Arzneimittel und Therapie

Volumenersatz mit HES vor dem Aus?

PRAC-Empfehlung löst unterschiedliche Reaktionen aus

Von Doris Uhl |Die Diskussion um die Sicherheit einer Volumenersatztherapie mit Hydroxyethylstärke-haltigen Lösungen schwelt schon länger. Zwei große Studien, die 6S und CHEST (s. Kasten), hatten gezeigt, dass HES bei kritisch-kranken Patienten im Vergleich zu kristalloiden Lösungen das Risiko für ein Nierenversagen mit anschließender Dialysepflicht erhöht. Geht es nach der im Juni veröffentlichten Empfehlung des Pharmacovigilance Risk Assessment Committee (PRAC) der EMA, dann sollte für alle HES-Präparate bei allen Indikationen die Zulassung aufgehoben werden. Dafür gibt es Zustimmung, aber es regt sich auch Widerstand.

Vor dem Hintergrund der Diskussionen um das Nutzen-Risiko-Verhältnis HES-haltiger Präparate zur Volumensubstitution hatte die EMA aus Antrag des BfArM im März 2013 ein Risikobewertungsverfahren eingeleitet, das im Juni dieses Jahres in der Empfehlung des PRAC mündete, die Zulassung für HES-Präparate aufzuheben. Während Baxter sein HES-Präparat PlasmaVolume Redibag freiwillig zurückgerufen hat, haben andere Hersteller gegen das abgeschlossene Risikobewertungsverfahren Widerspruch nach Artikel 32 der Richtlinie 2001/83/EG eingelegt und eine nochmalige Überprüfung (Re-examination) der PRAC-Empfehlung beantragt.

6S-Studie


Es handelt sich um eine randomisierte klinische Studie mit 798 Patienten mit schwerer Sepsis, in der 6% HES (130/0.42) mit Ringer-Acetat-Lösung verglichen wurde. Nach 90 Tagen war bei 22% der Patienten der HES-Gruppe eine Nierenersatztherapie notwendig, in der Ringer-Acetat-Gruppe bei 16%. Zudem war das Risiko für schwere Blutungen in der HES-Gruppe deutlich erhöht (10% vs. 6%).

Perner A et al.: Hydroxyethyl Starch 130/0.42 versus Ringer‘s Acetate in Severe Sepsis. N Engl J Med 2012; 367:124-134


CHEST-Studie


In der Cristalloid versus Hydroxyethyl Starch Trial (CHEST) wurde bei 7000 intensivmedizinisch betreuten Patienten geprüft, wie sich ein Volumenersatz mit NaCl 0,9% im Vergleich zu 6% HES (130/0.4) auf das Überleben und die Nierenfunktion auswirkt. Nach 90 Tagen bestand hinsichtlich des Überlebens kein Unterschied, allerdings war bei den Patienten der HES-Gruppe häufiger eine Nierenersatztherapie erforderlich (5,3% vs. 2,8%).

Myburgh JA et al.: Hydroxyethyl Starch or Saline for Fluid Resuscitation in Intensive Care N Engl J Med 2012; 367:1901-1911

Marktrücknahme in Großbritannien

Während das BfArM lediglich empfiehlt, bis zum Abschluss des Verfahrens von der Anwendung HES-haltiger Infusionslösungen abzusehen, ist in Großbritannien zwischenzeitlich eine Marktrücknahme aller HES-haltigen Präparate angeordnet worden. Damit wurde automatisch auf europäischer Ebene, neben dem Widerspruchsverfahren der Hersteller, ein neues Risikobewertungsverfahren nach Artikel 107i der Richtlinie 2001//83/EG eingeleitet.

