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This is exactly the right thing

Ein Gastkommentar von G. Schulze

Gerhard Schulze, geb. 1944, ist Professor für Soziologie an der Universität Bamberg. Seine Arbeiten untersuchen den kulturellen Wandel der Gegenwart.

Den September über war ich auf dem Pilion, eine Halbinsel südlich der Stadt Volos in Griechenland. Die Gegend ist ein Wanderparadies, aber auch Ruhesucher und Badegäste finden das Ersehnte. Kleine hübsche Dörfer, überschaubare touristische Strukturen, hauptsächlich Ferienwohnungen und Pensionen. Wachstum? Die Inspektoren der Troika wären nicht zufrieden, der Pilion ist kein Ort für Wachstumsorgien. So gibt es etwa eine Vorschrift, nach der alle Neubauten im Stil traditioneller Pilion-Häuser ausgeführt sein müssen: der Grundriss, die Außenwände, das Dach. Das ist die strengste Vorschrift zur Errichtung von Neubauten, die ich kenne. Erlaubt sind jedoch Kerne aus Beton und Ziegel, eine zeitgemäße Dämmung, Doppelglasfenster, Elektronik, Zentralheizung. Das ist die vorläufige Antwort der Pilion-Griechen auf den ratlosen Stilmix von Moderne und Postmoderne, der jede noch so schöne Landschaft im Nu verschandelt.

Auf dem Pilion konnte man Betonburgen wie in Spanien oder Italien erfolgreich verhindern, und die Einschränkung der Wahlmöglichkeiten hat dabei geholfen. Ein in Bayern aufgewachsener Grieche, der über sein Münchener Reisebüro den Pilion als Sehnsuchtsort kältegeschüttelter Nordeuropäer vermarktet, fasste es so zusammen: „Wir geben uns Regeln, wir halten uns an die Regeln. Die meisten Investoren mögen das nicht, aber schauen Sie doch nur, wie schön alles ist. Uns reicht das, Troika hin oder her.“

Wenige Tage nach diesem Gespräch musste ich eine Apotheke aufsuchen, denn wieder einmal plagte mich meine trockene Nasenschleimhaut. Die kaum Englisch sprechende Helferin zeigte auf ein mir unbekanntes Produkt ganz hinten im Regal, etwas anderes gab es nicht. Ich schüttelte den Kopf. „Wait please“, sagte sie und deutete auf einen Sessel, der vor einem großen, mit vorbereiteten Bestellungen belegten Schreibtisch stand. Der Platz dahinter war leer. Durch das Schaufenster sah ich ein paar Männer auf dem Dorfplatz, die rauchten und dabei plauderten, einer trug einen weißen Kittel. Nach einigen Minuten löste er sich aus der Gruppe und schritt bedächtig auf die Apotheke zu. Wie jemand, der es nicht eilig hat und es sich leisten kann, bei jedem seiner Schritte sorgfältig darauf zu achten, nur ja kein Hindernis zu übersehen.

Ich schaute mir derweil die Apothekeneinrichtung an. Hinten im Raum die Regale mit den verschreibungspflichtigen Arzneimitteln, vorne das Freiwahlsortiment: Zwei oder drei Schnuller offen im Regal wie verirrte Schafe, dazu eine Schachtel Milchpulver, Kräutertee, Hustenbonbons, Hautcremes, Damenhygiene. Von südlicher Sonne ausgeblichene Kartonagen, überzogen von einer dünnen Staubschicht, zwischendrin eine tote Fliege: wer das nicht kaufen mag, der lässt es eben bleiben.

Der Apotheker hatte seinen Weg über den Dorfplatz zurückgelegt. Er trat ein, setzte sich hinter seinen Schreibtisch, rückte ein paar Schachteln zurecht und wandte mir schließlich seine Aufmerksamkeit zu. Die Helferin sagte etwas auf Griechisch zu ihm, er nickte und schaute mich an. „What do you want?“ fragte er und ich sagte noch einmal mein Sprüchlein auf: „No infection, just a dry nose.“ Er reichte mir das Nasenspray, das mir die Helferin schon gezeigt hatte. Ich überflog mit zusammengekniffenen Augen das Kleingedruckte auf der Packung. „No infection“, fing ich noch einmal an. „Just a dry nose“, ergänzte der Apotheker, „and this is exactly the right thing.” Ich fühlte mich erleichtert, befreit vom Gedanken, es könne für meine Nase vielleicht noch etwas Besseres geben.

Nur eine einzige Option zu haben war eine ebenso entspannende wie seltene Erfahrung für mich. Seit Jahrhunderten bewegt sich die Moderne, und mit ihr jede Apotheke hierzulande, genau in die entgegengesetzte Richtung. Fernsehprogramme, Baustoffe, Automobile, Softdrinks, OTC-Artikel, egal was: die Wahlmöglichkeiten steigen ins Astronomische, ein Ende ist nicht in Sicht, und das Internet potenziert diese Dynamik noch einmal. Je weiter dieser Prozess voranschreitet, desto geringer wird der Grenznutzen des Neuen und desto mehr geht uns all dies auf die Nerven, ganz zu schweigen vom Stachel der Opportunitätskosten: Jede Entscheidung bedeutet Verzicht auf alles Übrige. Aber wehe dem Marktteilnehmer, der das nicht mitmacht!

Oder kommt allmählich ein Zeitalter der Reduktion in Sicht, der Konkurrenz durch Einfachheit, der Konzentration auf das Wesentliche? Eine Sorte Nasentropfen, eine Sorte Häuser: Schlichtheit hat Zukunft.

Gerhard Schulze

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