Arzneimittel und Therapie

Sinnvoll auswählen!

Fünf Handlungsempfehlungen für die Behandlung geriatrischer Patienten

80% der Erwachsenen, die 65 Jahre und älter sind, haben mindestens eine chronische Erkrankung, ungefähr 50% haben drei und mehr. Da immer mehr Menschen ein höheres Lebensalter erreichen, ist es sehr wahrscheinlich, dass sich vermehrt gerade ältere Patienten medizinischen Behandlungen unterziehen müssen. Da diese Gruppe in klinischen Studien deutlich unterrepräsentiert ist, ist die Evidenzlage für viele dieser Maßnahmen schlecht.

Das erklärte Ziel sollte es sein, die Prävalenz der Multimorbidität bei älteren Patienten zu berücksichtigen und so die Lücken in den bestehenden Leitlinien und Therapie-Algorithmen zu schließen. Einzelne Behandlungsmethoden und Tests sollten auf ihr mögliches Risiko oder ihren möglichen Nutzen bei älteren multimorbiden Patienten eingehend überprüft werden. Da dies jedoch ein komplexes und zeitraubendes Vorhaben ist, hat die American Geriatrics Society (AGS) nun fünf evidenzbasierte Handlungsempfehlungen für die Versorgung geriatrischer Patienten veröffentlicht, auf die sich Ärzte, Apotheker und auch Patienten in der Zwischenzeit stützen können. Die Arbeitsgruppe hat aus über 300 Vorschlägen fünf Hauptpunkte auf Basis von klinischen Studien herausgearbeitet und als Handlungsempfehlungen für die Behandlung geriatrischer Patienten zusammengefasst.

Antipsychotika nicht erste Wahl

Antipsychotika sollten nicht als Mittel der ersten Wahl bei der Behandlung von psychischen und Verhaltensauffälligkeiten bei Demenz-Erkrankungen verwendet werden. Besser sei es, bei aggressivem Verhalten die Ursachen für die Verhaltensänderungen zu erkennen.

Dieser Ansatz ist gut, doch leider sind Zeit und Zuwendung gerade auch in Alten- und Pflegeheimen keine Selbstverständlichkeit. Durch den Fachkräftemangel arbeiten in den Heimen mehr und mehr Hilfskräfte, die mit dem herausfordernden Verhalten der Demenzpatienten häufig überfordert sind. Folglich werden häufiger antipsychotische Substanzen verschrieben, um Unruhe und Aggression in den Griff zu bekommen, obwohl Antipsychotika nur begrenzt helfen. Hier kann sich der Apotheker beratend einbringen, indem er Dosierungsempfehlungen bei Beginn einer Therapie mit Antipsychotika (start low, go slow) und zur ausschleichenden Dosierung geben kann sowie bei Schulungen des Pflegepersonals auf unerwünschte Wirkungen der Antipsychotika eingehen kann.

Moderate Blutzuckerkontrolle

Bei den meisten Patienten über 65 Jahren sollte keine strikte, aggressive Reduktion des HbA1c-Spiegels von unter 7,5% angestrebt werden, besser sei eine moderate Blutzuckerkontrolle.

Eine strikte, aggressive Reduktion des HbA1c-Wertes bei älteren Menschen führt in vielen Fällen zu höheren Hypoglykämie-Raten. Bedenkt man zudem die lange Zeitspanne, die notwendig ist, um mögliche theoretische Vorteile einer guten Blutzuckerkontrolle zu erzielen, sollte die Glucose-Einstellung den individuellen Gesundheitszustand sowie die Lebenserwartung berücksichtigen. Empfohlen werden HbA1c-Werte von

  • 7,0 bis 7,5% bei gesunden älteren Patienten mit langer Lebenserwartung,
  • 7,5 bis 8,0% bei moderater Komorbidität und einer Lebenserwartung von < 10 Jahren und
  • 8,0 bis 9,0% bei multimorbiden Patienten mit kürzerer Lebenserwartung.

Benzodiazepine richtig einsetzen

Bei älteren Patienten sollten keine Benzodiazepine oder andere sedativ-hypnotische Wirkstoffe als Mittel der ersten Wahl gegen Schlaflosigkeit, Unruhe oder Verwirrtheit eingesetzt werden. Das Risiko von Hospitalisierungen und Todesfällen nach Stürzen und Hüftfrakturen sei bei Einnahme dieser Wirkstoffe erhöht.

