Arzneimittel und Therapie

(K)ein Zusatznutzen?

Ein Meinungsbeitrag zur abgeschlossenen Nutzenbewertung der Gliptine

Thomas Herdegen | Die Nutzenbewertung der Gliptine ist abgeschlossen. Nur für Sitagliptin und Saxagliptin wurde ein Anhaltspunkt für einen geringen Zusatznutzen gesehen. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) folgte damit nicht den fast durchgängig negativen Stellungnahmen des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) und der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ). Abgesehen von den symptomatischen Hypoglykämien war die Datenlage der Gliptine nur wenig überzeugend, die in den Studien vorgelegte HbA1c-Senkung war nicht besser als die unter der Vergleichsmedikation. Kritisch zu sehen sind die negativen Bewertungen des IQWiG und vor allem der AkdÄ im Hinblick auf die fehlende Anerkennung von Vorteilen der Gliptine. So wurden der Einsatz bei Niereninsuffizienz oder die einmal tägliche Einnahme unabhängig vom Essen nicht gewürdigt.

Die ersten Gliptine wurden zwischen 2007 und 2009 zugelassen und gelten als einfach zu handhabende, sichere orale Antidiabetika. Sie sind je nach Wirkstoff zur Monotherapie sowie zur Kombination (fix oder frei) mit Metformin und mit Insulin zugelassen (Tab. 1).

Am 2. Oktober 2013 hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) mit der Nutzenbewertung der Gliptine zum ersten Mal eine Nutzenbewertung von älteren Arzneimitteln aus dem sogenannten Bestandsmarkt abgeschlossen. Sie war notwendig geworden, nachdem der G-BA für den neuen DPP-4-Hemmstoff Linagliptin (Trajenta®) im Februar 2012 keinen Zusatznutzen festgestellt hatte [1]. Der G-BA sah nur für eine Monotherapie mit Sita- und Saxagliptin sowie deren Kombination mit Metformin einen Anhaltspunkt für einen geringen Zusatznutzen (Tab. 2). Für Linagliptin und Vildagliptin wurde weder für die Mono- noch die Kombinationstherapie ein Zusatznutzen gesehen.

G-BA folgt Stellungnahmen nur bedingt

Damit folgte der G-BA nicht einfach nur den ablehnenden Voten des IQWiG und der AkdÄ. Das IQWiG hatte im Auftrag des G-BA die Nutzenbewertung durchgeführt. Es sah nur für Sitagliptin in Kombination mit Metformin einen Zusatznutzen in Abhängigkeit der untersuchten Patientengruppen [2] (Tab. 2). Noch negativer war die Stellungnahme der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) ausgefallen, die allen Gliptinen einen Zusatznutzen absprach und einige Studiendetails im Vergleich zum IQWiG negativer beurteilte. Stattdessen wurde das ungeklärte Risiko für Pankreatitiden und Pankreas-Tumore in den Vordergrund gestellt sowie das Fehlen klinischer Endpunktstudien kritisiert.

Der G-BA hat somit im Unterschied zum IQWiG nicht nur die Kombination von Sitagliptin mit Metformin, sondern drei weitere Gliptin-Therapien verhalten positiv beurteilt. Dies ist die wesentliche positive Nachricht. Sie zeigt, dass der G-BA nicht einfach nur die Voten der Stellungnahmen-Geber umsetzt.

Die tragenden Gründe des G-BA für eine positive Bewertung waren v.a. das geringere Hypoglykämie-Risiko, meist im Vergleich mit den Sulfonylharnstoffen.

Die ablehnenden Gründe wurden detailliert beschrieben. Ausschlaggebend waren formale Gründe, fehlerhafte Indikation (z.B. keine wirkliche Metformin-Unverträglichkeit als Indikation) oder die Feststellung einer fehlenden Effektivität gegenüber der Vergleichsgruppe.

Die Bewertungen sind zeitlich begrenzt: in zwei Jahren werden Studienergebnisse zu klinischen Endpunkten erwartet und neu bewertet.

