Diagnose des Diabetes
Seit der Empfehlung der Amerikanischen Diabetes-Vereinigung ADA aus dem Jahr 1979 gelten erhöhte Blutglucosewerte als Hauptkriterium für die Diabetesdiagnose. Bis heute wird in der Regel die venöse Plasmaglucose zu verschiedenen Zeitpunkten bestimmt:
- Einer Gelegenheits-Plasmaglucose > 200 mg/dl in Verbindung mit klassischen Diabetessymptomen (Polyurie, Polydipsie, Gewichtsverlust) bedeutet eine Diabetesdiagnose. Bei einer Gelegenheits-Plasmaglucose > 100 mg/dl erfolgt eine
- Nüchternmessung. Liegt nach einer Fastenperiode von mindestens acht Stunden der Nüchternblutzucker (NBZ; Fasting Plasma Glucose, FPG) wiederholt über 126 mg/dl, gilt ein Diabetes als gesichert.
- Liegt der Nüchternwert zwischen 110 mg/dl und 140 mg/dl, spricht man von einer "abnormen Nüchternglucose" (Impaired Fasting Glucose, IFG). Bei einem Nüchternblutzucker über 110 mg/dl besteht die Indikation zum
- Oralen Glucose-Toleranz-Test (OGTT), der nach einem streng geregelten Schema durchgeführt wird. Erreicht die venöse Plasmaglucose im OGTT nach zwei Stunden Werte > 200 mg/dl, ist Diabetes diagnostiziert. Liegt der Blutzuckerspiegel nach zwei Stunden zwischen 140 mg/dl und 200 mg/dl, spricht man von gestörter Glucosetoleranz (Impaired Glucose Tolerance, IGT).
"Untersuchungen in Populationen in aller Welt zeigen, dass mit der HbA1c-Messung die Karten neu gemischt werden. Aus Kranken werden Gesunde und umgekehrt!"
Prof. Dr. med Wolfgang Kerner, Karlsburg |
Blutglucose: bekannt problematisch
Ins Auge springt zunächst die zu diagnostischen Zwecken notwendige Einhaltung von Fastenperioden. Nach der Entnahme dürfen die Probenröhrchen nur kurzzeitig bei Zimmertemperatur aufbewahrt werden. Auch unter standardisierten Messbedingungen können Glucosemessungen beim selben Patienten zu verschiedenen (Tages-)Zeiten und anderen Voraussetzungen (Infektionen, Stress, Sport etc.) schwanken. Grundsätzlich sind bei Blutzuckermessungen Konzentrationsunterschiede zu berücksichtigen, zwischen venösem und kapillärem Blut, Plasma und Vollblut.
Die alternative Bestimmung des Hämoglobins A1c (HbA1c) verspricht hier methodische Vorteile. Sie wurde schon 2009 von einem internationalen Experten-Komitee als Option zur Diabetesdiagnose ins Spiel gebracht [International Expert Committee Report on the Role of the A1C Assay in the Diagnosis of Diabetes. Diabetes Care, 32(7), 2009, 1327 – 1344)]. Nach ihrem Vorschlag wäre
- ein Diabetes diagnostiziert bei einem HbA1c > 6,5% (> 47,5 mmol/mol) und
- ein Prädiabetes bei HbA1c -Werten zwischen 5,7% (38,8 mmol/mol) und 6,4% (46,4 mmol/mol).
Die Bestätigung der Diabetes-Diagnose könnte durch einen weiteren HbA1c -Test oder durch aktuelle Blutzuckerwerte über 200 mg/dl (oder durch eine eindeutige klinische Symptomatik) erfolgen.
"Der standardisierte HbA1c-Wert wird sich in absehbarer Zeit weltweit durchsetzen und die Bestimmung wird billiger. Zudem würde die Vereinfachung der Diagnostik Kosten sparen."
