Arzneimittel und Therapie

Gut gedacht = gut gemacht?

Bewertung von Flupirtin und Diclofenac und die Konsequenzen

Ein Meinungsbeitrag von Harald G. Schweim und Michael A. Überall | In der letzten Zeit hat sich die Situation der Versorgung von Patienten mit Schmerzmitteln dramatisch verändert, da die EMA aktuelle Daten zur Sicherheit und Verträglichkeit ausgewertet und neue Warnhinweise und Beschränkungen ausgesprochen hat. Das betrifft verschreibungspflichtige (Flupirtin) ebenso wie nicht-verschreibungspflichtige Wirkstoffe (Diclofenac). Doch warum werden für den einen Wirkstoff starke Beschränkungen zu Anwendungsgebiet und -dauer ausgesprochen, für den anderen aber nur ein relativierender Warnhinweis? Und wie sehen die Konsequenzen für den Alltag von Schmerzpatienten aus?

Es begann in Deutschland mit einer Diskussion um die Verschreibungspflicht von Paracetamol [1], in deren Verlauf auch die Acetylsalicylsäure infrage gestellt [2] und auf die traditionellen NSAR (Diclofenac, Ibuprofen) als risikoärmere Alternativen verwiesen wurde [3]. Paracetamol wurde vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erst jüngst auf der Grundlage einer umfassenden Bewertung aller verfügbaren Informationen nicht nur bei bestimmungsgemäßer Anwendung als wirksames, verträgliches, sicheres und risikoarmes, sondern auch bei missbräuchlicher Anwendung als grundsätzlich beherrschbares (es gibt ein sehr wirksames Antidot) Arzneimittel bestätigt [4]: Jetzt erfolgt eine Neubewertung für Diclofenac durch das Pharmacovigilance Risk Assessment Committee (PRAC) der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA mit dem Ergebnis, dass dessen Risiken als deutlich größer angesehen werden.

Kardiovaskuläre Sicherheit von Diclofenac

Eine neue Metaanalyse, vermutlich die auf längere Zeit umfassendste zu dieser Frage, bestätigte, dass die beiden häufig verwendeten nicht-steroidalen Antiphlogistika (NSAID) Diclofenac und Ibuprofen das Herzinfarktrisiko in ähnlichem Ausmaß steigern wie die Coxibe, deren Vertreter Rofecoxib 2004 wegen eben dieses Risikos vom Markt genommen wurde. Die Gefahr ist allerdings auf Langzeitanwender beschränkt. Der Wechsel zu Naproxen, dem einzigen kardiovaskulär unbedenklichen NSAID ist laut der Publikation im Lancet [5] mit einem deutlich höheren Risiko gastrointestinaler Blutungen verbunden, so dass es kein ideales NSAID für die Langzeitanwendung (mehr) gibt. Die Metaanalysen der Clinical Trial Service Unit an der Universität Oxford haben in den letzten Jahren Standards gesetzt. Auch zu dem kardiovaskulären Risiko von NSAID hat das Team um Colin Baigent keine Mühen gescheut. 639 randomisierte klinische Studien mit mehr als 350.000 Patienten wurden neu ausgewertet. Die Ergebnisse entsprechen weitgehend den bekannten Tatsachen: Hohe Dosierungen der Coxibe als Klasse (einschließlich der weiter vertriebenen Präparate) erhöhen ebenso wie Diclofenac und Ibuprofen das Risiko von kardiovaskulären Ereignissen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall [6].