Was sind die Gliptine wert? Eine Übersicht über die bewerteten Studien

Die Studiendaten der Tabelle 3 geben die Unterschiede zur Vergleichsmedikation wieder, meist handelte es sich um die Sulfonylharnstoffe Glibenclamid oder Glimepirid. Der auffälligste Vorteil ist die um ca. 5 bis 15% niedrigere Rate an symptomatischen Hypoglykämien; der Effekt war unabhängig von der Studiendauer (52 oder 104 Wochen). Schwere Hypoglykämien waren um ca. 1% vermindert (z.B. 0,2% vs. 1,2%), mit zunehmender Studiendauer nahm in der Vergleichsgruppe die Inzidenz leicht zu (Daten hier nicht gezeigt). Andererseits waren die HbA1c-Werte meist geringfügigschlechter im Vergleich zu den Sulfonylharnstoffen, maximal jedoch nur gleich gut. Die Differenz der Abbruchraten wegen Nebenwirkungen lag zwischen +4% und -3,3%. Das erste Fazit aus den wichtigsten Studiendaten lautet: ähnliche Wirkung bei deutlich weniger symptomatischen Hypoglykämien. Dies begründet auch die positive(n) Bewertung(en) des G-BA und des IQWiG.

Bei der Wirksamkeit gibt es auch eine für Deutschland spezifische Komponente: in der internationalen EDGE-Studie senkte Vildagliptin bei Typ-2-Diabetikern, die unter Monotherapie keine normoglykämischen Werte erreichten, den HbA1c um 1,19% und damit um 0,2% besser als die Vergleichstherapie. Bei den deutschen Studienteilnehmern wurde der HbA1c-Wert durch Vildagliptin aber nur um 0,69% gesenkt [3,4]. Möglicherweise neutralisiert ein höheres Versorgungsniveau in Deutschland die therapeutischen Effekte neuer Arzneistoffe, die in anderen Ländern gemessen werden.

Warum gibt es keinen Zusatznutzen für Linagliptin und Vildagliptin?

Auf den ersten Blick erschließt sich aus der Tabelle 3, dass die negativ bewerteten Studiendaten von Linagliptin und Vildagliptin keinesfalls schlechter sind als die der positiv bewerteten. Im Gegenteil: unter beiden waren die Abbruchraten wegen unerwünschten Ereignissen am niedrigsten.

Bei Vildagliptin wurde jedoch das Studiendesign als ungeeignet kritisiert, da es nicht den allgemeinen Therapierichtlinien entsprach und u.a. den Kompetitor benachteiligt hätte. Bei Linagliptin wurden die unzureichenden Vergleichsstudien mit dem hier nicht erhältlichen Sulfonylharnstoff Glipizid kritisiert. Diese formale Ablehnung ist nicht verständlich, zumal unter Glipizid im Vergleich zu anderen Sulfonylharnstoffen weniger Hypoglykämien auftreten und das IQWiG und die AkdÄ z.B. Warfarin als Vergleichssubstanz bei der Nutzenbewertung der neuen oralen Antikoagulanzien akzeptiert, obwohl es in Deutschland so gut wie nicht verordnet wird. Zudem gilt festzuhalten, dass unter Linagliptin 3,9% mehr Patienten gegenüber der der Vergleichsgruppe wegen fehlender Wirksamkeit die Therapie abgebrochen haben.

Pharmakologisch lassen sich keine substanziellen Unterschiede in der chemisch heterogenen Gruppe der Gliptine im Hinblick auf Wirkungen und Nebenwirkungen festmachen. Sie hemmen den Abbau des körpereigenen Glucagon-like peptide 1 (GLP-1), indem sie die degradierende Wirkung der Dipeptidylpeptidase 4 (DPP-4) blockieren. Im Gegensatz zu den Sulfonylharnstoffen verursachen sie keine Hypoglykämien, schädigen nicht die Herzfunktion und erhöhen nicht das Körpergewicht.

Das Ausmaß der Hemmung von DPP-4, Wirkdauer, Metabolisierung via CYP-Enzyme und P-Glykoprotein sowie die renale Ausscheidung lassen sich über die Dosis regulieren [5]. Die Nebenwirkungen (v.a. gastrointestinale Symptome) sind im Wesentlichen auf die Hemmung der DPP-4 zurückzuführen. Über klinische Effekte als Folge der (unspezifischen) Hemmung anderer Dipeptidylpeptidasen bzw. Veränderung anderer Substrate ist nichts bekannt.

Fazit der Bewertungen: Eine negative Bewertung aus formalen Gründen sowie die „Spaltung“ einer letztlich funktionell homogenen Wirkstoffgruppe wie die der Gliptine in „gute“ und „schlechte“ Wirkstoffe hinterlässt ein ungutes Gefühl.