Prof. Dr. Dr. H.-G. Joost, Nuthetal |
HbA1c-Messung: verlockend einfach
Prof. Dr. Dr. H.-G. Joost vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Nuthetal sieht die Bestimmung des Biomarkers HbA1c gegenüber der konventionellen Glucose-Diagnostik klar im Vorteil: "Die Diagnostik muss einfach, präzise, ökonomisch und standardisiert sein. Von allen zurzeit verwendeten Laborwerten kommt der HbA1c -Wert den Anforderungen am nächsten." Spezifität und Sensitivität des Tests erlauben die sichere Diagnose Diabetes mellitus bei einem HbA1c -Wert > 6,5% (> 47,5 mmol/mol) und den Ausschluss der Diagnose bei < 5,7% (< 38,8 mmol/mol), so Joost. Die sichere Bestimmung auch im Graubereich des Prädiabetes (HbA1c zwischen 5,7% [38,8 mmol/mol]) und 6,5% [47,5 mmol/mol]) bilde die Basis für die Empfehlung gezielter Präventionsmaßnahmen. Denn Schäden an großen und kleinen Gefäßen und Nerven werden lange vor manifesten Stoffwechselsymptomen gesetzt. Die Einführung des HbA1c als diagnostisches Kriterium auch für den Prädiabetes würde in Einklang mit den von der Deutschen Diabetes Gesellschaft geforderten Präventionsmaßnahmen stehen: So sollte bei HbA1c -Werten zwischen 5,7% [38,8 mmol/mol]) und 6,5% (47,5 mmol/mol) mit einem einfachen Test (z. B. Diabetes Risiko Test) das Risiko für die Entwicklung des Typ-2-Diabetes eingrenzt und dann eine gezielte Primärprävention begonnen werden (Stellungnahme der deutschen Fachgesellschaften zur Verwendung des HbA1c -Wertes als Biomarker zur Diabetesdiagnose).
HbA1c-Messung zur Diabetesdiagnose: die Vorteile
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Blutzucker- und Hämoglobinwerte: inkongruent!
Den methodischen Vorteilen der HbA1c -Diagnostik stehen aber auch gravierende Probleme gegenüber, gibt der Karlsburger Diabetologe Professor Wolfgang Kerner zu bedenken.
- Die anhand Blutzucker- oder HbA1c -Messungen festgestellten Gruppen von manifesten Diabetikern und Prädiabetikern stimmen nur begrenzt überein. Je nachdem welche Kategorie man betrachtet (gestörte Nüchternglucose, Glucosetoleranzstörung, Diabetes) und welche HbA1c -Werte man zugrundelegt, sind die Schnittmengen teilweise "erschreckend gering".
- Die Assoziation zwischen glykosyliertem Hämoglobin und Blutzucker ist ethnisch variabel und wurde hauptsächlich in den USA untersucht. Studien in Deutschland fehlen bislang.
- Eine Standardisierung und Zertifizierung der Messverfahren wurde bis heute nicht flächendeckend eingeführt. Es existieren zwei Einheiten (Prozent und mmol/mol).
- Für das Kindes- und Jugendalter liegen kaum epidemiologische Daten vor.
- Die Bestimmung des HbA1c ist derzeit noch deutlich teurer als die Blutzuckermessung, kostet etwa das Zehnfache.
- Auch für das HbA1c gibt es Limitationen, welche die Tauglichkeit zur Diagnostik beim Diabetes einschränken. Dazu gehören Hämoglobinopathien und Erkrankungen, die den Umsatz der Erythrozyten verändern, sowie Nieren- oder Leberinsuffizienz. Auch zur Diagnose eines Gestationsdiabetes ist die Methode ungeeignet.
- Dauerbehandlung mit Acetylsalicylsäure (acetyliertes Hb) oder mit Ascorbinsäure oder Vitamin E (Hemmung der Glykierung) können den HbA1c -Wert verfälschen.
Unterm Strich sind sich die Diabetologen aber einig, dass der HbA1c seine Zukunft noch vor sich hat. "Er wird in naher Zukunft in der Risikoprädiktion und Prävention einen höheren Stellenwert erlangen, etwa vergleichbar wie Cholesterin- und Blutdruckwerte", ist sich Professor Joost sicher. Sein Kollege Kerner warnt aber vor einer Einführung zum jetzigen Zeitpunkt, den er als erheblich verfrüht ansieht. Erst wenn mehr Daten aus Deutschland vorliegen und mehr Erfahrungen mit der Standardisierung vorliegen, könne das Ziel lauten, die Diabetesdiagnose mit dem Hämoglobin zu stellen.
Quelle
"Ist eine Diabetes-Diagnose mit dem HbA1c möglich? Pro und Contra” Dtsch Med Wochenschr 2011;136: 1128 – 1129.
DAZ 2012, Nr. 4, S. 46