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Von Mücken und Ameisen – DDT Teil 2

Gerhard Schulze

Meine erste Kolumne über DDT und Malaria schloss ich mit der Frage, warum immer noch so viele Menschen an Malaria sterben, wenn DDT so gut wirkt wie behauptet, und die Stockholmer Konvention von 2001 über persistente organische Schadstoffe es im Kampf gegen Malaria ausdrücklich erlaubt. Ist die Nachwirkung des DDT-Verbots aus den 70er Jahren so groß? Liegt es an dem seit damals stetig gewachsenen Einfluss von Umweltschützern? Das könnte man denken, wenn sonst alles gleichgeblieben wäre. Dann ließe sich die Erfolgsstory der 50er Jahre heute nach ihrer Unterbrechung einfach weiterschreiben, wenn auch gegen Widerstand. Ohne DDT wären seit damals, als es in großem Maßstab und weltweit zur Vektorbekämpfung eingesetzt wurde, noch mehr Menschen an Malaria gestorben. Auch und gerade in Europa und in den USA, die heute malariafrei sind.

Es ist aber nicht alles gleichgeblieben. Man kann nur staunen, wie schnell die Mechanismen der Evolution greifen: Die Mückenpopulationen haben Resistenzen herausgebildet, von denen die metabolischen am problematischsten beurteilt werden. Sechs Anopheles-Arten können heute laut Global Plan for Insectizide Resistance Management DDT und auch andere Pestizide "verstoffwechseln", ohne Schaden zu nehmen, darunter A. arabiensis, culicifacies und gambiae. Wie lange wird es noch dauern, bis diese Arten alle anderen verdrängt haben?

In Ländern mit anderen Anopheles-Arten wirkt DDT immer noch sehr gut, und so ist die Malaria in Namibia, Madagaskar, Sambia, Südafrika und Uganda wieder auf dem Rückzug. Die Mückenpopulationen schrumpfen, hinzu kommt der vermehrte Gebrauch von Moskitonetzen, eine bessere Früherkennung und medikamentöse Behandlung der Infektion, so dass immer weniger Mücken von immer weniger Kranken den Malariaerreger aufnehmen können.

Doch der Widerstand gegen den Einsatz von DDT auch dort, wo es wirkt, verstummt nicht. Die Frage, ob potenzielle Umwelt- und Gesundheitsschäden durch DDT auch nur einen einzigen Malariatoten rechtfertigen, weil die als Alternativen gepriesenen Mittel versagen und bessere nicht zur Verfügung stehen, müsste sich eigentlich auch der hartgesottenste DDT-Gegner immer wieder neu stellen.

Wer zu DDT recherchiert, gerät immer tiefer in einen Konflikt hinein, in dem alles nur Erdenkliche behauptet und gleichzeitig angezweifelt wird. Es gibt Fakten und Gegenfakten, und ihr Humus sind Emotionen. Wenn es um DDT geht, trifft das Öko-Establishment des Westens auf die Ärzte und Politiker vor Ort, treffen Idealisten auf Pragmatiker, treffen Menschen mit Malaria auf Menschen, für die sie kein persönliches Problem darstellt. "Die, die es verbieten, brauchen es nicht mehr" – so fasst es ein Sprecher der Organisation Africa fighting Malaria (AFM) zusammen.

"The topic stimulates strong views", schreibt der britische Toxikologe Andrew G. Smith von der Universität Leicester in seinem Aufsatz Toxicology of DDT and some analoges. Er bietet ein weitgehend emotionsfreies Update, man muss jedoch gezielt danach suchen und in der Kakophonie der Experten, der wirklichen und der selbsternannten, auch als Laie zu einem Meta-Experten werden. Recherche heißt: so lange zu stochern, bis man auf einen Text stößt, der Vertrauen verdient, weil sein Autor Sachkenntnis besitzt und sauber argumentiert.

Den Streit um DDT und Malaria könnte man auf den ersten Blick als Beleg für zunehmenden Orientierungsverlust betrachten. Ich sehe das genaue Gegenteil darin.

Die Geschichte der Malariabekämpfung ist kein Debakel, sondern nur ein stockender Prozess kollektiven Lernens durch Versuch und Irrtum. Genau das meinte der Philosoph Karl Popper mit seinem Begriff der Wahrheitsannäherung, der zur Bescheidenheit erzieht. Gewissheiten sind selten, Gewissheitsillusionen häufig. Unsere Theorien werden besser, aber sie haben blinde Flecken, enthalten Falsches und werden oft von der Wirklichkeit überholt – siehe metabolische Resistenzen, siehe die epidemiologisch relevante Veränderung von Lebensstilen, siehe das von allen Diskussionsteilnehmern übersehene Faktum der Zunahme der Weltbevölkerung um eine Milliarde im letzten Jahrzehnt – eine ausschließlich auf die Hochrisikogruppe der Kleinkinder beschränkte Zunahme mit Schwerpunkt auf dem Hochrisikokontinent Afrika. Hinter der resignativ stimmenden absoluten Zahl der Malariatoten verbirgt sich ein optimistisch stimmender relativer Erfolg.

Wir führen einen Diskurs, der zu wünschen übrig lässt, aber wenigstens führen wir ihn, und jeder lernt mit der Zeit etwas dazu. "Eine konfliktfreie Gesellschaft wäre eine Gesellschaft nicht von Freunden, sondern von Ameisen" schreibt Karl Popper in seiner Autobiografie Ausgangspunkte. Freund oder Ameise? Ich habe meine Wahl getroffen.


Gerhard Schulze

Gerhard Schulze, geb. 1944, ist Professor für Soziologie an der Universität Bamberg. Seine Arbeiten untersuchen den kulturellen Wandel der Gegenwart.



DAZ 2012, Nr. 46, S. 28

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