Vorteile der Gliptine

Einsatz bei Niereninsuffizienz. Im Gegensatz zu Sulfonylharnstoffen (Ausnahme Gliquidon, das in Deutschland auf einen Verordnungsanteil von weit weniger als 1% der Sulfonylharnstoffe kommt, [Arzneiverordnungsreport 2013]) und Metformin sind Gliptine auch bei schwerer Niereninsuffizienz zugelassen (Tab. 4). Dieser Vorteil fließt nicht in die Bewertung ein. Dabei steht die verminderte Nierenfunktion im Alter ganz im Zentrum der Diskussionen der geriatrischen Pharmakotherapie und ist ein wichtiger Parameter für die Wirkstoffe, die für Ältere potenziell ungeeignet sind. Aktuelle Studien zeigen immer wieder, dass die fehlende Beachtung von Kontraindikationen z. B. bei Niereninsuffizienz bei der Verordnung für einen relevanten Anteil der Nebenwirkungen verantwortlich ist. Werden Vorteile wie bei den Gliptinen nicht anerkannt, wird für die entsprechenden Probleme keine Sensibilität geschaffen.

Hypoglykämie. Hypoglykämien gelten als Ursache für die erhöhte Sterblichkeit unter einer intensivierten Diabetes-Therapie oder für Demenz und müssen vermieden werden. Sulfonylharnstoffe verursachen sehr häufig symptomatische Hypoglykämien und häufig schwere Hypoglykämien [5]. In zwei Vergleichsstudien zu Saxagliptin + Metformin versus Metformin + Sulfonylharnstoffe wurden unter der

Kombination mit Saxagliptin in einem Jahr 0% symptomatische und 0,5% schwere Hypoglykämien registriert versus 10,4% symptomatische und 11,1% schwere Hypoglykämien unter der Vergleichstherapie. Wie deutlich müssen Ereignisraten für wichtige Nebenwirkungen vermindert sein, damit sie als klinisch relevant angesehen werden? In fünf Jahren würde die Schere wahrscheinlich noch weiter auseinandergehen, wie die zeitabhängige Zunahme der schweren Hypoglykämien in den Vergleichsgruppen andeutet.

Gewichtszunahme. Gliptine verursachen im Gegensatz zu Sulfonylharnstoffen keine Gewichtszunahme. Auch dieser Vorteil floss in die Bewertungen nicht ein. Und was propagieren wir nicht alles an Maßnahmen zur Gewichtskontrolle beim metabolischen Syndrom!

Schädigung der Beta-Zellen. Sulfonylharnstoffe verlieren langfristig ihre Wirksamkeit. Es gibt deutliche Hinweise dafür, dass sie die Beta-Zellen des Pankreas schädigen. In-vitro-Daten lassen ein solches Risiko für Gliptine nicht erwarten. Im Gegenteil, hier belegen experimentelle Daten einen protektiven Effekt [6].

Andererseits: Gliptine senken effektiv den postprandialen Blutzucker. Mit zunehmender Diabetes-Erkrankungsdauer nimmt die Bedeutung der postprandialen Hyperglykämie ab und damit ist auch ein Wirkungsverlust der Gliptine vorprogrammiert.

Kardiovaskuläre Ereignisse. In der aktuellen SAVOR- TIMI-53 Studie wurden in der Gliptin-Gruppe weniger Patienten wegen Herzinsuffizienz in ein Krankenhaus eingewiesen verglichen mit Patienten der Sulfonylharnstoff-Gruppe [7]. Herzinsuffizienz ist eine kardiovaskuläre Komplikation des Diabetes, die verstärkt in die Aufmerksamkeit der Diabetologen rückt. Metformin verursacht weniger kardiale Störungen als Sulfonylharnstoffe [8]. Bis heute ist die grundlegende Frage immer noch nicht geklärt, ob Metformin kardioprotektiv ist oder Sulfonylharnstoffe kardiotoxisch sind. Vor diesem Hintergrund ist ein Zusatznutzen der Gliptine schwer zu etablieren.

Die Schwachstellen der Gliptine

Als zentrale Argumente gegen einen Zusatznutzen der Gliptine gelten dem IQWiG und der AkdÄ die fehlenden Endpunktstudien sowie das Risiko für Pankreatitiden bzw. Pankreas-Tumore.

Fehlende Endpunktstudien bzw. Langzeitdaten. Bei den Sulfonylharnstoffen hat es viele Jahre gedauert, bis schließlich in der UKPDS-Studie eine Senkung von diabetischen Spätkomplikationen durch sie nachgewiesen wurde. Zwei kardiovaskuläre Endpunktstudien (EXAMINE, SAVOR-TIMI-53) mit 18 und 25 Monaten Dauer erbrachten keinen Vorteil von Gliptinen gegenüber Sulfonylharnstoffen [7].

