Retaxationen

Sind Nullretaxationen von BtM-Rezepten rechtens?

Wie einige Betriebskrankenkassen ihre Kompetenzen überschreiten

Janna K. Schweim und Harald G. Schweim | Durch die formelle betäubungsmittelrechtliche Prüfung von Betäubungsmittelrezepten überschreiten die Betriebskrankenkassen Novitas BKK, BKK vor Ort und BKK Hoesch nach unserer Auffassung ihre Kompetenzen, denn für diese Prüfung sind die Bundesopiumstelle (beim BfArM) sowie – gemäß Art. 85 GG zum Vollzug von Bundesgesetzen – die Überwachungsbehörden der Bundesländer zuständig.

Diese Rechtsauffassung vertritt auch die Bezirksregierung Düsseldorf [1].
Auf der ersten Ebene obliegt die Prüfung eines BtM-Rezeptes ohnehin der beliefernden Apotheke noch vor der Abgabe des Betäubungsmittels an den Patienten. So sieht § 12 Abs. 1 Nr. 1 b der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (BtMVV) vor, dass BtM-Rezepte, bei deren Ausfertigung die Vorschrift des § 9 BtMVV nicht beachtet wurde, nicht beliefert werden dürfen. Die Vorschrift des § 9 BtMVV regelt, welche Pflichtangaben auf einem BtM-Rezept enthalten sein müssen, und dient damit der Sicherheit und Kontrolle des Betäubungsmittelverkehrs [2]. Zudem sieht § 12 Abs. 2 S. 1 BtMVV vor, dass bei Verschreibungen, die einen für den Abgebenden erkennbaren Irrtum enthalten, unleserlich sind oder der Vorschrift des § 9 BtMVV nicht vollständig entsprechen, der Apotheker – nach Rücksprache mit dem verschreibenden Arzt – dazu berechtigt ist, die notwendige Änderung vorzunehmen. Diese Beurteilung obliegt der Verantwortung des Apothekers im Rahmen seiner Kompetenzen als sachkundige Person.

Es widerspräche jedoch sowohl einem geregelten Arbeitsablauf als auch dem Interesse des Patienten an der schnellstmöglichen Belieferung seines Rezepts, wenn man dem Apotheker stets eine Verpflichtung zur Rücksprache mit dem Arzt auferlegen würde. Dies ist insbesondere der Fall, wenn es sich, wie in den derzeit problematisierten Fällen, um nicht sicherheitsrelevante Angaben und zudem allgemein übliche und allgemeinverständliche Abkürzungen handelt. So kann sich der Apotheker beispielsweise davon überzeugen, dass "3× tägl." als Einnahmeanweisung "dreimal täglich" verstanden wird. Es ergibt sich keine Notwendigkeit dafür, derartige Formulierungen als Verstoß gegen § 9 BtMVV zu werten, sodass der Apotheker berechtigt und verpflichtet ist, das Betäubungsmittel ohne Gefährdung für den Patienten abzugeben.

Kasse zieht falsche Schlussfolgerungen

Eine Abgabe durch die Apotheke gibt in diesen Fällen keinen Grund zur Beanstandung, auch nicht unter Einbeziehung des Rahmenvertrags über die Arzneimittelversorgung nach § 129 Abs. 2 SGB V (Fassung vom 1. Februar 2011), wie im Dezember seitens der BKK Novitas argumentiert wurde [3]: So stellte sich die BKK Novitas auf den Standpunkt, dass – selbst im Falle einer sachgerecht erfolgten Arzneimittelabgabe durch den Apotheker – der Vergütungsanspruch aufgrund eines Formfehlers auf dem Rezept entfalle. Der Rahmenvertrag sieht in § 3 Abs. 1 S. 1 vor, dass "ein Vertrag zwischen Krankenkasse und Apotheke […] für vertragsgegenständliche Produkte durch die Annahme einer ordnungsgemäßen gültigen vertragsärztlichen Verordnung zustande [kommt]". Gemäß Abs. 2 "besteht kein vertraglicher Zahlungsanspruch gegenüber der Krankenkasse", wenn eine Voraussetzung nach Absatz 1 nicht erfüllt ist.

