Interpharm 2013

Antikörper als Ursache neurologischer Störungen

(cae). "Seit wenigen Jahren befindet sich die Neurologie im Umbruch", konstatierte Priv.-Doz. Dr. Harald Prüß von der Charité in Berlin. Denn viele neurologische Störungen oder Krankheiten, deren Ursache bislang unklar war, lassen sich jetzt auf bestimmte pathogene Moleküle zurückführen. Es sind Antikörper, die vom Immunsystem als Antwort auf Fremdkörper außerhalb des Nervensystems gebildet werden und die sich dann nicht gegen diese Antigene, sondern gegen bestimmte Strukturen der Nervenzellen richten.
Priv.-Doz. Dr. Harald Prüß: Die Neurologie ist im Umbruch.

Bereits 1887 hatte der Neurologe Hermann Oppenheim (1857 – 1919) bei einer Patientin mit Brustkrebs eine "limbische Enzephalitis" beschrieben und in einen kausalen Zusammenhang mit dem Tumor gebracht. Dieser Fall fand damals kaum Beachtung und geriet in Vergessenheit; heute sind Sekundärerkrankungen von Tumoren jedoch gut bekannt und werden unter dem Begriff "paraneoplastische Erkrankungen" zusammengefasst.

Außer Tumoren können zahlreiche Infektionskrankheiten, die das Immunsystem durch die Bildung von Antikörpern bekämpft, sekundär zu neurologischen Störungen führen, die das ganze Spektrum umfassen: Sinnesstörungen, Koordinations- und Bewegungsstörungen, Gedächtnisstörungen bis hin zur Demenz, Epilepsie, Schmerzen, Schizophrenie und Psychosen. Inzwischen sind etwa 20 neuropathogene Autoantikörper entdeckt, und ein Ende weiterer Entdeckungen ist nicht abzusehen.

Diagnose im Prinzip einfach

Die rätselhaften Krankheitsgeschichten vieler verstorbener Patienten erscheinen dadurch in einem neuen Licht, und vielen jetzt lebenden Patienten wird nun erstmals eine kausale und zugleich kurative Therapie ermöglicht. Denn das Erfreuliche an diesen Störungen ist, dass sie größtenteils reversibel sind.

Laut Prüß ist die Diagnose "nicht schwer, wenn man daran denkt". Die Erkenntnisse sind so neu, dass sie bei Nicht-Neurologen erst wenig bekannt sind.

Folgen der immunologischen Fehlsteuerung

Die Antikörper, die sich gegen Krebszellen oder gegen die in den Körper eingedrungene Viren oder pathogenen Bakterien richten sollen, binden aufgrund einer Fehlsteuerung an Rezeptoren auf oder in der Membran von Neuronen. Wenn sie zahlreich genug sind, machen sie die Neuronen funktionsunfähig oder führen eventuell sogar ihre Apoptose herbei, sodass es zu bleibenden Schäden kommt.

Relativ früh wurde die neuropathogene Rolle der Autoantikörper bei der Myasthenia gravis entdeckt. Diese Krankheit wird meistens dadurch verursacht, dass Antikörper an den Acetylcholinrezeptor der Muskelzelle an der motorischen Endplatte binden; wenn alle Rezeptoren besetzt sind, kann der von der Nervenzelle gegebene Impuls nicht auf die Muskelzelle übertragen werden. Die betroffenen Patienten sind wie gelähmt, sie sind z. B. unfähig, ihre Augenlider zu heben. Durch eine Plasmapherese, die die Antikörper aus dem Blut entfernt, kann die Symptomatik in kurzer Zeit vollständig beseitigt werden.

Als Prototyp der neuropathogenen Antikörper nannte Prüß den Antikörper gegen den NMDA-Rezeptor, einen Glutamat-Ionenkanal. Die Zusammenhänge wurden erst 2007 entdeckt, doch die daraus gezogenen Konsequenzen für die Therapie haben schon viele Patienten geheilt. Patienten mit NMDA-Rezeptor-Antikörpern sind überwiegend junge Frauen, die aus völliger Gesundheit heraus zunächst psychiatrische Störungen wie Wahnvorstellungen und Halluzinationen oder unerklärliche Verhaltensänderungen entwickeln. Später können epileptische Anfälle und eine Enzephalitis hinzukommen. Die Ursache der Antikörperbildung kann ein Tumor sein, in den meisten Fällen konnte sie jedoch noch nicht identifiziert werden. Wenn die Patienten früh eine Immuntherapie erhalten, verschwinden die psychiatrischen Störungen in der Regel.

Als weiteres Beispiel für die Blockade von neuronalen Ionenkanälen erwähnte Prüß Glycinrezeptor-Antikörper, die zur Hyperekplexie führen können. Dabei reagiert der Körper auf akustische oder taktile Reize mit schweren Muskelkrämpfen, die bei Neugeborenen tödlich sein können – eine Variante des plötzlichen Kindestodes.

Prüß selbst hat kürzlich herausgefunden, dass bisher unbekannte Autoantikörper vom Typ des Immunglobulins A auch bei Demenzen eine Rolle spielen, indem sie an den NMDA-Rezeptor von Neuronen binden, und dass die Entfernung dieser Antikörper den Krankheitsverlauf positiv beeinflusste. Ferner besteht die begründete Annahme, dass Autoantikörper auch bei der Pathogenese der multiplen Sklerose eine Rolle spielen, sodass sich auch hier eine neue Therapieoption ergeben könnte.

Therapiemöglichkeiten

Außer der oben genannten Plasmapherese kommen auch medikamentöse Immuntherapien zum Einsatz, indem den Patienten Immunglobuline oder Steroide (Methylprednisolon u. a.) intravenös verabreicht werden. Dies birgt allerdings bei immungeschwächten Patienten das Risiko, dass sie an gefährlichen Infektionen erkranken. Arzneimittel der zweiten Wahl sind Cyclophosphamid und Rituximab. Als mögliche Alternativen nannte Prüß zudem Methotrexat und Bortezomib. Geheilte Patienten bekommen in der Regel eine immunsuppressive Erhaltungstherapie mit Azathioprin oder Mycophenolatmofetil.

Fazit

Die Entdeckung weiterer neuropathogener Antikörper wird sich auch in Zukunft fortsetzen. Es ist absehbar, dass sich dadurch die Diagnostik und Therapie zahlreicher neurologischer Erkrankungen maßgeblich ändern werden und dass viele Patienten erstmals die Chance einer kausalen Therapie und Heilung erhalten. Andererseits zählen Immuntherapien zu den teuersten Therapien. Der therapeutische Fortschritt wird deshalb unweigerlich Kostensteigerungen nach sich ziehen.



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DAZ 2013, Nr. 13, S. 62

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