Am 14. Juni 2013 kam das Pharmacovigilance Risk Assessment Committee der EMA nach umfangreichen Auswertungen von Daten des SOS-Programms (SOS = safety of non-steroidal antiinflammatory drug) der Europäischen Kommission zur Sicherheit der in Europa verfügbaren nicht-steroidalen Antirheumatika (NSAR) zu dem Ergebnis, dass der Einsatz Diclofenac-haltiger Fertigarzneimittel (insbesondere in höheren Dosierungen und über einen längeren Zeitraum) mit einem signifikant erhöhten Risiko unerwünschter kardiovaskulärer Arzneimittelreaktionen einhergeht. Aus Sicht des PRAC gilt der Einsatz von Diclofenac-haltigen Fertigarzneimitteln bei Patienten mit Herzfehlern, Herzinsuffizienz, koronarer Herzkrankheit, Myokardinfarkt und/oder Schlaganfall als kontraindiziert. Bei Patienten mit bekannten kardiovaskulären Risikofaktoren wie Bluthochdruck, Hypercholesterinämie, Diabetes und Nicotinabusus sollten Diclofenac-haltige Fertigarzneimittel nur nach strenger Nutzen-Risiko-Abwägung, vorübergehend und in der niedrigst möglichen Dosis eingesetzt werden. Darüber hinaus müssen Wirksamkeit, Sicherheit und Verträglichkeit im jeweiligen Anwendungsfall durch den behandelnden Arzt regelmäßig aktiv überprüft und dokumentiert werden.

Verschreibungspflicht für Diclofenac?

Nachdem die europäische Arzneimittelagentur EMA sich zum Nutzen und zu den Risiken von Diclofenac geäußert hat, befasst sich nun auch die britische Behörde MHRA (Medicines and Healthcare Products Regulatory Agency) mit dem nicht-steroidalen Analgetikum (NSAID). In Großbritannien sind viele NSAIDs nicht verschreibungspflichtig, teilweise sogar freiverkäuflich. So ist in Großbritannien Diclofenac nicht-verschreibungspflichtig in Einzeldosen von 25 mg, wenn eine Tagesdosis von 75 mg nicht überschritten wird. Die maximale Behandlungsdauer beträgt drei Tage. Im Rahmen der Selbstmedikation sind die Indikationen Kopf-, Zahn-, Regel-, Muskel- und Rückenschmerzen sowie rheumatische Beschwerden zugelassen. Bei Erkältungssymptomen mit Fieber kann Diclofenac ohne Rezept bei Patienten ab 14 Jahren eingesetzt werden. Die MHRA sieht dadurch die Gefahr einer möglichen Überdosierung und die Wahrscheinlichkeit unerwünschter kardiovaskulärer oder gastrointestinaler Nebenwirkungen. Daher startet die MHRA nun eine Umfrage unter allen Beteiligte im Gesundheitswesen (Mediziner, Pharmazeuten, Hersteller, Patientenorganisationen), mit welchen Maßnahmen eine Risikominimierung zu erreichen ist. In der Diskussion sind drei Optionen: keine Änderung im Abgabestatus; Streichung der Indikation „Erkältung und Fieber“ plus Warnhinweis zu den kardiovaskulären Risiken auf der Verpackung oder die Einführung einer generellen Rezeptpflicht für alle oralen Diclofenac-haltigen Präparate.

Ausgangspunkt des Verfahrens war ein im Oktober 2012 auf der Grundlage der bereits damals verfügbaren Daten zum zweifelhaften Nutzen-Risiko-Profil traditioneller NSAR bei Patienten mit kardiovaskulären Risikofaktoren gestartetes Bewertungsverfahren, mit welchem nun endlich Klarheit geschaffen wurde. Entsprechend den bereits 2007 veröffentlichten Berechnungen einer internationalen Arbeitsgruppe [7] liegt das durch Diclofenac bedingte Zusatzrisiko kardiovaskulärer Komplikationen z.B. für Myokardinfarkte bei 1/277 Patienten (entsprechend 0,36101%) bzw. das Myokardinfarkt-bedingte Sterblichkeitsrisiko bei 1/924 Patienten (entsprechend 0,10823%). Insgesamt lagen die entsprechenden Ereignisraten für die Gruppe der traditionellen NSAR insgesamt bei 1/1351 bzw. 1/4517 für alle bzw. für die tödlichen Myokardinfarkte (entsprechend 0,02214 bzw. 0,07402%). Dieses relativ hohe Zusatzrisiko, unter Diclofenac einen schwerwiegenden bzw. tödlichen Myokardinfarkt zu erleiden, relativiert sich angesichts des von der Arbeitsgruppe ebenfalls analysierten Risikos für schwerwiegende bzw. tödliche gastrointestinale Blutungen, welches für Diclofenac bei 1/198 bzw. 1/1976 und für die Gesamtgruppe der traditionellen NSAR bei 1/142 bzw. 1/1420 behandelten Patienten liegt.

