Arzneimittel und Therapie

Paradoxes Prinzip?

Der erste Serotonin-Reuptake-Enhancer Tianeptin (Tianeurax®) steht seit November nun auch in Deutschland zur Behandlung der Depression zur Verfügung. Seine Wirkung wird allerding nur in zweiter Linie auf die verstärkte Wiederaufnahme von Serotonin zurückgeführt. Im Vordergrund scheinen seine Effekte auf die Neuroplastizität des Gehirns und die gestörte glutamaterge Neurotransmission zu stehen. Klinische Studien zeigen eine Überlegenheit gegenüber Placebo. Die Substanz erwies sich als vergleichbar wirksam wie trizyklische Antidepressiva und selektive Serotonin-Inhibitoren.
Das neue trizyklische Antidepressivum Tianeptin hemmt anders als andere Antidepressiva nicht die Wiederaufnahme von Serotonin, sondern verstärkt sie. Die Serotonin-Konzentration im synaptischen Spalt, speziell im Cortex und Hippocampus, wird reduziert. Auch steigert Tianeptin den Dopamin-Stoffwechsel des Gehirns und verringert die Freisetzung von Acetylcholin. Der Einfluss dieser Effekte auf die antidepressive Wirkung von Tianeptin ist jedoch nicht geklärt.  Foto: hikrcn – Fotolia.com

Neu ist der Wirkstoff nur in Deutschland, in Frankreich und Österreich steht er seit den 1980er-Jahren als Stablon® zur Verfügung. Unter dieser Bezeichnung ist er auch in Portugal und der Türkei erhältlich. Als Coaxil® ist ein Tianeptin-haltiges Präparat in Kroatien, Polen, Slowenien, Tschechien und Ungarn im Markt.

Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) stellen ein wirksames Prinzip in der Therapie von Depressionen dar. Umso mehr erstaunt es, dass nun mit Tianeptin (Tianeurax®) ein Serotonin-Reuptake-Enhancer als antidepressives Wirkprinzip zur Verfügung steht (siehe Interview), der im Gegensatz zu anderen trizyklischen Antidepressiva die Wiederaufnahme von Serotonin (5-HT) in die Neuronen verstärkt. Erklären lässt sich dieses Paradoxon dadurch, dass weitere Wirkmechanismen von Tianeptin für die antidepressive Wirkung den Ausschlag geben. Als einen der wichtigsten Mechanismen nannte Prof. Dr. Siegfried Kasper, Wien, den Einfluss auf die Neuroplastizität des Gehirns und damit auch auf die Vulnerabilität depressiver Patienten. Depressionen können das Ergebnis einer Veränderung der Neuroplastizität von Hirnstrukturen sein, die an der Regulierung von Stimmungen und Emotionen beteiligt sind, erläuterte er auf einer von Neuraxpharm unterstützten Pressekonferenz am Rande des diesjährigen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde im November in Berlin. Auch das Rückfallrisiko scheint im Zusammenhang mit Veränderungen der Neuroplastizität zu stehen. Tianeptin beeinflusst die Neurogenese und das Volumen von Hirnstrukturen und stellt die Neuroplastizität wieder her. In Tierversuchen konnte unter anderem gezeigt werden, dass es die durch Stress verursachten negativen Effekte auf die Gehirnsubstanz antagonisiert. Es verhindert stressbedingte strukturelle und zelluläre Veränderungen im Gehirn und schützt den Hippocampus und den präfrontalen Kortex vor den negativen Folgen des mit der Depression verbundenen Stresses. Zudem hemmt Tianeptin die Hyperaktivität der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden (HPA)-Achse, die bei depressiven Patienten überstimuliert ist. Dabei normalisiert es die gestörte glutamaterge Neurotransmission. Glutamat ist der wichtigste exzitatorische Neurotransmitter des ZNS. Dass Glutamat eine Rolle bei der Pathogenese der Depression spielt, wird schon länger diskutiert. Die antidepressive Wirkung von Tianeptin über diese Wirkmechanismen unterstützt auch Hinweise, nach denen sich die Depression pathogenetisch nicht nur mit der Imbalance von Neurotransmittern (Monoaminhypothese) erklären lässt.


