Arzneimittel und Therapie

Neue S2-Leitlinie "Psychosoziales und Diabetes"

Die Behandlung des Diabetes kann nur erfolgreich verlaufen, wenn der Erkrankte die Therapiemaßnahmen dauerhaft und eigenständig durchführt. Die adäquate Umsetzung der Diabetestherapie wird durch psychosoziale Probleme und psychische Erkrankungen erschwert. Es resultiert eine schlechtere Blutzuckereinstellung, wodurch das Risiko für Folgeerkrankungen gesteigert wird und es zu einer Verringerung der Lebensqualität und Lebenserwartung kommt.

Im Rahmen einer Pressekonferenz der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) wurde die neue S2-Leitlinie "Psychosoziales und Diabetes" vorgestellt. Das Ziel dieser evidenzbasierten Leitlinie ist die verbesserte Diagnose der psychosozialen Faktoren sowie psychischer Erkrankungen, deren Behandlung sowie die Schulung der Betroffenen.

"Für die Therapie und die langfristige Prognose des Diabetes sind somatische und psychosoziale Faktoren gleichermaßen wichtig", so Dr. med. Erhard Siegel, Präsident der DDG und Chefarzt der Abteilung für Innere Medizin-Gastroenterologie, Diabetologie und Ernährungsmedizin, St. Josefskrankenhaus Heidelberg. "Bei der Therapie des Diabetes mellitus stehen immer noch Blutzuckerwerte sowie somatische Behandlungsziele im Vordergrund. Nur bei jedem dritten Patienten wird nach psychischen Belastungen im Zusammenhang mit Diabetes gefragt", kritisierte Dr. habil. Dipl.-Psych. Bernhard Kulzer, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Diabetes und Psychologie der DDG. Es existieren wirksame Hilfsangebote und Therapieoptionen, jedoch erhalten Diabetiker mit psychosozialen Belastungen nur selten adäquate Hilfe durch Psychologen, Psychotherapeuten bzw. Psychiater.

Bessere Versorgung gefordert

Die nun vorgestellte S2-Leitlinie wurde von Experten aus den Fachbereichen Diabetologie, Psychosomatik, Psychologie und Psychiatrie erstellt und ist weltweit die einzige ihrer Art. Hierzu wurden aktuelle medizinische Erkenntnisse über Diabetes und deren psychosoziale Aspekte zusammengefasst und evidenzbasiert ausgewertet. Die Leitlinie gibt neben Empfehlungen zu strukturierten Schulungsangeboten und psychosozialen Behandlungskonzepten auch Hinweise zur Diagnostik und Therapie comorbider psychischer Erkrankungen bei Diabetes. Die Leitlinie enthält zudem Aspekte zur verbesserten Integration psychosozialer Konzepte in die Diabetestherapie. Gegenstand sind unter anderem im Zusammenhang mit Diabetes auftretende psychosoziale Probleme und psychische Erkrankungen wie Demenz, Depression, Ess- und Angststörungen, Suchterkrankungen sowie Schizophrenien. "Die DDG erhofft sich von allen Berufsgruppen und Patientenorganisationen, die sich mit der Betreuung von Diabetespatienten befassen, eine umfassende Umsetzung der Leitlinie in der gesamten Breite des deutschen Gesundheitssystems", betonte Siegel.

Diabetes und Demenz

Das Risiko einer gefäßbedingten Demenz ist bei Patienten mit Typ-2-Diabetes bis zu vierfach erhöht. Eine Ursache hierfür ist ein über längere Zeit erhöhter Blutzuckerspiegel, der unter anderem zu Schädigungen der Blutgefäße im Gehirn führt.

Durch die verringerte Gedächtnisleistung fällt es den Betroffenen schwerer, ihre Blutwerte zu überwachen und ihre Antidiabetika regelmäßig einzunehmen. Zudem ist das Risiko einer Hypoglykämie erhöht, da Patienten mit Demenz die Symptome einer Hypoglykämie nicht frühzeitig genug erkennen [1]. Eine schwere Unterzuckerung kann das Fortschreiten der Demenz weiterhin begünstigen.

Prof. Dr. rer. nat. Karin Lange, Fachpsychologin Diabetes aus der Arbeitsgemeinschaft Diabetes und Psychologie der DDG, riet den Ärzten bei der Behandlung von kognitiv beeinträchtigten Patienten, einen HbA1c -Wert bei etwa 8% (64 mmol/mol) anzustreben. Dies verhindere die Gefahr einer schweren Hypoglykämie. Zusätzlich sollte das Therapiekonzept möglichst einfach gehalten werden, um Betroffene und ihre Betreuer nicht zu überfordern. Darüber hinaus sprechen sich die Experten der DDG in der S2-Leitlinie für ein jährliches Demenzscreening bei Diabetespatienten über 65 Jahren mit kognitiver Beeinträchtigung aus.

Diabetes und Depression

Jeder achte Diabetespatient leidet an einer Depression, und jeder dritte weist allgemein erhöhte psychische Belastungen auf. Dabei stehen Depression und Diabetes in bidirektionalem Verhältnis zueinander. So erhöht nicht nur die Depression das Risiko, Diabetes mellitus zu entwickeln, sondern aufgrund der körperlichen Belastung und der intensiven Therapie steigt auch bei Diabetespatienten die Gefahr, an einer Depression zu erkranken.