Widerstand von deutschen Fachgesellschaften

In Großbritannien scheint die Zustimmung zur Einschätzung des PRAC groß zu sein. Sie wurde von verschiedenen britischen Fachgesellschaften begrüßt, nicht dagegen von der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI), der Berufsverband Deutscher Anästhesisten und die Deutsche Akademie für anästhesiologische Forschung. Sie wünschen sich eine differenziertere Betrachtungsweise. Die Voraussetzung dafür, die Zulassung bei allen Indikationen auszusetzen, sehen sie nur für HES-Lösungen mit einem mittleren Molekulargewicht von 200 kDa als gegeben an. Bei einem mittleren Molekulargewicht von 130 kDA empfehlen sie einen Verzicht in der intensivmedizinischen Behandlung solange, bis die Risikobewertung abgeschlossen ist. Probleme werden im perioperativen Bereich gesehen. Es würden Alternativsubstanzen mit Wirkung auf das intravasale Volumen fehlen. Gelatine habe einen geringeren Volumeneffekt und ein im Vergleich zu HES erhöhtes Anaphylaxie-Risiko. Das Nutzen-Risiko-Verhältnis für Humanalbumin in der perioperativen Volumenersatztherapie sei nicht eindeutig belegt.

Prof. Dr. Konrad Reinhart, Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin der Universitätsklinik Jena, und seine Mitarbeiterin, PD Dr. Christiane Hartog, hatten schon mit Bekanntwerden der Studienergebnisse vor der Verwendung von HES zur Volumensubstitution bei kritisch-kranken Patienten gewarnt (DAZ 2011, Nr. 5, S. 63; DAZ 2012, Nr. 35, S. 34). Wir haben mit ihnen die neue Situation erörtert und sie gebeten, zu den Positionen der deutschen Fachgesellschaften Stellung zu nehmen.


PD Dr. Christiane Hartog

DAZ: Frau Doktor Hartog, Herr Professor Reinhart, das PRAC hat im Juni empfohlen, die Zulassung für alle HES-Präparate und für alle Indikationen auszusetzen. Wie bewerten Sie diese Empfehlung?

Hartog: Diese Empfehlung ist folgerichtig, da das Nutzen-Risiko-Verhältnis eindeutig zu ungunsten von HES ausfällt. Es konnte bisher niemals gezeigt werden, dass HES für Patienten jenseits der Kreislauf stabilisierenden Effekte einen für den Patienten relevanten Nutzen hat. Alle Meta-Analysen und Studien mit hoher Qualität und geringem Risiko für Bias zeigen ein erhöhtes Risikopotenzial für Intensivpatienten und Patienten mit Sepsis. Auch die wenigen Studien aus dem operativen und Trauma-Bereich, für die es einen Beobachtungszeitraum von 90 Tagen gibt, zeigen einen deutlichen Trend zu ungunsten von modernen HES-Lösungen [1]. Inzwischen haben die britischen Behörden HES vom Markt genommen und die italienischen Behörden die Nutzung bis zur endgültigen Entscheidung der EMA untersagt.


Prof. Dr. Konrad Reinhart

DAZ: Kritisiert wird vor allem die 6S-Studie, die zu dem Ergebnis kam, dass eine Nierenersatztherapie unter HES häufiger notwendig war als unter Ringeracetat-Lösung. Im "Spiegel" war zu lesen, dass der Blutdruck bei einem Großteil der Patienten in der kritischen Notfallphase vor der Randomisierung mit HES stabilisiert worden sei und so die Patienten in der HES-Gruppe offenbar mehr von der Lösung bekamen als nötig. Ist dieser Einwand berechtigt?

Reinhart: Dies ist ein Scheineinwand. Aus Gründen der Patientensicherheit wurde HES in dieser Studie sehr restriktiv verwendet. Eine der Sicherheitsmaßnahmen war, die Tageshöchstdosis für die Studienlösung auf 33 ml/kg zu begrenzen. Deshalb erhielten die Patienten in der 6S-Studie insgesamt – also über den gesamten Studienverlauf – eine kumulative HES-Dosis von nur 44 ml/kg. Dies liegt noch unter der vom Hersteller empfohlenen maximalen Eintagesdosis (50 ml/kg). D. h., die um 6% höhere Häufigkeit an Nierenersatzverfahren und die um 8% höhere 90-Tage-Sterblichkeit traten schon bei einer Dosis auf, die während eines Tages verabreicht werden darf.