Tianeptin ist eine chirale Verbindung, die strukturelle Gemeinsamkeiten mit Benzodiazepinen aufweist und als Racemat eingesetzt wird. Hier dargestellt oben die (R)-Form und unten die (S)-Form.

So effektiv wie SSRI und TZA

Die Wirksamkeit von Tianeptin ist in zwei placebokontrollierten Studien mit jeweils etwa 120 Patienten mit einer Major Depression belegt (MADRS [Montgomery Asberg Depression Rating Scale]-Ausgangswert mindestens 25). Innerhalb von sechs Wochen kam es unter Tianeptin (25 bis 50 mg/d) zu einer Abnahme des MADRS-Gesamtwerts um 54% bzw. 44% (Placebo: 38% bzw. 26%). Dass Tianeptin hinsichtlich seiner antidepressiven Wirksamkeit mit SSRI gleichzieht, dokumentiert eine Metaanalyse, die fünf Studien berücksichtigt, in denen Tianeptin mit Fluoxetin, Paroxetin oder Sertralin verglichen wurde. Tianeptin reduzierte den MADRS vergleichbar. "Das gilt auch für schwer depressive Patienten mit einem Ausgangs-MADRS-Wert von mindestens 28", betonte Prof. Dr. Hans-Peter Volz, Bad Werneck. Auch dem Vergleich mit verschiedenen trizyklischen Antidepressiva (TZA) hält Tianeptin Stand. Vergleichsstudien zeigen eine ähnliche antidepressive Wirksamkeit wie Amitriptylin, Clomipramin und Mianserin, eine bessere Wirksamkeit als Maprotilin, aber einen geringeren Effekt als Dosulepin.  


Steckbrief: Tianeptin


Handelsname: Tianeurax

Hersteller: Neuraxpharm Arzneimittel GmbH

Einführungsdatum: 1. November 2012

Zusammensetzung: Jede Filmtablette enthält 12,5 mg Tianeptin-Natrium.

Packungsgrößen, Preise und PZN: 20 Filmtabletten (N1), 19,98 Euro, PZN 9680203; 50 (N2) 33,26 Euro,PZN 9680226, 100 Filmtabletten (N3) 54,74 Euro, PZN 9680232

Stoffklasse: Psychoanaleptika; andere Antidepressiva ATC-Code: N06AX14

Indikation: zur Behandlung von Depressionen bei Erwachsenen

Dosierung: Die empfohlene Dosis beträgt 12,5 mg dreimal täglich (morgens, mittags und abends), vor den Mahlzeiten. Bei Patienten, die über 70 Jahre alt sind, und bei Patienten, die unter Niereninsuffizienz leiden, sollte die Dosis auf zwei Tabletten pro Tag reduziert werden.

Gegenanzeigen: gleichzeitige Anwendung von nichtselektiven MAO-Hemmern; Überempfindlichkeit gegen Tianeptin-Natrium oder einen der sonstigen Bestandteile

Nebenwirkungen: häufig: Anorexie, Alpträume, Schlaflosigkeit, Schläfrigkeit, Schwindel, Kopfschmerzen, Zusammenbruch, Tremor, beeinträchtigtes Sehvermögen, Herzrasen, Herzklopfen, Extrasystolen, präkordiale Schmerzen (Brustschmerz), Hitzewallungen, Dyspnoe, trockener Mund, Darmträgheit, Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Dyspepsie, Diarrhö, Blähungen, Sodbrennen, Rückenschmerzen, Myalgie, Asthenie, Gefühl einen Kloß im Hals zu haben.

selten: Arzneimittelmissbrauch und Abhängigkeit, besonders bei Patienten unter 50 mit früherem Alkohol- oder Drogenmissbrauch, maculopapularer oder erythematöser Ausschlag, Juckreiz, Nesselsucht.

Die Stärke und Häufigkeit der meisten Nebenwirkungen nimmt bei fortgesetzter Behandlung ab und führt in der Regel nicht zur Beendigung der Therapie.

Wechselwirkungen: Tianeptin sollte nicht zusammen mit MAO-Hemmern angewandt werden, da die Gefahr für Kreislaufkollaps, paroxysmale Hypertonie, Hyperthermie, Krämpfe und Tod besteht. Tianeptin sollte nicht zusammen mit Mianserin angewendet werden, wegen antagonistischer Wirkungen, die in Tierstudien beobachtet wurden.

Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen: Die gleichzeitige Anwendung von Monoaminoxidase-Hemmern (MAO-Hemmern) ist kontraindiziert, da dadurch das Risiko für Kreislaufkollaps, paroxysmale Hypertonie, Hyperthermie, Krämpfe, Tod verstärkt wird. Falls eine Behandlung mit MAO-Hemmern notwendig wird, sollte Tianeptin mindestens 15 Tage vor Beginn der Anwendung von MAO-Hemmern abgesetzt werden. Bei schwerer Niereninsuffizienz muss eine Senkung der Dosis in Betracht gezogen werden.

Patienten mit Suizidrisiko, vor allem in der frühen Behandlungsphase, sollten sorgfältig beobachtet werden. Wie bei allen psychotropen Arzneimitteln sollte Tianeptin nicht abrupt abgesetzt werden. Die Dosis sollte über einen Zeitraum von sieben bis 14 Tagen nach und nach reduziert werden. Vor allem zu Beginn der Behandlung und nach Dosisanpassung sollte engmaschig beobachtet werden. Im Falle einer zurückliegenden Alkohol- oder Drogenabhängigkeit sollten besondere Vorsichtsmaßnahmen ergriffen werden, um eine Dosiserhöhung zu vermeiden.

Wenn eine Allgemeinanästhesie notwendig ist, muss der Anästhesist über die Einnahme von Tianeptin informiert werden, und die Behandlung mit dem Arzneimittel sollte 24 bis 48 Stunden vor dem Eingriff beendet werden.

Vorsicht mit Monoaminoxidase-Hemmern!

Die empfohlene Dosis von Tianeptin beträgt 12,5 mg dreimal täglich, vor den Mahlzeiten. Bei Patienten, die über 70 Jahre alt sind, und bei Patienten mit Niereninsuffizienz sollte die Dosis auf zwei Tabletten pro Tag reduziert werden. Tianeptin wird schnell und nahezu vollständig im Gastrointestinaltrakt resorbiert, es tritt kein First-pass-Effekt auf. Die Zeit bis zur höchsten Konzentration nach oraler Einnahme von 12,5 mg liegt bei ein bis zwei Stunden. Die Resorption wird von Nahrungsmitteln nicht bedeutend beeinflusst, daher kann der Wirkstoff auch mit der Nahrung zusammen eingenommen werden, um die Compliance zu fördern. Tianeptin darf nicht abrupt abgesetzt werden, die Dosis sollte über einen Zeitraum von sieben bis 14 Tagen nach und nach reduziert werden.

Kontraindiziert ist die gleichzeitige Anwendung von Monoaminoxidase-Hemmern (MAO-Hemmern), da dadurch das Risiko für Kreislaufkollaps, paroxysmale Hypertonie, Hyperthermie und Krämpfe verstärkt wird. Da diese Wechselwirkungen von MAO-Hemmern mit anderen Antidepressiva tödlich verlaufen können, sollte Tianeptin mindestens 15 Tage vor Beginn der Anwendung von MAO-Hemmern abgesetzt werden, falls eine Behandlung mit MAO-Hemmern notwendig wird. Tianeptin sollte auch nicht mit dem tetrazyklischen Antidepressivum Mianserin gemeinsam angewendet werden, da in Tierstudien antagonistische Wirkungen beobachtet wurden.

Tianeptin wird überwiegend durch β-Oxidation und (in geringerem Maße) durch N-Demethylierung in der Leber metabolisiert. Da die Biotransformation von Tianeptin nicht durch Cytochrom P450 vermittelt wird, sind keine unerwünschten Wirkungen bei der gleichzeitigen Anwendung mit CYP-450-Inhibitoren oder -Induktoren zu erwarten.