Diabetiker mit depressiver Symptomatik stellen ihre Blutzuckerwerte schlechter ein und haben darüber hinaus einen ungesunden Lebensstil (ungünstige Ernährung, Bewegungsmangel, Rauchen). So wurde in Langzeitstudien nachgewiesen, dass Diabetespatienten mit Depression eine höhere Sterblichkeitsrate aufweisen als diejenigen ohne depressive Symptomatik. "Patienten, die wegen emotionaler Belastung Probleme mit der Diabetestherapie haben, erhalten in der klinischen Praxis nur selten adäquate Unterstützung", bemängelte Kulzer.

Zur Behandlung der depressiven Symptomatik wird in den Leitlinien eine psychotherapeutische oder pharmakologische Therapie empfohlen. Bei schwerer Depression sollten beide Therapiemaßnahmen kombiniert werden. Handelt es sich um eine Depression, die durch die körperliche Erkrankung ausgelöst wurde, so muss bei der Therapie das Augenmerk auf diese somato-psychischen Wechselwirkungen gerichtet werden. Ziel der Behandlung ist, die Depression zu mindern, die Lebensqualität zu steigern und den Patienten zu helfen, ihre körperliche Erkrankung besser zu bewältigen.

Diabetes und Essstörungen

"Der Typ-1-Diabetes entwickelt sich in den meisten Fällen im jugendlichen Alter, also in einer Zeit, in der sich Menschen intensiv mit dem eigenen Selbstwert auseinandersetzen", so Prof. Dr. med. Stephan Herpertz, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bochum. Die Diagnose Diabetes und die zugehörigen Therapiemaßnahmen stellen diesen Selbstwert noch stärker infrage. Dieser Selbstkonflikt kann letztendlich zur Entwicklung einer Essstörung führen. Die Prävalenz junger Frauen mit Typ-1-Diabetes für eine Essstörung liegt doppelt so hoch wie bei Gleichaltrigen ohne Stoffwechselerkrankung. Die häufigste Form der Essstörung ist Bulimie, welche sich durch unkontrollierte Essanfälle äußert, denen Gegenmaßnahmen wie Erbrechen, exzessiver Sport oder Diäten folgen, um die zugeführten Kalorien wieder zu verlieren. Eine typische gegenregulierende Maßnahme bei Diabetespatientinnen ist das sogenannte "Insulin-Purging". Hierbei wird absichtlich die Insulindosis reduziert, was einen Anstieg des Blutzuckers mit sich zieht. Der Zucker wird mit dem Urin ausgeschieden. Der Verlust an Wasser und Kalorien in Form von Zucker führt zur Gewichtsreduktion. Dies geht allerdings mit einem langfristig erhöhten Blutzuckerspiegel einher, so dass als Folge die jungen Patientinnen wesentlich früher an diabetischen Folgeschäden an Nieren, Augen sowie Nerven leiden.

Eine weitere Form der Essstörung ist die Binge-eating-Störung, die gehäuft bei Übergewicht und Fettleibigkeit auftritt. Es kommt zu Essanfällen, denen jedoch keine gegenregulierende Maßnahme wie Erbrechen folgt. Diese Form der Essstörung tritt vor allem bei Typ-2-Diabetes auf. Durch die Gewichtszunahme sinkt die Insulinwirkung und der Diabetes verschlimmert sich. Die DDG empfiehlt in ihrer S2-Leitlinie, die Essstörung schnellstmöglich psychotherapeutisch zu behandeln.

Die Psychotherapie zielt darauf ab, das Essverhalten und das Gewicht zu normalisieren und den Selbstkonflikt zu behandeln. In Anbetracht des jungen Alters dieser Patienten sollte zudem auch die Familie in die Therapie miteinbezogen werden. Der Erfolg einer Psychotherapie tritt erst nach mehreren Monaten ein, jedoch stabilisieren sich bei Patienten mit Typ-1-Diabetes die Zuckerspiegel nachhaltig, und das Risiko diabetischer Spätfolgen wird reduziert. Ergebnisse einer Psychotherapie bei Typ-2-Diabetes sind bislang weniger bekannt.

Die Empfehlungen der S2-Leitlinie richten sich an Patienten, Angehörige, Selbsthilfegruppen sowie an alle Berufsgruppen, die mit der Betreuung von Diabetespatienten vertraut sind. Eine englischsprachige Übersetzung, eine Kurzfassung als Praxisversion sowie eine Patientenleitlinie werden im Laufe des Jahres erscheinen.


Quelle

[1] Yaffe K, Falvey CM, Hamilton N, et al. Association Between Hypoglycemia and Dementia in a Biracial Cohort of Older Adults With Diabetes Mellitus, JAMA Intern Med. 2013, doi:10.1001/jamainternmed.2013.6176.

[2] S2-Leitlinie Psychosoziales und Diabetes – Langfassung 2013 1. Teil in: Diabetologie 2013, Ausgabe 3, dx.doi.org/10.1055/s-0033-1335785 2. Teil in Diabetologie 2013; Ausgabe 4 (ET: August), 10.1055/s-0033-1335889, www.deutsche-diabetes-gesellschaft.de/leitlinien/evidenzbasierte-leitlinien.html


Apothekerin Thi My Hanh Nguyen

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