Hepatische Sicherheit von Flupirtin

Ebenfalls am 14. Juni 2013 hat das PRAC der EMA beschlossen, die Anwendung Flupirtin-haltiger Fertigarzneimittel aufgrund möglicher Interaktionen mit dem Leberstoffwechsel auf zwei Wochen zu beschränken und unter der Behandlung wöchentliche Kontrollen der Leberwerte empfohlen. Mit dieser Entscheidung sowie der Empfehlung, die Anwendung Flupirtin-haltiger Arzneimittel auf die Kurzzeitbehandlung akuter Schmerzen bei Erwachsenen zu beschränken und Patienten mit bestehenden Lebererkrankungen, Alkoholabusus und kritischer Co-Medikation von der Therapie auszuschließen, hat das PRAC ein seit Mitte März 2013 laufendes Verfahren zur Nutzen-Risiko-Abwägung von Flupirtin-haltigen Fertigarzneimitteln abgeschlossen. Nach Anhörung von Schmerzexperten und Pharmakologen wurde damit aus Sicherheitserwägungen heraus unter die bereits seit Längerem kontrovers geführte Debatte – zumindest vorübergehend – ein Schlussstrich gezogen. Ausgangspunkt des Verfahrens war ein Antrag des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte, welches aufgrund von Spontanberichten über mögliche Lebernebenwirkungen unter Flupirtin (von subklinischen Leberwerterhöhungen bis hin zu kritischen und lebensbedrohlichen Leberfunktionsstörungen) die Europäische Arzneimittelbehörde bat, eine Nutzen-Risiko-Überprüfung des Wirkstoffes vorzunehmen. Nach Sichtung umfangreicher Unterlagen und ausgiebiger Diskussion mit Vertretern der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie, Experten der Toxikologie und Pharmakologie sowie Vertretern der pharmazeutischen Unternehmen kamen PRAC und EMA zu dem Schluss, dass aus Sicherheitsgründen heraus für Flupirtin eine Anwendungsbeschränkung auf zwei Wochen ausgesprochen und der Einsatz auf Schmerzen beschränkt werden soll, bei denen andere Analgetika (wie NSAR und Opioide) nicht indiziert sind. Zu diesem Ergebnis kommen PRAC und EMA trotz der in randomisierten kontrollierten klinischen Studien gegenüber Placebo signifikant überlegenen Wirksamkeit und insgesamt auch einer mit Placebo vergleichbaren Verträglichkeit von Flupirtin über eine Behandlungsdauer von vier Wochen.

Grund für diese einschneidende Anwendungsbeschränkung waren seit der Einführung von Flupirtin im Jahre 1989 europaweit insgesamt 136 Berichte über Patienten mit Leberschäden. Von denen hatten 15 einen fatalen Verlauf genommen, endeten entweder tödlich oder machten eine Lebertransplantation erforderlich. Die seitens des Pharmacovigilance Risk Assessment Committee (PRAC) kalkulierten Ereignishäufigkeiten beliefen sich (unter Berücksichtigung der Gesamtverordnungszahlen von Flupirtin über den genannten Zeitraum) für jegliche Form einer Flupirtin-assoziierten Leberschädigung (und ohne Berücksichtigung eines kausalen Zusammenhangs) auf 15,2 pro 100.000 Patientenjahre und in Bezug auf die genannten fatalen Häufigkeiten auf 1,68 pro 100.000 Patientenjahre.