Obwohl der Wortlaut des Rahmenvertrags eindeutig ist, zieht die BKK die falsche rechtliche Schlussfolgerung: Eine sachgerechte Abgabe eines Arzneimittels kann – wie bereits dargelegt – nur auf ein ordnungsgemäßes Rezept erfolgen, womit bei sachgerechter Abgabe nicht zugleich ein Fall des § 3 Abs. 2 Rahmenvertrag vorliegen kann. Die (vollständige) Verweigerung der Kostenerstattung erfolgt aus diesem Grund nach unserer Auffassung zu Unrecht. Gemäß § 129 Abs. 4 SGB V existiert ein reglementiertes Sanktionssystem, konkretisiert durch § 11 des Rahmenvertrags, wie grobe Verstöße von Apothekern gegen den Rahmenvertrag geahndet werden können. Daneben wird die Retaxierung als öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch der Krankenkasse gegen den Apotheker praktiziert. Die vermehrt auftretende Vorgehensweise der Krankenkassen, anstelle des tatsächlich entstandenen Schadens auf "Null" zu retaxieren, wobei der Apotheker einen Totalverlust seines Vergütungsanspruches hinnehmen soll, ist mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) [4] nicht zu vereinbaren und daher unverhältnismäßig. Zudem widerspricht diese extensive Auslegung dem differenziert vorgegebenen Sanktionssystem in Gesetz und Rahmenvertrag [5].

Verstoß gegen Menschenrechte?

Durch ihre Weigerung, die Kosten für BtM-Rezepte zu erstatten, verursachen die Betriebskrankenkassen derzeit eine große Unsicherheit in der Ärzte- und Apothekerschaft und gefährden damit die flächendeckende Versorgung der Patienten mit ggf. lebensnotwendigen Medikamenten. Jeder Mensch hat im Erkrankungsfall einen aus dem Grundgesetz (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) und den Menschenrechten (Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie Art. 3 Abs. 1, Art. 7 und Art. 35 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union) abzuleitenden Anspruch auf (größtmögliche) Schmerzfreiheit. Um sich nicht dem Risiko einer Nullretaxierung auszusetzen, könnten nun Apotheker die Belieferung diverser BtM-Rezepte bis zur abschließenden Klärung von Formalia verzögern und damit – ob bewusst oder unbewusst – gegen dieses Recht verstoßen.

Dass eine derartige Konstellation nicht völlig abwegig ist, verdeutlich der vor Kurzem publik gewordene Fall eines Apothekers aus Nordrhein-Westfalen, der die Versicherten der drei genannten Betriebskrankenkassen schriftlich aufforderte mit ihren BtM-Rezepten andere Apotheken aufzusuchen [6]. Entgegen des vorgeblichen Ziels der Krankenkassen, auf diese Weise zur Verbesserung der Versorgungssicherheit beizutragen, begründen sie durch ihr Retaxationsverhalten die Gefahr der nicht ordnungsgemäßen und dringend gebotenen medikamentösen Versorgung von schwerstkranken Schmerzpatienten. Den Apothekern müsste bewusst sein, dass im Rahmen der verfassungsrechtlichen Güterabwägung die körperliche Unversehrtheit der Patienten (Volksgesundheit) stets Vorrang vor der strikten Befolgung von Ordnungsvorschriften und Einhaltung von Formalien haben sollte.

Auch mit der Vorschrift des § 12 Abs. 2 S. 3 BtMVV besteht die Möglichkeit, den Patienten in dringenden Fällen sofort und ohne Beteiligung des Arztes zu versorgen.

Haben sich die Kassenvorstände strafbar gemacht?

