DAZ aktuell

Wir waren mal führend

Gerhard Schulze

Als ich zur Vorbereitung dieser Kolumne meinen Zettelkasten durchforstete, suchte ich nach einem eher apothekenfernen Thema, das aber trotzdem in den Rahmen der Deutschen Apotheker Zeitung mit ihrer Offenheit für den aktuellen Stand des medizinisch-pharmazeutischen Wissens hineinpasste.

Eine Meldung aus dem Jahr 2003 fiel mir als erste ins Auge. Das ist nun nicht gerade aktuell, und genau das ist bemerkenswert, ja sogar, wie ich finde, beunruhigend. Es ging um die therapeutischen Möglichkeiten der Bor-Neutroneneinfangtherapie (BNCT), genauer gesagt um die Bestrahlung einer menschlichen Leber mit thermischen Neutronen an der Universität von Pavia. Ein an Darmkrebs erkrankter Patient, dessen Primärkarzinom bereits entfernt war, litt zusätzlich unter Tochtergeschwülsten der Leber, an denen er bald gestorben wäre, hätten sich seine Ärzte nicht zu einem zweiten Eingriff entschlossen. Unter Leitung von Tavio Pinelli erprobten sie ein neues Verfahren: Sie injizierten vor der Operation Borphenylalanin (BPA), dann nahmen sie die Leber aus dem Körper und bestrahlten sie im klinikeigenen Triga Mark 2 Reaktor mit thermischen Neutronen. Das in der Leber wartende Bor 10 fing die Neutronen ein. Der anschließende Zerfall in Lithium- und Helium-Kerne zerstörte aufgrund seiner geringen Reichweite nur das umliegende Tumorgewebe. Die Leber wurde erfolgreich wieder eingesetzt. Noch ein Jahr später lebte der Patient, im Organ hatten sich keine neuen Tumore gebildet.

Professor Wolfgang Sauerwein, leitender Oberarzt an der Klinik für Strahlentherapie am Universitätsklinikum Essen, wies mich darauf hin, dass bisher nur zwei Bestrahlungen der Leber, beide in Pavia, durchgeführt wurden. Wegen der Kompliziertheit des Eingriffs seien dies Einzelfälle geblieben. Man forscht jedoch sowohl dort wie auch am Institut für Kernchemie der Johannes Gutenberg Universität in Mainz weiter an der externen Bestrahlung von Leberkrebs mit BNCT.

Der Triga Mark 2 Reaktor wurde 1960 in den USA entwickelt, in Mainz 1967 in Betrieb genommen. Auch die zwei Forschungsreaktoren anderen Typs an den Universitätskliniken in Berlin und München sind Relikte aus einer fernen Zeit. Ob sie stillgelegt werden, ist derzeit noch offen. Auf jeden Fall aber scheint niemand daran zu denken, sie durch neue, bessere Modelle zu ersetzen.

Ganz anders in Japan, trotz Fukushima. Seit den 1980er Jahren wurden dort 500 Patienten mit BNCT behandelt, so Professor Jun Itami, Leiter der Abteilung Strahlentherapie am National Cancer Center Hospital in Tokio. Behandelt wurden Hirntumore und verschiedene Formen von Hautkrebs, die bereits austherapiert waren. Die Patienten mussten dazu in herkömmlichen Kraftwerken bestrahlt werden, die für medizinische Zwecke kaum geeignet sind. Eine mühsame Prozedur für Patienten und Ärzte, meint Professor Itami.

Schlüsseltechnologie für die Behandlung zukünftiger Krebspatienten am National Cancer Center wird ein speziell für die BNCT entwickelter Reaktor auf dem Klinikgelände sein, der voraussichtlich 2014 in Betrieb gehen und die für die Therapie benötigten thermischen und epithermischen Neutronen produzieren wird.

In Deutschland spielt die BNCT inzwischen eine Nebenrolle. Dabei war gerade die Universitätsklinik Essen, an der auch Professor Itami ausgebildet wurde, einmal führend in der Erforschung dieser Therapie. Professor Sauerwein, der mit anderen Kollegen am High Flux Reaktor (HFR) in Petten, Niederlande, eine thermische Neutronenquelle zur Verfügung hatte: "2008 bekamen wir den Geldhahn zugedreht. Wir waren zu erfolgreich und hatten eine zu gute Presse."

Professor Roland Schenkel, ehemaliger Generaldirektor des Joint Research Centers, eine Einrichtung der Europäischen Union, beendete die Zusammenarbeit zwischen der Uniklinik Essen und dem HFR Petten. Er hat sich auf meine diesbezügliche Anfrage nicht geäußert, ich kann also hier über die Gründe dafür nur spekulieren: Bahnbrechende Erfolge in der Strahlentherapie sind in Deutschland politisch unerwünscht. Spätestens seit der Energiewende, aber auch schon davor, darf man kein gutes Haar mehr an der Kerntechnik lassen. Auch in der für die BNCT so wichtigen Borchemie gibt es viele neue Erkenntnisse, aber das 1954 entwickelte BPA ist noch lange nicht ausgereift. Vor allem in Japan wird daran gearbeitet, in Deutschland nicht.

"BNCT ist eine feine Sache", bestätigte ein mit mir befreundeter Internist. "Wenn unsere Ärzte und Ingenieure sich dem Thema wieder vermehrt widmen würden und wenn das Bormedikament noch weiter verbessert werden könnte, dann hätten wir viele Krebsarten auf elegante Weise besiegt."

Wir nicht, aber die anderen. Hier nicht, aber anderswo. Verstehen Sie, warum mich eine zehn Jahre alte Zeitungsmeldung so beunruhigt?


Gerhard Schulze


Gerhard Schulze, geb. 1944, ist Professor für Soziologie an der Universität Bamberg. Seine Arbeiten untersuchen den kulturellen Wandel der Gegenwart.

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