Unter Berücksichtigung der tatsächlichen Verordnungsquoten für Flupirtin (allein im Jahr 2011 wurden europaweit 28,1 Millionen DDDs verordnet und allein in Deutschland ca. 1.031.398 Patienten behandelt) errechnet sich eine Erwartungshäufigkeit für beide Ereignisse von 1/85.595 Patienten bezüglich einer möglichen Flupirtin-bedingten Leberschädigung (entsprechend 0,00117%) bzw. 1/776.060 bzgl. eines möglicherweise durch Flupirtin ausgelösten fatalen Leberversagens (entsprechend 0,00013%). Im zeitlichen Verlauf manifestierten sich diese extrem seltenen fatalen Ereignisse im Mittel 70 Tage (Median: 63,5, Min-Max: 21–140 Tage) nach Behandlungsbeginn und bei 60% in Kombination mit anderen bekanntermaßen hepatotoxischen Arzneistoffen.

Sicherheit und Verträglichkeit im direkten Vergleich

Nach der „reinen regulatorischen Lehre“ sollte die „Apothekenpflicht“ versus die „Verschreibungspflicht“ Ausdruck des „günstigeren Risikoprofils“ (auch ohne ärztliche Kontrolle in der Selbstmedikation relativ sicher“) sein. Der direkte Vergleich der Sicherheits- und Verträglichkeitsbewertung von Flupirtin und Diclofenac sowie die daraus seitens der europäischen Arzneimittelwächter gezogenen Konsequenzen (siehe hierzu auch die am 15. und 16. Juli 2013 durch die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) versandten Rote-Hand-Briefe) werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten. Grundsätzlich sind alle Anstrengungen zu begrüßen, die die Sicherheit der Anwendung von Arzneistoffen bei Patienten erhöhen und darauf zielen, das Nutzen-Risiko-Verhältnis zu verbessern. Eine rationale Bewertung von Sicherheit und Verträglichkeit eines Arzneimittels sollte unabhängig von nationalen Anwendungsbeschränkungen erfolgen. Es steht außer Frage, dass in einem zunehmend zentralistisch regierten europäischen Staatenverbund gerade Fragen der Arzneimittelsicherheit einheitlich und unter Bezugnahme auf höchste Bewertungsstandards analysiert und geklärt werden müssen. Dennoch stellt sich die Frage, warum bei den beiden genannten Risikobewertungen und Ereignishäufigkeiten (siehe Tabelle) für den einen Arzneistoff (Flupirtin) derart starke Beschränkungen (einschließlich Anwendungsgebiet, Anwendungsdauer und laborchemische Kontrolluntersuchungen) und bei dem anderen (Diclofenac) nur ein relativierender Warnhinweis ausgesprochen wurde, der faktisch an der tatsächlichen Verordnungsrealität kaum etwas ändern wird?

Vergleicht man die publizierten Ereignishäufigkeiten fataler Komplikationen, so liegt das Risiko, unter Diclofenac einen tödlichen Myokardinfarkt oder eine tödliche gastrointestinale Blutung zu erleiden, rund 840- bzw. 393-mal höher als das für eine fatale Leberschädigung unter Flupirtin! Das Risiko jeglicher Organschädigung liegt für Diclofenac bezüglich gastrointestinaler Blutungen 432- und bezüglich Myokardinfarkten 309-mal höher als das für eine Leberschädigung unter Flupirtin. Das bedeutet, dass rechnerisch auf einen Patienten mit einer Flupirtin-assoziierten Leberschädigung rund 432 Patienten einer Diclofenac-assoziierten gastrointestinalen Blutung bzw. 309 Patienten mit einem Diclofenac-assoziierten Myokardinfarkt kommen. Ein durchaus als praktisch bedeutsam anzusehender Sicherheitsunterschied!