Umfangreiche Studien haben wiederholt bewiesen, dass sich das Risiko von Hospitalisierungen und Todesfällen nach Autounfällen, Stürzen und Hüftfrakturen durch die Einnahme dieser Arzneien mehr als verdoppelt. Die Anwendung sollte auf die Behandlung von Symptomen eines Alkoholentzugs/Delirium tremens und schwere generalisierte, therapieresistente Angstzustände beschränkt bleiben.

Die Bewertung von kurzwirksamen Benzodiazepinen bezüglich des Sturzrisikos ist etwas günstiger. Flurazepam, Chlordiazepoxid und Oxazepam dagegen erwiesen sich als die risikobehaftetsten Einzelpräparate. Wichtiger als die Halbwertszeit scheint die absolute Dosis des verordneten Präparats zu sein. Höhere Dosen werden schlecht toleriert (prolongierte Sedierung, Sturzrisiko). Langwirksame Benzodiazepine sollten vermieden, kurzwirksame so niedrig wie möglich dosiert werden. Benzodiazepine gelten aber immer noch als sichere Medikamente, wenn sie richtig indiziert sind und dosiert werden.

Vor allem sollte man bei der Kombination aus Benzodiazepinen mit anderen Arzneimitteln, die das Sturzrisiko fördern, wie Neuroleptika, Trizyklika, SSRI, SSNRI, MAO-Hemmer, anticholinerge Medikamente , Opioidanalgetika, Antihistaminika, verschiedene Antihypertensiva, Antiarrhythmika, Nitrate und andere Vasodilatatoren, Digoxin, Antivertiginosa und orale Antidiabetika vorsichtig sein.

Choosing wisely

Choosing wisely („sinnvoll auswählen“) ist eine Initiative der Advancing Medical Professionalism to Improve Health Care Foundation aus den USA. Zusammen mit Medizinern und Heilberuflern aus verschiedenen Fachbereichen hat die Initiative Listen erstellt, in denen jeweils fünf Tests oder Therapien für den jeweiligen Fachbereich identifiziert werden, die hinterfragt oder diskutiert werden sollten (Five Things Physicians and Patients Should Question). Es gibt zurzeit Listen für 26 Fachbereiche, z.B. Allergologie, Palliativmedizin, Neurologie, Rheumatologie, Kardiologie etc. Abrufbar unter www.choosingwisely.org/doctor-patient-lists/.

Bakteriurie nicht in jedem Fall behandeln

Tritt eine Bakteriurie auf, sollten keine Antibiotika angewendet werden, außer es liegen spezifische Harnwegssymptome vor.

Solange die Bakteriurie asymptomatisch verläuft, sollten noch keine Antibiotika bei älteren Patienten zum Einsatz kommen. Mehrere Studien zeigten, dass mehr negative Effekte durch die antibiotische Behandlung aufgetreten waren, die Antibiotika selbst aber nicht von Nutzen waren.

Besser assistiert oral als Magensonde

Bei Patienten mit fortgeschrittener Demenz sollte keine perkutane Magensonde empfohlen werden, stattdessen sollte eine assistierte orale Ernährung angeboten werden.

Auch hier spielen in Pflegeheimen der Zeitfaktor und der Personalschlüssel eine große Rolle. Es hat sich gezeigt, dass das Risiko für Sterblichkeit und Aspirationspneumonie ähnlich groß ist bei Demenzpatienten mit Ernährungssonde im Vergleich mit Patienten, die gefüttert werden. Lebensqualität und Patientenkomfort sprechen daher eindeutig für die orale Ernährung.

Was können Apotheken tun?

Gerade Altenheim-versorgende Apotheken können einen wichtigen Beitrag in der adäquaten Versorgung der Heimbewohner leisten:

  • Weniger ist bei manchen geriatrischen Patienten mehr. Der Apotheker kann dem verschreibenden Arzt beratend zur Seite stehen und mit weiterführenden Schulungen für das Pflegepersonal immer wieder auf diese Punkte hinweisen. Gerade ältere, multimorbide Patienten lassen sich schlecht kategorisieren, daher muss bei jeder Therapieentscheidung der Patient im Vordergrund stehen, und es muss bei jedem Patienten individuell entschieden werden, ob ein Test oder eine Therapie sinnvoll ist oder nicht.
  • Klare Anweisungen wie in diesen Empfehlungen sind sinnvoll und auch kostengünstiger. 

Quelle

[1] AGS Choosing Wisely Workgroup. American Geriatrics Society Identifies Five Things That Healthcare Providers and Patients Should Question. JAGS (2013) 61: 622–631.

[2] van der Velde N et al. Risk of falls after withdrawal of fall-risk-increasingdrugs: a prospective cohort study. Br J Clin Parmacol (2006) 63: 232–237.

 

Apothekerin Ina Richling, Pharm D

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