Arzneimittel und Therapie

Marcumar-Alternative ASS?

ASS kann auch venöse Thromboembolien verhindern

Eine Behandlung mit einmal täglich 100 mg Acetylsalicylsäure (ASS) reduziert nach tiefen venösen Thromboembolien (VTE) das Auftreten von Herzinfarkt, Schlaganfall und erneuten VTE. Das zeigen sowohl die WARFASA- als auch die ASPIRE-Studie. Ist die (lebens-)lange Gabe von ASS damit eine neue Therapiealternative zu Phenprocoumon oder zu keiner Antikoagulation nach VTE?

Die Prophylaxe venöser Thromboembolien mit Marcumar erfordert eine regelmäßige Kontrolle der Blutgerinnung. Eine ASS-Prophylaxe könnte sie wesentlich vereinfachen. Foto: DAZ/Alex Schelbert

Die Gabe von ASS zur Prophylaxe von venösen Thromboembolien passt nicht zu der bislang geltenden These, dass Thrombozytenaggregationshemmer (TAH) bei venösen Gerinnungsstörungen unwirksam sind.

Es gibt zahlreiche Antikoagulanzien und noch mehr Indikationen für verschiedene Gerinnungsstörungen und den damit verbundenen Krankheiten. Diese auf den ersten Blick verwirrende Vielfalt lässt sich in einem einfachen und fassbaren Indikationssystem darstellen, das für die meisten Wirkstoffe gilt (Tab. 1). Danach ist Acetylsalicylsäure nur bei arteriellen Gerinnungsstörungen als erste Wahl indiziert.

Wo entstehen Thromben?

Zunächst gilt es, das betroffene Gefäßsystem zu definieren, denn jedes Gefäßsystem hat seinen eigene Pathologie von Gerinnungsstörungen:

  • Venöses System

    In den venösen Gefäßen sind Blutdruck und die Fließgeschwindigkeit sowie der auf die korpuskulären Teile wirkende Scherstress niedrig, so dass nach einigen Stunden Bettruhe die venöse Strömungsgeschwindigkeit um 50% sinkt. Zusätzlich provozieren die Venenklappen Verwirbelungen. Das Blut kommt hinter den Venenklappen zum Stehen (Blutstase). Diese Bedingungen begünstigen die Aktivierung der plasmatischen Gerinnungsfaktoren mit der Bildung von Thrombozyten-armen fibrinreichen Thromben. Venöse Thromben manifestieren sich überwiegend als Beinvenenthrombose oder als Lungenembolie, wenn sie aus den tiefen Beinvenen in den Lungenkreislauf fortgespült werden.

  • Arterielles System

    Der Blutdruck und die Fließ-geschwindigkeit in den Arterien sind hoch, die Gefäßwände mit dem Endothel sind glatt und besitzen keine Klappen. Die plasmatischen Gerinnungsfaktoren haben hier keine Chance, aktiviert zu werden. Dies ist die Stunde der Thrombozytenaggregation: Hypertonie, Hyperlipidämie, Hyperglykämie und andere pathogene Änderungen des metabolischen Syndroms schädigen das Endothel, das nur aus einer Zellschicht besteht und daher leicht verletzt werden kann. Freigelegte subendotheliale Moleküle wie Kollagen und Gerinnungsfaktoren aktivieren nun Thrombozyten, die sich auch um Bestandteile aus Plaques als Kristallisationskern für einen Thrombus ansammeln. In arteriellen Gefäßen entsteht daher der Thrombozyten-reiche Thrombus.

  • Vorhofflimmern: venöse Gerinnungspathologie im arteriellen System.

    Der dritte Typ von Gerinnungsstörungen sind Thromboembolien (TE) bei Vorhofflimmern. Die Thromben entstehen zwar im arteriellen System, genauer im linken Vorhof, aber die Pathogenese ähnelt der der venösen Thromben. Folge des Flimmerns sind unregelmäßige Herzaktionen mit längeren Pausen, in denen das Blut ver-langsamt zirkuliert. Zusätzlich steht das Blut hinter der Herzklappe und zusammen mit den Verwirbelungen des Blutstromes an der Herzklappe (Indikation von oralen Antikoagulanzien: künstliche Herzklappen) entstehen Thromben ähnlich derjenigen, die sich in den Venen bilden. Die Thromben werden über die großen Arterien ins Gehirn geschossen, es kommt zum Schlaganfall.