Risiken von Arzneistoffen im Vergleich zu den Risiken des Lebens

Bei allem Respekt vor den umfänglichen Bemühungen des PRAC stellt sich darüber hinaus doch auch die Frage, wie sicher ein Arzneistoff heute sein muss, damit er noch eine Zulassung für die Anwendung am Menschen erhalten kann. Vergleicht man vor dem Hintergrund der für Diclofenac (und insbesondere!) für Flupirtin berechneten Todesfallhäufigkeiten die entsprechenden Ereignisraten alltäglicher Handlungen, die wir alle bedenkenlos ausführen, dann ist zu befürchten, dass hier das entsprechende Augenmaß verloren gegangen bzw. zumindest „aus dem Blick“ verloren wurde. So liegt das Todesfallrisiko z.B. für landwirtschaftlich tätige Menschen in den USA bei 1/3425 und Jahr und damit ca. zehnmal höher als das von Werktätigen im Dienstleistungssektor mit 1/34.483 und Jahr. Jedes Jahr stirbt eine von 7875 Hausfrauen infolge eines Haushaltsunfalls und einer von 47.273 Fußgängern stirbt im Straßenverkehr. Risiken die – obwohl um ein Vielfaches höher als die oben genannten Arzneimittelrisiken – alltäglich von allen in den westlichen Industrienationen lebenden Menschen bedenkenlos eingegangen und unbewusst in Kauf genommen werden. Ist es vor dem Hintergrund dieser Daten realistisch, anzunehmen, dass die Risiken von Arzneistoffen so viel geringer sein müssen? Und wenn ja, wie viele Arzneistoffe gibt es, die diesen – aus Sicht vieler Experten unrealistischen – Anforderungen noch genügen? Und warum führen die berichteten Risikoraten bei unterschiedlichen Arzneistoffen zu unterschiedlichen Bewertungen? Warum führt ein rechnerisch 400- bis 800-fach höheres Todesfallrisiko bei dem einen Arzneistoff nur zu einer unbedeutenden Anwendungsbeschränkung und das 400- bis 800-fach geringere Todesfallrisiko bei einem anderen Arzneistoff zu einer deutlichen Anwendungsbeschränkung? Fragen über Fragen, bei deren Beschäftigung dem kritischen Betrachter nur noch mehr Fragen in den Sinn kommen.

Nichts tun bzw. nichts verordnen hilft leider auch nicht!

Die Diskussionen über die Schmerzmittel haben aber auch den Arzneimittelmarkt in Deutschland beeinflusst. So weist der Arzneimittelreport 2012 aus, dass der Anteil der Opioid-Analgetika an der Schmerzmedikation seit Jahren kontinuierlich ansteigt, die Nicht-Opioide allerdings seit 2009 stagnieren [8]. Das liegt, so der Arzneiverordnungs-Report, an dem Rückgang von ASS (von 108 Mio. DDD 2004 auf 18 Mio. DDD 2011) und Paracetamol (von 53 Mio. DDD 2004 auf 13 Mio. DDD 2011), wogegen z.B. Metamizol (als verschreibungspflichtiges Produkt) einen erstaunlichen Höhenflug (von 47 Mio. DDD 2004 auf 135 Mio. DDD 2011) erlebt. Ob das von den „Kämpfern gegen ASS und Paracetamol“ so gewollt war? Aufgrund des Agranulozytoserisikos wurde Metamizol in einigen Ländern vom Markt genommen bzw. nicht zugelassen, unter anderem in Schweden, Dänemark, Griechenland, Island, England und den USA. In Deutschland war es bis 1987 rezeptfrei erhältlich. Das absolute Mortalitätsrisiko beträgt unter Berücksichtigung der relevanten Komplikationen und Nebenwirkungen bei Metamizol 25 Todesfälle pro 100 Millionen Behandlungen und ist damit deutlich geringer als bei der Anwendung von Acetylsalicylsäure (185) oder Diclofenac (592).

Die „neue“ Sichtweise des PRAC auf das Arzneimittelrisiko lässt befürchten, dass insbesondere für Patienten mit chronischen Schmerzen bald nur noch sehr eingeschränkt apotheken- und verschreibungspflichtige Schmerzmittel zur Verfügung stehen oder sich der naheliegende Fehlgebrauch bzw. Off-label-use mangels Alternativen weiter ausweiten wird.

Offensichtlich stehen Wirksamkeit und Verträglichkeit von Arzneistoffen in einem wohl abzuwägenden Verhältnis zueinander. Es darf nicht unterschätzt werden, dass auch eine Nichtbehandlung mit einem nennenswert erhöhten Risiko einhergehen kann. Eine Nichtbehandlung muss kritisch bewertet, überdacht oder unterlassen werden, wenn es bei vergleichbarer Wirksamkeit besser verträgliche Alternativbehandlungen gibt oder der Spontanverlauf in absehbarer Zeit zu ähnlichen Beschwerdelinderungen führt.

