DAZ aktuell

Die Schwerpunktapotheke

Gerhard Schulze

Die Alexander-Apotheke im Hamburger Stadtteil St. Georg ist eine Schwerpunktapotheke, die DAZ berichtete darüber anlässlich des Welt-Aids-Tages 2012 (siehe DAZ 2012, Nr. 48, S. 48). Es gibt die Apotheke seit Ende der 1980er Jahre, und von Anfang an war sie auf eine bestimmte Zielgruppe zugeschnitten. Es zählen neben drogenabhängigen HIV-Patienten vor allem homosexuelle, HIV-positive Männer zur Stammkundschaft. Die Apotheke ist über die Stadteilgrenzen hinaus bekannt für ihr besonderes Beratungsangebot. Hier trifft man sich, teilt Sorgen und Nöte, hält sich auf dem Laufenden.

Die Alexander-Apotheke gehört zum freien Westen wie der Christopher Street Day, unsere homophile Kunst- und Kulturlandschaft, der Berliner Bürgermeister, der deutsche Außenminister. Schwul sein ist in der Gesellschaft angekommen. In der Stadt vielleicht mehr als auf dem Land, im Westen vielleicht mehr als im Osten, aber im Prinzip gehört Homosexualität zur akzeptierten Normalität. Wer wissen will, wie es sich anfühlt, wenn Homosexuelle diskriminiert werden, muss nach Russland, Saudi-Arabien oder Nigeria fahren.

Die Apotheke als Szenetreffpunkt – warum nicht? Wenn es stimmt, dass auch die Apotheke dem normalen kulturellen Wandel unterworfen ist und nichts bleibt, wie es immer war, dann sind alle möglichen Ideen gefragt, solange sie nur der Fortentwicklung der Apotheke im 21. Jahrhundert dienen und sichtbar machen, was pharmazeutische Kompetenz bedeutet und warum sie immer wichtiger wird.

Lässt sich das Beispiel der Alexander-Apotheke auf andere Themenschwerpunkte übertragen? Was bedeutet das überhaupt: Schwerpunktapotheke? Ist das nur ein Plus von Angeboten und Dienstleistungen oder gehört, wie in der Alexander-Apotheke, vor allem auch soziale Kompetenz dazu? Es gibt Schwerpunktapotheken für Herz-Kreislauf-Patienten, für Diabetiker, für Krebspatienten. Es sind auch andere Schwerpunkte denkbar, zum Beispiel Fitness, Reisen, Kochen oder Tierpflege. Auch Apotheken für bestimmte Lebensabschnitte gibt es oder könnte es geben: Mutter und Kind, Pubertät, Berufsleben, Menopause, Alter, Vor- und Nachsorge bei Operationen, Sterbebegleitung.

Sich auf ein Thema zu spezialisieren, bedeutet mehr Arbeit. Doch die rentiert sich nicht nur in materieller Hinsicht. Wer etwas hat, das ihn leidenschaftlich interessiert, hält zum Beispiel den schnöden Berufsalltag besser aus. Der amerikanische Glücksforscher und Psychologe Mihaly Csikszentmihaly hat auf der Grundlage interkultureller Studien beschrieben, wann und unter welchen Umständen Menschen bei der Arbeit jene Glückserlebnisse haben, die er in seinem gleichnamigen Buch als "Flow" bezeichnet. Flow sei immer möglich, schreibt er, sogar am Fließband. Glück hänge davon ab, mit wie viel Begeisterung man bei der Sache sei.

Vom Aufbau einer Schwerpunktapotheke hat zunächst nur der Apothekeninhaber etwas: mehr Arbeit, aber auch mehr Arbeitsfreude. Er überlegt sich, was er gerne machen würde und wie er das umsetzen kann. Dann braucht er interessierte Kunden, die ihrerseits mit Apothekentreue auf das Angebot reagieren. Wie sich das in Euro und Cent beziffern lässt, kann man nicht genau sagen. Ich glaube aber, dass das gar nicht so wichtig ist.

Ein Schwerpunkt hat (wie in der Alexander-Apotheke) viele soziale Aspekte, es geht aber im Wesentlichen darum, ein Informationsangebot zu erstellen, das es sonst so nicht in dieser Ausführlichkeit gibt. Für mich zum Beispiel ist oft das Internet meine erste Anlaufstation, etwa nach einem Arztbesuch oder wenn ich aus der Apotheke etwas abgeholt habe. Ich habe dann immer viele Fragen, etwa zum Nutzen und Risiko der Therapie, zur Lyrik der Beipackzettel, zur Ratlosigkeit von Ärzten, wenn es um die Wirkung von Arzneimitteln geht, die man längerfristig oder mit anderen zusammen einnehmen muss.

Meist will ich mich tiefergehend informieren, mich mit einem kompetenten Ansprechpartner unterhalten oder etwas lesen, was er für mich zusammenstellt. Bei einem kurzen Apothekenbesuch ist das schon aus Zeitgründen oft nicht möglich. Wenn ich aber wüsste, da gibt es irgendwo in meiner Stadt einen Ort, wo man mir genau das anbietet: mehr und besseres Wissen, dann würde ich mich dorthin auf den Weg machen, auch wenn es zehnmal soweit wäre wie zur Apotheke um die Ecke.

Ob Szenetreff, Ankerpunkt für Senioren, Mekka für Feinschmecker oder Umschlagplatz von vertieftem Wissen: Eine Schwerpunktapotheke ist ein Lebenswerk, nicht bloß eine Marketingstrategie. Schwerpunktapotheken sind in idealer Weise das, was die Zunft mit aller Macht verteidigt: vom Inhaber geführt. Jeder Inhaber, jede Inhaberin kann neben der Pflicht etwas tun, was ihm oder ihr wichtig ist. Auch das gehört zum freien Westen. Machen wir Gebrauch davon.


Gerhard Schulze

Gerhard Schulze, geb. 1944, ist Professor für Soziologie an der Universität Bamberg. Seine Arbeiten untersuchen den kulturellen Wandel der Gegenwart.



DAZ 2013, Nr. 1/2, S. 18

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