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"Was Deutschland von seinen Nachbarn lernen kann"

Auf einer Tagung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung am 29. Mai in Berlin analysierte Prof. Dr. Brigitte Unger, Direktorin am WSI, Deutschlands Arbeitsmarkt: Er sei zwar relativ stabil, aber nicht gesund.

Viermal Minus und einmal Plus – so könnte man die Analyse von Unger zusammenfassen:

1. Der Anteil "atypischer" Arbeitsverhältnisse (d. h. befristet, Teilzeit, Leiharbeit oder Minijob) ist in den letzten 20 Jahren von einem Fünftel auf mehr als ein Drittel gestiegen und liegt höher als in den meisten anderen EU-Staaten.

2. Fast 60% dieser atypisch Beschäftigten erhalten einen Niedriglohn.

3. Seit Mitte der 90er Jahre sank die Tarifbindung von knapp 80 auf rund 60%, während der Niedriglohnsektor deutlich wuchs.

4. Frauen verdienen in Deutschland im EU-Vergleich wesentlich schlechter als ihre männlichen Kollegen (geschlechtsspezifische Lohnlücke, engl. gender pay gap).

5. Die Jugendarbeitslosigkeit ist in Deutschland deutlich niedriger als in anderen europäischen Ländern, was der dualen Ausbildung zu verdanken ist.

Ein Beispiel nehmen sollte sich die deutsche Politik nach Ungers Meinung in folgenden Aspekten:


Mindestlohn: Allgemeine, gesetzliche Mindestlöhne haben knapp drei Viertel aller EU-Staaten – und fahren gut damit. Unger empfiehlt das britische Modell, bei dem der Mindestlohn von einer Kommission aus Gewerkschaften, Arbeitgeberorganisationen und wissenschaftlichen Experten festgelegt wird. Eine gesetzliche Lohnuntergrenze verringere auch den gender pay gap; dazu seien außerdem ausreichend Kinderbetreuungsangebote und eine Frauenquote für Führungspositionen nötig.


Tarifbindung: Nach Tarif bezahlte Arbeitnehmer erhalten seltener einen Niedriglohn. In benachbarten EU-Staaten ist der Grad der Tarifbindung mit bis zu 97% erheblich höher als in Deutschland, und Tarifverträge werden teilweise sogar für allgemeingültig erklärt.


Eindämmung von Minijobs und Leiharbeit: Statt einer weiteren Deregulierung, die zu mehr geringfügigen Arbeitsverhältnissen führe, müssten Minijobs und Leiharbeit wieder stärker reguliert und reduziert werden. Entlohnung, Arbeitsplatzsicherheit und Weiterbildungschancen müssten für diese Arbeitnehmer verbessert werden. Frankreich und Großbritannien bieten hier laut Unger positive Beispiele.

"Europa am Scheideweg"

Ungers Fazit: Beim Arbeitsmarkt kann Europa wählen zwischen einer "Low Road" in Richtung Billiglöhne und prekärer Jobs oder aber einer "High Road", auf der sich Innovation, Qualifikation und betriebliche Flexibilität mit Sicherheit und Mitbestimmung kombinieren lassen. Da sollte die Wahl nicht schwerfallen.


Dr. Sigrid Joachimsthaler


Quelle: WSI-Pressemitteilung vom 29. 5. 2013.

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