Pankreatitis, Pankreas-Tumore. Die Datenlage dazu ist widersprüchlich, jedoch sehen die Zulassungsbehörden keinen Handlungsbedarf, über die jetzt geforderten Hinweise hinauszugehen. Bei den Bewertungen des IQWiG wurde die Gefahr mit Studien begründet, die mit Inkretinmimetika (direkte GLP-1-Rezeptor-Agonisten) durchgeführt wurden. Dieser Analogieschluss ist unzulässig, da sie schlichtweg anders wirken. ACE-Hemmer und Sartane haben auch ein unterschiedliches Nebenwirkungsrisiko. Bei der jüngsten Jahrestagung der europäischen Diabetologischen Fachgesellschaften in Barcelona (EASD) gab es Entwarnung für den Verdacht eines gesteigerten Krebsrisikos, das Risiko für Pankreatitis bleibt weiterhin leicht erhöht [9].

Diskrepanz zwischen Stellungnahmen und klinischem Alltag

„Wir verordnen bei Neueinstellung seit Langem keine Sulfonylharnstoffe mehr“ ist das gängige Credo der Diabetologen in den Kliniken. 2012 wurden schon 256 Mio. DDD Gliptine versus 362 Mio. DDD Sulfonylharnstoffe verordnet.

Die AkdÄ bezieht eine rigorose ablehnende Position, die dem ärztlichen Alltag entgegenläuft und dem Arzt das Gefühl vermittelt, dass er nicht das Richtige tut. Dabei möchte der Arzt nur das umsetzen, was seit Jahrzehnten propagiert wurde: Gewichtszunahme, Hypoglykämien und die Verschlechterung kardialer wie pankreatischer Funktionen zu vermeiden.

Wenn wichtige Vorteile nicht in die Bewertung einfließen, sind schließlich auch die Bewertungsinstrumente zu hinterfragen [10].

Die Gliptine sollen und müssen nicht flächendeckend als erste Wahl verordnet werden. Das IQWiG schätzt entsprechend der Indikationen den Bedarf für Antidiabetika bei unzureichender Einstellung des Blutzuckers mit Metformin und/oder Sulfonylharnstoffen je nach Studienbewertung auf ca. 550.000 bis 650.000 Patienten. Für viele von diesen Patienten sind Gliptine eine gute Option [11].

Autor

Prof. Dr. med. Thomas Herdegen,

Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie, Universitäts-Klinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel, Hospitalstraße 4, 24105 Kiel

Literatur

[1] Herdegen T: Gliptine bald nicht mehr für alle. DAZ 2013; Nr. 12, S. 66.

[2] Laschet H: IQWiG räumt bei Gliptinen auf. Ärzte Zeitung; 4. Juli 2013 (online)

[3] Mathieu C, Barnett AH, Brath H et al.: Effectiveness and tolerability of second-line therapy with vildagliptin vs. other oral agents in type 2 diabetes: A real-life worldwide observational study (EDGE). Int J Clin Pract 2013; 67: 947–56.

[4] Stiefelhagen P: Orale Kombinationstherapie bei Typ-2-Diabetes. Med Monatsschr Pharm 2013; 155: 390-1.

[5] Bohm R, Cascorbi I, Herdegen T: Hypoglycemic risk of insulinotropic drugs. Med Monatsschr Pharm 2009; 32: 453–8.

[6] Scheen AJ: Pharmacokinetics of dipeptidylpeptidase-4 inhibitors. Diabetes Obes Metab 2010; 12: 648-58.

[7] Scirica BM, Bhatt DL, Braunwald E et al.: Saxagliptin and cardiovascular outcomes in patients with type 2 diabetes mellitus. N Engl J Med 2013; 369: 1317–26.

[8] Roumie CL, Hung AM, Greevy RA et al:. Comparative effectiveness of sulfonylurea and metformin monotherapy on cardiovascular events in type 2 diabetes mellitus: a cohort study. Ann Intern Med 2012; 157: 601–10.

[9] Zylka-Menhorn V.: Therapieziele werden flexibler. Dtsch Arztebl 2013; 110: 1910-2.

[10] Bleß HH. Die Methodik der frühen Nutzenbewertung - Ein Instrument mit Zukunft? Pharmazeut Med 2012; 14: 174–82.

[11] Deutsche Diabetes Gesellschaft: Stellungnahme zu den IQWiG Berichten zur Nutzenbewertung der DPP-4 Inhibitoren Saxagliptin, Sitagliptin und Valdagliptin sowie die Fixkombinationen mit Metformin. 2013 (online).

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.