Außerdem wurden keine Patienten in die Studie eingeschlossen, die mehr als 1000 ml synthetische Kolloide in den 24 Stunden vorher erhalten hatten. Damit es am 1. Tag der Studie nicht zu einer potenziellen Überschreitung von Höchstdosen kam, wurde das bereits verabreichte Volumen von synthetischen Kolloiden auf die errechnete Tages-Maximaldosis für den betreffenden Patienten angerechnet. Jeder Intensivmediziner, der schon einmal einen Sepsispatienten behandelt hat, weiß, dass man mit einem Liter HES keinen Patienten mit schwerer Sepsis stabilisieren kann und dass diese Patienten in den ersten 48 – 96 Stunden einen erheblichen Volumenbedarf von oft 5 – 10 Litern und mehr aufweisen. Den skandinavischen Kollegen, die hinsichtlich der Studienmedikation verblindet waren, zu unterstellen, sie hätten ihre Patienten mit Volumen übertherapiert, ist entweder Unwissenheit oder wahrscheinlicher die Fortsetzung einer seit Jahrzehnten gepflegten Strategie, die darin besteht, für HES negative Studien als fehlerhaft zu kritisieren, obwohl sie methodisch von hoher Qualität sind. Dies ist sehr bedauerlich, da die Kritiker über 40 Jahre nicht in der Lage waren, eine einzige Studie durchzuführen bzw. zu publizieren, die in der Lage gewesen wäre, den Nutzen von HES zu belegen. Selbst wenn es eine Übertherapie gegeben hätte würde die Studienergebnisse belegen, dass eine Übertherapie mit HES weit gefährlicher ist als eine mit Ringer-Acetat-Lösung.


DAZ: Gibt es Gründe, Differenzierungen hinsichtlich des mittleren Molekulargewichts und der Indikationen vorzunehmen, so wie es die DGAI vorschlägt?

Hartog: Nein. Die Ergebnisse der 6S- und der CHEST-Studie mit HES 130/0.4 zeigen klar, dass die bekannten Nebenwirkungen von HES nicht auf sog. alte HES-Präparationen mit höherem Molekulargewicht und Substitutionsgrad beschränkt sind. Deshalb kommt sowohl die FDA als auch das PRAC zu der Bewertung, dass es sich um einen "Klasseneffekt" von HES handelt. Mit dem Argument, Nephrotoxizität von HES-Lösungen sei ein Problem der benutzten Lösungen, wurden früher bereits die Studie von Frederique Schortgen (HES 200/0.6) [2] und die VISEP-Studie (HES 200/0.5) [3] kritisiert. Es gab niemals eine Studie, die gezeigt hätte, dass neuere HES-Lösungen sicherer sind. Erst die von unabhängigen Studiengruppen und mit öffentlichen Mitteln co-finanzierten 6S- und CHEST-Studien untersuchten die Sicherheit des neuen HES 130 mit adäquatem Studiendesign.


DAZ: Welche Empfehlungen geben Sie für den perioperativen intravasalen Volumenersatz? Teilen Sie die Bedenken der DGAI hinsichtlich Gelatine und Humanalbumin?

Reinhart: Wir konnten nach der Abschaffung von HES und Gelatine und die Beschränkung auf kristalloide Lösungen im OP bei über 6000 herzchirurgischen und über 500 Patienten mit großer Leberchirurgie zeigen, dass der nahezu ausschließliche Einsatz von Kristalloiden mit einer signifikant geringeren Rate an Nierenversagen und einem verminderten Einsatz von Blutprodukten assoziiert war. Solange die Überlegenheit von HES gegenüber Kristalloiden in dieser Indikation nicht belegt ist, sollte aus Gründen der Patientensicherheit auch dort HES nicht eingesetzt werden. Wir hatten unter der Annahme, dass Kolloide Kristalloiden überlegen sind, HES 130/0.4 zunächst durch Gelatine ersetzt, mussten aber in den o. g. Beobachtungsstudien feststellen, dass die Nebenwirkungen unter Gelatine noch gravierender sind als mit HES. Gelatine wurde ja schon in den 70er Jahren in den Vereinigten Staaten wegen vermehrten Blutungskomplikationen vom Markt genommen und ist ebenso wie HES ein synthetisches Kolloid mit einem ähnlichen Risikoprofil, das vom Körper als Fremdkörper wahrgenommen wird und mit einer im Vergleich zu HES größeren Allergierate einhergeht. Die Datenlage für klinische Studien mit Gelatine ist noch spärlicher, als sie bis 2006 für HES war [4]. Auf Gelatine sollte deshalb verzichtet werden. Die Sicherheit von Humanalbumin ist sicher wesentlich besser belegt als für HES und Gelatine. In der perioperativen Phase gibt es nach derzeit gültigen Leitlinien nur in Ausnahmefällen – z. B. bei Patienten mit schwerem Leberversagen oder Patienten mit septischem Schock – eine Indikation für Humanalbumin.