In obigen oder nicht als dringend erkannten Fällen könnte der betroffene Apotheker sich durch das Retaxationsverhalten der Krankenkassen jedoch dazu genötigt fühlen, von einer Versorgung bis zur Klärung von angeblichen Ausstellungsfehlern bei dem Rezept Abstand zu nehmen, weil er die Kosten für das Rezept nicht erstattet bekommt. Somit drängt sich die Überlegung auf, ob sich die Vorstände der Betriebskrankenkassen durch das Retaxationsverhalten möglicherweise einer Nötigung gemäß § 240 Abs. 1 des Strafgesetzbuches (StGB) gegenüber den Apothekern strafbar gemacht haben könnten: Die Vorschrift setzt voraus, dass ein Mensch rechtswidrig durch eine Nötigungshandlung – Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel – zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung genötigt wird. Die Drohung mit einem empfindlichen Übel wäre in der Inaussichtstellung der Nullretaxierung des BtM-Rezepts zu sehen, welche zwar nicht dem konkreten Apotheker gegenüber persönlich erfolgt, aber konkludent aufgrund der praktizierten Massenretaxierungen wie ein Damoklesschwert über den Apothekern schwebt. Dadurch wird die freie Willensentschließung und -betätigung des Apothekers beeinträchtigt, denn die ihm damit drohende massive finanzielle Einbuße stellt einen so erheblichen Nachteil dar, dass sich der Apotheker motiviert fühlen könnte, sich dem Willen des "Täters" – hier: der Betriebskrankenkasse – zu beugen. Das Verhalten, zu dem sich der Apotheker genötigt sehen könnte – und welches die Betriebskrankenkassen zumindest billigend in Kauf nehmen (bedingter Vorsatz) – ist das Unterlassen der Betäubungsmittelabgabe, obwohl der Apotheker berufsrechtlich zur Versorgung der Patienten mit den benötigten Medikamenten verpflichtet ist.

In einem letzten Schritt wäre zu fragen, ob die Androhung der Nullretaxierung zu dem Zweck, die Abgabe des Betäubungsmittels zu verhindern, im Sinne des § 240 Abs. 2 StGB "verwerflich" ist. Unter Verwerflichkeit ist nach der ständigen Rechtsprechung [7] ein erhöhter Grad sozialwidrigen Handelns bzw. ein sozial unerträgliches Verhalten zu verstehen. Nach unserer Bewertung kann es als im höchsten Maße sozial unerträglich bewertet werden, wenn die ordnungsgemäße Versorgung von schwerstkranken Schmerzpatienten mit dringend benötigten Medikamenten verzögert und den Menschen somit unnötiges Leid zugefügt wird, weil die Betriebskrankenkassen sich ihrer Verpflichtung zur Kostenerstattung zu entziehen versuchen. In diesem Zusammenhang erscheint es uns auch denkbar, hinsichtlich der Betriebskrankenkassen über eine mögliche Strafbarkeit wegen fahrlässiger Körperverletzung in "mittelbarer Täterschaft" gemäß §§ 229, 25 Abs. 1, 2. Alt. StGB zu spekulieren.

Prüfunternehmen Protaxplus: Gewinnmaximierung als Ziel

Gekrönt wird das Vorgehen der Betriebskrankenkassen durch die Beauftragung der Firma Protaxplus, welche im Auftrag der Kassen die BtM-Rezepte prüft und beanstandet. Sowohl bei der Prüfung von BtM-Rezepten als auch von Verordnungen von parenteralen Ernährungslösungen hat sich dieses Unternehmen, welches bevorzugt für die Betriebskrankenkassen tätig wird, dem Verdacht der systematischen Fehlersuche ausgesetzt [8]. Auf ihrer Homepage [9] wirbt die Firma Protaxplus mit ihrer Kernkompetenz bei der Prüfung eingereichter Rezepte und betont: "Dank unserer erfahrenen und besonders qualifizierten Mitarbeiter in Kombination mit unseren selbstentwickelten und ausgefeilten Prüfroutinen erreicht Protaxplus überdurchschnittliche Retaxationsquoten."

Zudem ist der Werdegang des Unternehmens äußerst interessant: Im Jahr 1948 gründete der Verband der Betriebskrankenkassen Rheinland und Westfalen eine eigene Arzneiabrechnungs- und Rezeptprüfstelle, welche über 60 Jahre die Abrechnungs- und Prüfungsaufgaben für die Betriebskrankenkassen übernommen hat, bevor diese im Juni 2011 als eigenständige Gesellschaft aus dem BKK-Landesverband Nordwest ausgegründet wurde [10]. Aufgrund dieser Vergangenheit kann dem externen Dienstleister Protaxplus GmbH und Co. KG, der erst seit Kurzem als privatwirtschaftliches Unternehmen seine Dienstleistung jedermann antragen kann, eine gewisse Nähe zu den Betriebskrankenkassen in Nordrhein-Westfalen unterstellt werden, welche Zweifel an ihrer wirtschaftlichen Unabhängigkeit weckt. In der neuen Organisationsform als Kapitalgesellschaft ist der Abrechnungsdienstleister Protaxplus zudem ein auf Gewinnmaximierung ausgerichtetes Unternehmen, welches in logischer Konsequenz an der Anzahl von durchgeführten Retaxierungen verdient. Die durch Protaxplus in Gang gesetzte "Retaxierungswelle" lässt daher auf ein systematisches Vorgehen schließen.

