Arzneimittel und Therapie

Auswirkungen von Interferon-beta auf die Progression bei MS

Diskussion um negative Studienergebnisse

Eine kanadische Kohorten-Studie zur Interferon-Therapie bei Multipler sklerose wird derzeit kontrovers diskutiert. Diese kommt zum Schluss, dass eine Interferon-beta-Therapie die Krankheitsprogression nicht verringert. Dieses Ergebnis wird von Fachgesellschaften angezweifelt, da die Studie einige methodische Mängel aufweist.

Bei der schubförmig remittierenden Multiplen sklerose gilt die Behandlung mit Interferon-beta als weit verbreiteter Standard. Durch die immunmodulierende Therapie können die entzündlichen Läsionen im Gehirn reduziert und die Rückfallhäufigkeit verringert werden; der Einfluss auf die Behinderungsprogression ist hingegen unklar. Daher untersuchte eine kanadische Studie, ob und in welchem Ausmaß die Behinderungsprogression durch eine Therapie mit Interferon-beta beeinflusst werden kann. Die erforderlichen Daten dieser retrospektiven Kohorten-Studie stammen aus einer kanadischen Datenbank, die auf Unterlagen zwischen 1985 und 2008 zurückgreift. Insgesamt wurden die Daten von 2656 Patienten ausgewertet, die unterschiedliche bzw. keine medikamentösen Therapien erhalten hatten:

  • 868 Probanden waren mit Interferon-beta behandelt worden (Interferon-Gruppe)
  • 829 hatten keine Therapie erhalten (Kontrollgruppe) und
  • 959 Patienten gehörten der "historischen" Vergleichsgruppe vor der Einführung von Interferon-beta an (Vergleichsgruppe).

Der primäre Studienendpunkt war die Zeit bis zum Erreichen eines Behinderungsgrades vom Wert 6 auf der EDS-Skala. Die EDS-Skala (EDSS = Expanded Disability Status Scale) reicht von 1 bis 10, wobei höhere Werte für stärkere Behinderungen stehen. Zur Veranschaulichung: Der Wert 6 bedeutet, dass der Patient eine Strecke von 100 Metern nur mit einer Gehhilfe bewältigen kann. Zu Beginn der Datenaufzeichnung hatten die Patienten aller Gruppen einen EDS-Wert von 2.

Kein Einfluss auf die Behinderungsprogression

Nach median 5,1 Jahren hatten 10,8% der Patienten der Interferon-Gruppe den EDS-Zielwert von 6 erreicht. In der Kontrollgruppe waren es 5,3% nach vier Jahren und in der historischen Vergleichsgruppe 23,1% nach 10,8 Jahren. In die Cox Regressionsanalyse gingen die verschiedenen Therapiearten als zeitabhängige Kovariante mit ein. Die Kernaussage dieser Analyse lautet: Für mit Interferon-beta behandelte Patienten ist das Risiko der Krankheitsprogression im Vergleich zur Kontrollgruppe tendenziell erhöht, im Vergleich zur historischen Vergleichsgruppe tendenziell vermindert. Auch die Berücksichtigung potenzieller Einflussfaktoren wie Alter, Geschlecht, Krankheitsdauer und EDS-Werten führte zu keinem Ergebnis, das der Interferon-beta-Gabe einen günstigen Einfluss auf die Krankheitsprogression zuerkennt. Die Hazard ratio lag in der Interferon-Gruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe bei 1,3 (es lag also ein um 30% erhöhtes Risiko vor); im Vergleich zur historischen Vergleichsgruppe bei 0,77, (also ein um 23% reduziertes Risiko); keiner dieser Unterschiede war statistisch signifikant. Selbst wenn Komorbiditäten und der sozioökonomische Status der Patienten berücksichtigt wurden, zeigte sich kein anderes Bild.

Kommentar

In einem Editorial zu dieser Studie werden die Ergebnisse kritisch kommentiert. Aus den statistisch nicht signifikanten Daten dürfe nicht der Schluss gezogen werden, dass eine Interferon-Therapie die Krankheitsprogression beschleunige. Für aussagekräftige Daten seien die Patientenkollektive wohl zu klein und wahrscheinlich liege ein Selektions-Bias vor. Das heißt, Patienten, die Medikamente erhalten, sind in der Regel stärker krank als solche, die keine medikamentöse Behandlung erhalten. Diese Vermutung bestätigt sich bei einer genaueren Betrachtung der Patientendaten. So hatten etwa die Probanden der Interferon-Gruppe vor Behandlungsbeginn eine höhere Schubrate als die Teilnehmer der unbehandelten Kontrollgruppe. Dies legt den Schluss nahe, dass die Probanden der Kontrollgruppe keine Therapie erhalten hatten, da ihr Krankheitsverlauf prognostisch günstiger eingeschätzt wurde. Das Fazit der Kommentatoren zu dieser Studie: Eine fehlende Evidenz sei noch kein Beweis für eine fehlende Wirksamkeit und aufgrund der methodischen Schwächen der Studie werde sich wohl am derzeitigen Verschreibungsverhalten der Neurologen nichts ändern.


Stellungnahme deutscher Fachgesellschaften


Auch deutsche Fachgesellschaften werten diese Studie kritisch und zeigen deren methodische Schwächen auf. Das sind

  • die rückwärtige Auswertung der Daten

  • der Bezug auf eine Kohorte mit möglicherweise geringerer Entzündungs- und Progressionsaktivität sowie
  • der schwierige Vergleich mit der unbehandelten Kontrollgruppe, da möglicherweise bevorzugt Patienten mit schwerem Verlauf behandelt und jene mit mildem Verlauf unbehandelt gelassen wurden.

Die Fachgesellschaften sehen daher keinen Grund, auf die Verordnung von Interferon-Präparaten zu verzichten und kommen zu folgendem Fazit: "Auch wenn der tatsächliche Einfluss dieser Therapieform auf die Behinderungsprogression und fixe Endpunkte der Behinderung nicht überzeugend positiv belegt ist, lässt sich aus dem Studiendesign nicht im Umkehrschluss wissenschaftlich das Gegenteil ableiten. Konsequenzen für die gegenwärtige Therapie-Empfehlung und Umsetzung, wie in der aktuellen MS-Leitlinie beschrieben, ergeben sich demnach nicht."


[Stellungnahme des Vorstandes des Ärztlichen Beirates der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG), Bundesverband e.V. und des Krankheitsbezogenen Kompetenznetz Multiple Sklerose (KKNMS) im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zur Interferon-Therapie; Stand August 2012].


Quelle

Shirani A., et al.: Association between use of Interferon beta and progression of disability in patients with relapsing-remitting multiple sclerosis. JAMA (2012) 308, 247 – 256.

Derfuss T., et al.: Evaluating the potential benefit of Interferon treatment in multiple sclerosis. JAMA (2012) 308, 290 – 291.


Apothekerin Dr. Petra Jungmayr



DAZ 2012, Nr. 38, S. 43

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