönliche Entscheidung, so Dodt. Der Patient sollte wissen, dass der Test die Wahrscheinlichkeit für die Alzheimer-Demenz mit einer Fehlerquote angibt (11% falsch positiv, 14% falsch negativ).

Prävention

Die bisher bekannten Hauptrisikofaktoren für eine Demenz sind (außer dem Alter) Nicotin, Diabetes, Übergewicht, Hypertonie und Hyperlipoproteinämie. Körperliche Aktivität, ausgewogene Ernährung und geistige Aktivität haben einen schützenden Effekt. Wichtig sind kognitive Übungen und geistige Flexibilität. Kreuzworträtsel zu lösen, ist zu wenig komplex. Besser sind Debattierklubs oder Schachspielen. Auch Tanzen, Singen oder Auswendiglernen sind empfehlenswert. Soziale Kontakte und hohe Bildung zeigten epidemiologisch einen positiven Einfluss, TV-Konsum schadet dagegen.

Begleitung der Patienten

Dodt ermutigte die anwesenden Pharmazeuten, die Angehörigen von Demenzpatienten zu informieren. Dabei geht es nicht nur um den Krankheitsverlauf, sondern auch um Leistungen der Kranken- und Pflegekassen und Kontakte zu Verbänden und Selbsthilfegruppen. Die Depressionsrate bei den Angehörigen sei hoch. Die rechtzeitige Annahme einer professionellen häuslichen Betreuung sei sehr wichtig. Es gilt, alltagsrelevante Fähigkeiten der Erkrankten möglichst lange zu erhalten, z.B. mit Orientierungshilfen in der Wohnung (Piktogramme und Pfeile auf dem Fußboden), funktionierenden Hörgeräten, gut sitzenden Zahnprothesen oder physiotherapeutischen Übungen. Durch psychosoziale Maßnahmen konnte die Einweisung in ein Pflegeheim um ein knappes Jahr verzögert werden (laut Studien).

Internet

Die Fachgruppe Christen in der Pharmazie gehört zum Netzwerk der Akademiker-SMD, Marburg:

www.pharmazie.smd.org

Alzheimer Forschung Initiative e.V.: www.alzheimer-forschung.de

Der Patient kann eine Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung nur geben, bevor er seine Urteilsfähigkeit verloren hat – auch daran ist zu denken. Insbesondere sollte er entscheiden, ob er im fortgeschrittenen Stadium eine künstliche Ernährung per PEG-Sonde wünscht oder ablehnt.

Praktischer Umgang mit Dementen

Demenzkranke verdienen Respekt und Wertschätzung. Ihre Gefühle und Sorgen sollten ernst genommen werden. Bei optischen Halluzinationen ist die Beruhigung wichtig – eine Diskussion darüber, ob die Wahrnehmung objektiv richtig ist, hilft nicht weiter. Die Patienten brauchen Geduld, Blickkontakte, Berührungen und eine adäquate Kommunikation (keine Testfragen).

Man kann sie fragen „Was bewegt Dich?“ oder auffordern „Erzähl mal von gestern!“

Im späteren Stadium können Demente gewalttätig werden. Dann erkennen sie nächste Angehörige nicht mehr, alles und alle sind ihnen fremd. Das löst zum Teil Ängste und Wahn aus, die eskalieren können.

Andererseits warnte Dodt vor einer Stigmatisierung der Patienten. Die Ausgrenzung von Themen wie Alter, Krankheit und Sterben, die Abschiebung ins Altersheim blendet einen wichtigen Teil des Menschseins aus. Gerade aus christlicher Überzeugung behält jeder Mensch bis an sein Lebensende seine Würde und seinen Wert. Schon Kinder sollten deshalb im Alltag einen zwanglosen und natürlichen Umgang mit Alten und Kranken einüben können. 

Jens Kreisel, Plauen

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