Sexuelle Funktionsstörungen sind seltener

Der Blick auf die Nebenwirkungen zeigt eine gute Verträglichkeit mit leicht bis mittelschwer ausgeprägten Nebenwirkungen. Die Stärke und Häufigkeit der meisten Nebenwirkungen nimmt bei fortgesetzter Behandlung ab und führt in der Regel nicht zur Beendigung der Therapie. Im Vergleich zu Placebo waren nur Kopfschmerzen signifikant häufiger (15,6% vs. 1,6%). Zudem ergab sich "ein diskretes Signal für häufigere Nennungen von Mundtrockenheit, Obstipation und Übelkeit", so Volz. Da Tianeptin weder anticholinerg, antihistaminerg noch adrenolytisch wirkt, ist die Substanz besser verträglich als trizyklische Antidepressiva. Verglichen mit selektiven Serotonin-Inhibitoren (SSRI) ist die Verträglichkeit laut Volz tendenziell besser. Vor allem sexuelle Funktionsstörungen scheinen deutlich seltener aufzutreten. Da Tianeptin kein neu zugelassener Wirkstoff ist, sondern bereits 1988 in Frankreich und später in einer Reihe von mittel- und osteuropäischen Ländern zugelassen wurde, ist nicht mehr mit unerwarteten Nebenwirkungen zu rechnen. Gerhard D. Roth, Ostfildern, betonte die Bedeutung der guten Verträglichkeit für die tägliche Praxis. Immerhin sind Nebenwirkungen eine der Hauptursachen für ein frühes Absetzen der Medikation. Am häufigsten setzen Patienten ein Antidepressivum allerdings ab, weil sie sich besser fühlen. 


QuelleFachinformation Tianeurax®, Stand August 2012.

Apothekerin Dr. Beate Fessler


Prof. Dr. Hans-Peter Volz

Interview: Tianeptin als gute, nebenwirkungsarme Therapie


Im Gegensatz zu anderen trizyklischen Antidepressiva wird die Wiederaufnahme von Serotonin in die Neuronen durch Tianeptin verstärkt. Wir sprachen mit Prof. Dr. Hans-Peter Volz, Ärztlicher Direktor des Krankenhauses für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatischer Medizin, Werneck, über den Wirkmechanismus des neuen trizyklischen Antidepressivums.


DAZ: Das neue Antidepressivum Tianeptin wird als Serotonin-Reuptake-Enhancer bezeichnet und besitzt demnach eine den selektiven Serotonin-Reuptake-Inhibitoren geradezu entgegengesetzte Wirkung. Wie lässt sich die antidepressive Wirkung erklären?

Volz: Das hört sich tatsächlich paradox an. Doch die Eigenschaft von Tianeptin als Serotonin-Reuptake-Enhancer steht als wirksamkeitsbestimmender Anteil der Substanz eher in zweiter Reihe. Als vorrangige Wirkmechanismen von Tianeptin sehe ich die Beeinflussung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse und den Effekt auf die Neuroplastizität des Gehirns. Zudem muss man wissen, dass der verstärkende Effekt auf die Serotonin-Wiederaufnahme eine indirekte Schlussfolgerung ist. Es wurde zwar eine Abnahme von Serotonin in extraneuronalen Strukturen gemessen, also etwa im synaptischen Spalt. Man hat aber nicht gesehen, dass der Serotonintransporter verstärkt arbeitet und die Substanz rückresorbiert.


DAZ: Welche Kombinationen sind angesichts dieses Effekts mit Tianeptin sinnvoll?

Volz: Ich würde Tianeptin nicht primär mit einem SSRI-Wiederaufnahmehemmer kombinieren. Ein guter Kombinationspartner wäre Agomelatin, auch Mianserin und Mirtazapin sind möglich. Unter den trizyklischen Antidepressiva ist die Kombination mit einem noradrenerg betonten Wiederaufnahmehemmer wie Desipramin oder Nortriptylin denkbar, die allerdings keine große Bedeutung mehr haben.


DAZ: Tianeptin erweitert die Palette der Antidepressiva. Bei welchen depressiven Patienten sehen Sie eine Indikation für die neue Substanz?

Volz: Anders als bei den meisten Neueinführungen ist Tianeptin in anderen Ländern schon bis zu 20 Jahre auf dem Markt. Mit seltenen, gravierenden Nebenwirkungen, die noch unbekannt sind, ist daher nicht mehr zu rechnen. Wir können die Substanz daher von Anfang an breiter einsetzen. Aus meiner Sicht gibt es deshalb nicht "den" Patienten, der für Tianeptin besonders geeignet ist. Ich sehe den Wirkstoff eher als Option für den "normalen" Depressiven, der eine gute, nebenwirkungsarme Therapie benötigt.


DAZ: Herr Professor Volz, vielen Dank für das Gespräch!



DAZ 2012, Nr. 50, S. 41

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