Abschließend soll insbesondere noch einmal darauf hingewiesen werden, dass ein externer Dienstleister keine weitergehende Prüfungskompetenz haben kann als die Krankenkasse selbst. Die formelle betäubungsmittelrechtliche Prüfung der Rezepte durch die Protaxplus im Auftrag der Betriebskrankenkassen Novitas BKK, BKK vor Ort und BKK Hoesch ist daher ebenfalls unzulässig und dieses Fehlverhalten den Betriebskrankenkassen zuzurechnen.

Fazit

Die o. a. Betriebskrankenkassen überschreiten nach unserer Auffassung nicht nur die ihnen zustehende Prüfungskompetenz, sondern maßen sich zudem noch Kompetenzen gesetzlich zuständiger Behörden an. Unter dem "Deckmantel", im Interesse der Patientensicherheit zu handeln, werden auf der Basis "nachrangiger formaler Fehler" vertraglich geschuldete Zahlungen zu Unrecht verweigert. Die Auslagerung der Prüfung an einen Dritten (= externer Dienstleister) wirft außerdem die Frage nach dessen Entlohnung auf, z. B. ob sie "erfolgsabhängig" ist.

Berufsrechtlich, rechtlich und ethisch ist der Apotheker – auch unter den obigen Bedingungen – verpflichtet, die Patienten mit den benötigten Medikamenten zu versorgen. Eine dramatische Konsequenz des Geschäftsgebarens der Betriebskrankenkassen könnte jedoch sein, dass einige Apotheker, in Fehlabwägung dieser Rechtspositionen, die Belieferung diverser BtM-Rezepte bis zur abschließenden Klärung der Formalia verzögern, um sich nicht dem Risiko eines Einkommensverlusts auszusetzen. Anstatt zur Verbesserung der Versorgungssicherheit beizutragen, könnten die Betriebskrankenkassen mittelbar dafür sorgen, dass schwerstkranken Schmerzpatienten ihre dringend benötigten Medikamente vorenthalten werden.


Quellen
[1] Vgl. Antwort der Bezirksregierung Düsseldorf, "Kammer im Gespräch" der Apothekerkammer Nordrhein, Ausgabe 3, Herbst 2011, S. 9.
[2] Vgl. Spickhoff, Medizinrecht, Kommentar 2011, BtMVV, § 9 Rn. 1 (Malek). 
[3] Vgl. Apotheke Adhoc, "Novitas BKK verbittet sich Einmischung", 01.12. 2011.

[4] Vgl. BSG Urteil v. 03. 08. 2006 – B 3 KR 7/06, NZS 2007, 425.

[5] Vgl. Spickhoff, Medizinrecht, Kommentar 2011, SGB V § 129 Rn. 14 (Barth).

[6] Vgl. Apotheke Adhoc, "Apotheker rebellieren gegen BTM-Retax", 31.10.2011.

[7] Vgl. Fischer, Strafgesetzbuch Kommentar 2009, § 240 Rn. 41.

[8] Vgl. Apotheke Adhoc, "Protaxplus retaxiert Rezepturen", 10.11. 2011.

[9] www.protaxplus.de/leistungen/pruefen.

[10] www.protaxplus.de/ihr-plus/unsere-langjaehrige-erfahrung.


Autoren
RAin Dipl.-Jur. Janna K. Schweim, M. Sc., Köln

Prof. Dr. Harald G. Schweim

Drug Regulatory Affairs, Universität Bonn

Gerhard-Domagk-Str. 3, 53121 Bonn



DAZ 2012, Nr. 4, S. 77

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