Antikoagulanziengabe nach Gerinnungspathologie

Für jeden dieser drei Typen von Gerinnungsstörungen gibt es spezifische Gerinnungshemmer.

Hemmstoffe der plasmatischen Gerinnung. Hemmstoffe der zentralen Gerinnungsfaktoren F-X und/oder F-II (Thrombin) sind zum einen die parenteral zu applizierenden Heparine, Fondaparinux und Hirudine, andererseits die oralen Antikoagulanzien (OAK) wie der altbekannte Vitamin-K-Antagonist Phenprocoumon (Marcumar®) sowie die neuen oralen Antikoagulanzien (novel oral anticoagulants, NOACs) Dabigatran, Rivaroxaban und Apixaban. Letztere waren zunächst zur postoperativen Prophylaxe nach venösen Thromboembolien und Lungenembolien zugelassen, Rivaroxaban seit Kurzem auch zur Akuttherapie einer Lungenembolie. Entsprechend der "venösen" Pathologie sind sie nun auch bei Vorhofflimmern zur Verhütung von ischämischen Schlaganfällen indiziert.

Bei arteriellen Gerinnungsstörungen sind diese Substanzen primär nicht einzusetzen. Ausnahme: Beim akuten Koronarsyndrom (ACS) werden Heparine (Enoxaparin), Fondaparinux oder Hirudine (Bivalirudin) zusätzlich zu ASS oder ADP-Hemmern eingesetzt. Diese Antikoagulanzien begünstigen die spontane Auflösung von Thromben und verhindern die Entstehung von Thromben als mögliche Folge einer perkutanen Koronarintervention (PCI). Phenprocoumon ist bei mechanischen Herzklappen und linksventrikulären Thromben indiziert. NOACs haben beim akuten Koronarsyndrom zusammen mit dualen TAH die Rate ischämischer Ereignisse nicht gesenkt, aber die Blutungen erhöht.

Thrombozytenaggregationshemmer. Der Einsatz von Thrombozytenaggregationshemmern ist einfach zu definieren: ASS, ADP (P2Y12)-Rezeptor-Hemmer wie Clopidogrel, Prasugrel oder Ticagrelor, PDE-Hemmer wie Dipyridamol oder GPIIb/IIIa-Antagonisten wie Abciximab werden ausschließlich bei arteriellen Gerinnungsstörungen zur Akuttherapie und/oder Prophylaxe eingesetzt, also beispielsweise dem akuten Koronarsyndrom, Herzinfarkt, Schlaganfall oder Stentthrombose.

Tabelle 1 und 2 fassen die wichtigsten Indikationen der Gerinnungshemmer zusammen und zeigen die Ausnahmen der Regel.

Tab. 1: Indikationen von Thrombozytenaggregationshemmern (TAH) bei arteriellen Gerinnungsstörungen und von Hemmstoffen der plasmatischen Gerinnung bei venösen Gerinnungsstörungen

arterielle
Störungen*
Vorhofflimmern***
venöse
Störungen**
ASS
+
Clopidogrel, Prasugrel
+
Dipyridamol
+
GPIIb/IIIa-Antikörper
+
Heparin
+
Hirudin
+
Coumarine
+
+
orale Hemmstoffe von F-II oder F-X wie Dabigatran,
Rivaroxaban, Apixaban
+
+

* akute Therapie, Primär- und/oder Sekundärprophylaxe bei Myokardinfarkt, akutem Koronarsyndrom, Schlaganfall, pAVK u. ä. ** akute Therapie, Primär- und/oder Sekundärprophylaxe bei Beinvenenthrombose, Lungenembolie u. ä. *** nicht valvuläres Vorhofflimmern

Tab. 2: Die Ausnahmen von der Regel: Einsatz von Thrombozytenaggregationshemmern (TAH) bei venösen Gerinnungsstörungen und von Hemmstoffen der plasmatischen Gerinnung bei arteriellen Gerinnungsstörungen

arterielle Störungen*
venöse Störungen**
ASS
Sekundärprophylaxe
bei VTE (bisher nur 2. Wahl)
Heparine, Hirudine, Fondaparinux
Akuttherapie des Myokardinfarktes, Prophylaxe bei PCI
Vitamin-K-
Antagonisten
mechanische Herzklappe, linksventrikuläre Thromben

* akute Therapie, Primär- und/oder Sekundärprophylaxe bei Myokardinfarkt, akutem Koronarsyndrom, Schlaganfall, pAVK u. ä. ** akute Therapie, Primär- und/oder Sekundärprophylaxe bei Beinvenenthrombose, Lungenembolie u. ä.