Kritisch ist anzumerken, dass die Hypothese, man könne die Sicherheit von Menschen mit chronischen nicht-tumorbedingten Schmerzen dadurch erhöhen, dass man ihnen keine „potenziell nebenwirkungsträchtigen“ Arzneistoffe verordnet, sich angesichts der erst jüngst erschienenen Übersichtsarbeit von Ilgen et al. [9] genau als das entpuppt, was sie schon immer war: extrem wirklichkeitsfremd. Wie sonst soll man die in genannter Arbeit eindrücklich erhöhten Suizidraten von Menschen mit chronischen nicht-tumorbedingten Schmerzen sonst bezeichnen? Nichts tun hilft eben dann auch nicht, wenn die Krankheit an sich auch schon mit einem erhöhten Sterblichkeitsrisiko einhergeht.

Chronische Schmerzen sind gerade dann alles andere als harmlos, wenn sie nicht durch einen Tumor ausgelöst werden. Deshalb müssen die mit der Verordnung eines Arzneistoffes verbundenen Risiken – sowohl für Leib und Leben, als auch bezüglich nicht-lebensbedrohlicher Beeinträchtigungen – nicht nur in Relation zu den Risiken gesetzt werden, mit denen chronisch (Schmerz-)Kranke tagtäglich konfrontiert werden, sondern auch in Relation zu den Risiken, die mit Leben an sich und einer aktiven Teilhabe daran verbunden sind. Ob die aktuelle Entwicklung Patienten und Therapeuten wirklich helfen kann, des zunehmenden Problems chronischer nicht-tumorbedingter Schmerzen Herr zu werden, darf getrost bezweifelt werden! 

Quelle

[1] Brune K. Gastkommentar: Paracetamol: Ein Wolf im Schafspelz läuft frei herum! DAZ 2010; 49, 42–43.

[2] Vonhoff A. Tödliche Schmerzmittel verbieten? Aspirin und Paracetamol gefährden Leben. Focus-Online, 19. Januar 2012.

[3] Brune, K. Paracetamol – ein Wolf im Schafspelz BIOspektrum 2009 5: 475.

[4] Rotthauwe, J. Wirksamkeit und Risiken von Paracetamol. Bulletin zur Arzneimittelsicherheit, 2012; 3, 11–14.

[5] Coxib and traditional NSAID Trialists’ (CNT) Collaboration. Vascular and upper gastrointestinal effects of non-steroidal anti-inflammatory drugs: meta-analyses of individual participant data from randomised trials. Lancet 2013; Published Online dx.doi.org/10.1016/S0140-6736(13)60900-9.

[6] Meta-Analyse bestätigt kardiovaskuläre Risiken von NSAR. www.aerzteblatt.de/nachrichten/54602/

[7] Moore RA, Derry S, McQuay HJ, Paling J. What do we know about communicating risk? A brief review and suggestion for contextualising serious, but rare, risk, and the example of cox-2 selective and non-selective NSAIDs. Arthritis Research & Therapy 2008, 10:R20 (doi:10.1186/ar2373; aufgerufen 19. Juli 2013.

[8] Schwabe U, Paffrath D. Arzneimittelverordnung-Report 2012, Springer Medizin Verlag.

[9] Ilgen MA, Kleinberg F et al. Noncancer pain conditions and risk of suicide. JAMA Psychiatry. Published online May 22, 2013. doi:10.1001/jamapsychiatry.2013.908, aufgerufen 19. Juli 2013.

 

Anschrift der Verfasser

Prof. Dr. rer. nat. Harald G. Schwei, Drug Regulatory Affairs, Universität Bonn, Gerhard-Domagk-Str. 3, 53121 Bonn

Priv.-Doz. Dr. med. Michael A. Überall, Institut für Neurowissenschaften, Algesiologie und Pädiatrie (IFNAP), Nürnberg, Theodorstraße 1, 90489 Nürnberg

 

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