Arzneimittel und Therapie

Abkehr von den Blutcholesterol-Zielwerten

Was bedeuten die neuen ACC/AHA-Lipidleitlinien für die pharmazeutische Praxis?

Ein Kommentar von Olaf Rose | Leicht schockiert blicken Apotheker, Ärzte und Wissenschaftler auf die neue Dyslipidämie-Leitlinie des American College of Cardiology (ACC) und der American Heart Association (AHA). Schon wieder eine fundamentale Neuerung in der unübersichtlichen Lipidtherapie? Spätestens mit Erscheinen des ‚ATP III (Adult Treatment Panel III)‘ des amerikanischen National Cholesterol Education Programs (NCEP) in 2002 wurde weltweit LDL-Cholesterol als primäres Therapieziel festgeschrieben. Daran hat sich bis heute nichts geändert. In den letzten Jahren mehrten sich die Studien, in denen für Patienten höchster Risikoklassen ein deutlicher Nutzen eines LDL-Cholesterol-Zielwertes von < 70 mg/dl gezeigt werden konnte, so dass die europäischen und die deutschen Leitlinien diesen niedrigeren Grenzwert inzwischen übernommen haben. Für viele Praktiker viel zu umständlich sollte das kardiovaskuläre Risiko zuletzt nach der europäischen ESC-Leitlinie aber mittels SCORE-Chart statt mittels des Framingham- oder PROCAM-Scores berechnet werden. Die Handhabung der SCORE-Charts ist allerdings umständlich und wird daher in der Praxis kaum angewendet. Im Ergebnis führt die fehlende Berechnung eines Zielwertes dann sicherlich zu einer Unterversorgung der Patienten.

Prozentuale Senkung war schon vorher eine Option

Betrachtet man die großen Studien der letzten Jahre aber genauer, so fällt direkt auf, dass die Intervention entweder eine LDL-Cholesterol-Senkung auf < 70 mg/dl oder eine LDL-Senkung von 50% zum Ziel hatte. Auch die letzten Leitlinien hatten bereits beide Optionen genannt, so dass eine LDL-Cholesterol-Senkung um 50% immer schon eine Option ist und Experten von dem neuen Schwenk eigentlich kaum überrascht sein müssten. Nun haben die Autoren der Leitlinie wohl mehrere Gründe gehabt, die prozentuale Senkung in den Vordergrund zu rücken. Dass die Evidenz hierzu größer sei, ist wohl die eine Überlegung dabei, die aber nicht überzeugend ist. Auch für die LDL-Cholesterol-Zielwerte je nach Risikoklasse von < 70 oder < 100 mg/dl ist die Evidenz klar gegeben. Der ausschlaggebendere Grund dürfte sein, dass man glaubt, dass für die Statine das Ausmaß der LDL-Senkung bekannt sei und daher dann einfacher die richtige Dosierung und Therapie gefunden werden kann. Der Tabelle kann man entnehmen, dass nur Rosuvastatin 20 mg und Atorvastatin 80 mg den LDL-Cholesterol-Wert um 50 bis 55% senken. Der Praktiker vor Ort kann dann direkt bei höchster Risikoklasse diese Therapie wählen und ist nicht gezwungen, die Therapieziele anhand von Laborwerten laufend zu überprüfen und die Dosierung anzupassen.

Die richtige Therapie für mehr Patienten

Die neuen Leitlinien sollten also dazu führen, dass mehr Patienten in den Genuss der richtigen Therapie kommen. Vermutet wird daher jetzt ein vermehrter Einsatz der ‚Superstatine’ Rosuvastatin und Atorvastatin. Nötig gewesen wäre er indes schon aufgrund der ehemaligen Leitlinien. Für uns als Pharmazeuten stellt sich nun aber die Frage, wie wir bei einem Medikationsmanagement den Ausgangswert in Erfahrung bringen sollen, um dann die prozentuale Senkung zu überprüfen. Das LDL-Ziel von < 70 mg/dl war in der Vergangenheit bei einem klinischen Medikationsmanagement ein dankbarer Wert, wurde er doch in Deutschland mangels konsequenter Therapie fast nie erreicht. Demnächst werden wir dann nur noch überprüfen können, ob das richtige Medikament in der richtigen Stärke gewählt wurde, ohne auf das LDL-Ziel Bezug zu nehmen. So können wir die Therapie dann auch ohne vorliegenden LDL-Cholesterol-Laborwert beurteilen.

CV-Risk-Calculator statt komplizierte Score-Charts

Und wie steht es um den neuen Risiko-Score? Der sogenannte „AHA/ACC 2013 CV-Risk-Calculator“ ist direkt als Excel-Tabelle von den Seiten der Gesellschaften downloadbar (siehe Kasten). Man gibt in eine Spalte die üblichen Risikowerte wie Gesamtcholesterin, HDL und Lebensstilparameter ein und erhält direkt einen grafisch aufbereiteten Wert. Die Ergebnisse sind nach Expertenmeinungen auch auf Europa übertragbar. Der neue Risk-Calculator scheint tatsächlich wesentlich einfacher als die Handhabung der diversen SCORE-Charts. Dennoch darf bezweifelt werden, dass sich die europäischen Fachgesellschaften direkt wieder vom SCORE verabschieden.

CV-Risk-Calculator

Das neue Tool zur Berechnung des kardiovaskulären Risikos steht zum Download auf der Internetseite der American Heart Association zur Verfügung unter:

www.heart.org > conditions > heart attack > heart attack tools and ressources > risk assessment

Fazit

Die ACC/AHA-Leitlinie zur Dyslipidämie-Behandlung hat direkt nach dem Erscheinen für große Aufregung gesorgt. Die Änderungen sollen aber dazu führen, dass mehr Patienten die für sie optimale Therapie erhalten. Der Optimierungsbedarf ist auch in Deutschland groß. Geben wir der neuen Leitlinie eine faire Chance! 

Autor

Olaf Rose, Apotheker und Pharm.D., ist Inhaber von drei Apotheken in Münster und im Münsterland. Zudem ist er wissenschaftliches Mitglied und Mitinitiator der WestGem-Studie (MTM und sektorübergreifende Versorgungsforschung bei multimorbiden Patienten) in Zusammenarbeit mit der Bergischen Universität Wuppertal und der KatHO-NRW. Forschungsschwerpunkt: klinisches MTM.

Apotheker Olaf Rose, Pharm.D., Münster, rose@elefantenapo.de

Literatur

[1] European Association for Cardiovascular Prevention & Rehabilitation, Reiner Z, Catapano AL, et al. ESC/EAS Guidelines for the management of dyslipidaemias: the Task Force for the management of dyslipidaemias of the European Society of Cardiology (ESC) and the European Atherosclerosis Society (EAS). Eur Heart J. 2011 Jul; 32 (14): 1769–818

[2] Cholesterol Treatment Trialists’ (CTT) Collaboration. Efficacy and safety of more intensive lowering of LDL cholesterol: a meta-analysis of data from 170000 participants in 26 randomised trials. Lancet 2010; 376: 1670–1681

[3] ACC/AHA CV Risk Calculator, available at: www.cardiosource.org/Science-And-Quality/Practice-Guidelines-and-Quality-Standards/2013-Prevention-Guideline-Tools.aspx, accessed 2013, Nov. 18

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