ASS bei VTE: eine neue alte Therapiestrategie?

Der Blick auf die Bildung von Thromben macht klar, dass auch Thrombozyten bei venösen und Blutfaktoren bei arteriellen Gerinnungsstörungen beteiligt sind. Aber orale Antikoagulanzien gelten den Thrombozytenaggregationshemmern unterlegen bei arteriellen Gerinnungsstörungen und Thrombozytenaggregationshemmer den oralen Antikoagulanzien bei venösen Gerinnungsstörungen.

Im Jahr 2012 wurden die zwei Studien WARFASA und ASPIRE publiziert, in denen Patienten nach einer spontanen ("unprovoked") venösen Thromboembolie (VTE) mit Heparin gefolgt von Vitamin-K-Antagonisten (INR zwischen 2 und 3) für 6 bis 18 Monate behandelt wurden. Danach wurden die Patienten randomisiert und entweder mit Placebo oder 100 mg ASS für zwei Jahre weiterbehandelt. Nimmt man die Patienten beider Studien zusammen (insgesamt ca. 1.200 Studienteilnehmer), dann verhindert ASS das Wiederauftreten einer zweiten tiefen venösen Thromboembolie um 32% und reduziert das Auftreten größerer thrombotischer Ereignisse wie Herzinfarkt oder Schlaganfall um 34%. ASPIRE errechnet, dass ASS bei 1000 Patienten pro Jahr 17 rekurrente VTE und 28 thrombotische Ereignisse verhindert; demgegenüber stehen nur fünf nicht-letale Blutungsereignisse. Die Autoren schließen, dass ASS eine gut verträgliche, billige und effiziente Alternative für alle die Patienten ist, die keine (lebens-)lange Therapie mit Vitamin-K-Antagonisten wünschen bzw. für diese nicht infrage kommen.

Bedeutung von ASS bei VTE

Bei tiefen venösen Thromboembolien erleiden ohne Prophylaxe 10% der Patienten nach einem Jahr und 30% nach zehn Jahren eine Rethrombose, von denen wiederum 5 bis 10% tödlich enden; das Risiko für ein postthrombotisches Syndrom ist versechsfacht. Außerdem ist das Risiko für KHK und andere Gerinnungsstörungen erhöht. Das verdeutlicht einmal mehr den Grundsatz, dass lokale Durchblutungsstörungen meist Ausdruck einer systemischen Gerinnungsstörung sind. Zur Vermeidung der Rethrombose und von Lungenembolien sind Heparin, Vitamin-K-Antagonisten oder neue orale Antikoagulanzien wie Rivaroxaban indiziert. Wird diese aktive Therapie beendet, erhöht sich schlagartig das Risiko für Rethrombose. Wird diese Prophylaxe gar innerhalb von drei Monaten nach VTE beendet, ist das Rethrombose-Risiko besonders hoch.

Viele Patienten brechen frühzeitig unter anderem wegen Unverträglichkeit die Therapie mit Vitamin-K-Antagonisten oder Heparin ab. ASS bietet hier eine billige, verträgliche Alternative zu einem therapeutischen Nihilismus. Rivaroxaban ist zwar zugelassen und senkt hochsignifikant die Rethrombose (EINSTEIN-Studie), aber der hohe Preis und offene Fragen zur Sicherheit limitieren gegenwärtig die Verordnungen.

Die ASPIRE-Studie hat nun gezeit, dass ASS nicht nur die Rethrombose, sondern arterielle Ereignisse und sogar die Mortalität vermindert, während Vitamin-K-Antagonisten (und damit wahrscheinlich auch Rivaroxaban) nur die Ereignisrate, aber nicht die Sterblichkeit senkt. Weiterhin bietet ASS gegenüber Vitamin-K-Antagonisten den Vorteil wesentlich geringerer Blutungskomplikationen, wobei dieser Vorteil durch den Nachteil einer schwächeren Prophylaxe neutralisiert wird.

Fazit

Für Patienten, die drei Monate nach einer spontanen venösen Thromboembolie die Antikoagulation (Vitamin-K-Antagonisten oder Heparin) beenden möchten, bietet die gut verträgliche ASS einen effektiven Schutz vor venösen Rethrombosen und kardiovaskulären Ereignissen, von dem über Jahre profitiert werden kann.


Prof. Dr. med. Thomas Herdegen, Kiel



DAZ 2012, Nr. 50, S. 38

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