DAZ: HES wird auch im Rahmen einer Tinnitus-Behandlung eingesetzt. Welche Alternativen stehen hier zur Verfügung?

Hartog: HES bietet auch bei Tinnitus keine Vorteile für Patienten [5] und ist schon alleine deswegen nicht indiziert, ganz abgesehen von den Sicherheitsbedenken. Auch in dieser Indikation wurden nie positive Effekte durch HES belegt und ebenfalls Nebenwirkungen wie Pruritus gefunden. Ob überhaupt durch sogenannte rheologische Maßnahmen Tinnitus zu verbessern ist, sollte in der HNO-Literatur recherchiert werden.


DAZ: Volumenersatz ist ein heiß umkämpfter Markt. Befürworter und Gegner einer HES-Therapie sollen nicht frei von Hersteller-Interessen sein, so der Vorwurf. Wie stehen Sie zu dieser Kritik?

Reinhart: Interessenskonflikte, d. h. finanzielle Beziehungen zu Herstellerfirmen z. B. durch Vortragshonorare, finanzielle Unterstützung von Reisen, Beraterhonorare oder Studienförderung müssen transparent gemacht und angegeben werden. Wahr ist, dass auch die großen, für HES negativen Studien von HES-Herstellern co-finanziert waren und einige der Kritiker Interessenskonflikte durch bezahlte Vortragstätigkeit mit HES-Herstellern hatten. Dies belegt, dass nicht jeder Interessenskonflikt dazu führen muss, die Prinzipien der evidenzbasierten Medizin und die objektive Beurteilung von Studienergebnissen aufzugeben. Wir konnten jedoch in einer Untersuchung von über 220 Review-Artikeln zu HES zeigen, dass ein Zusammenhang zwischen den Interessenskonflikten der Autoren und für HES positiven Reviews besteht. Interessanterweise stammten 22 dieser narrativen Reviews von Herrn Boldt, der später des Wissenschaftsbetrugs überführt wurde [6]. Da inzwischen im Rahmen von Publikationen die entsprechenden Interessenskonflikte angegeben werden müssen, kann sich hier jeder Leser sein eigenes Bild machen.


[1] Hartog CS et al. Volumentherapie mit Hydroxyethylstärke beim kritisch Kranken: Eine Neubewertung. Dtsch Ärztebl, 2013. 110(26): p. 443 – 450.

[2] Schortgen F et al. Effects of hydroxyethylstarch and gelatin on renal function in severe sepsis: a multicentre randomised study. Lancet, 2001. 357(9260): p. 911– 6.

[3] Brunkhorst FM et al. Intensive insulin therapy and pentastarch resuscitation in severe sepsis. N Engl J Med, 2008. 358(2): p. 125 – 39.

[4] Thomas-Rueddel DO et al. Safety of gelatin for volume resuscitation-a systematic review and meta-analysis. Intensive Care Med, 2012. 38(7): p. 1134 – 42.

[5] Klemm E et al. Hemodilution therapy with hydroxyethyl starch solution (130/0.4) in unilateral idiopathic sudden sensorineural hearing loss: a dose-finding, double-blind, placebo-controlled, international multicenter trial with 210 patients. Otol Neurotol, 2007. 28(2): p. 157– 70.

[6] Hartog CS et al. Systematic analysis of hydroxyethyl starch (HES) reviews: proliferation of low-quality reviews overwhelms the results of well-performed meta-analyses. Intensive Care Med, 2012. 38(8): p. 1258 – 71.

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