Selbstmedikation

Nutzloser Nicotinersatz?

Studie zu Rückfallquoten sorgt für Irritationen

Der Abschied von der Zigarette ist mühsam und soll mit medikamentöser Unterstützung besser gelingen. Für einen ersten Versuch werden dazu gerne Nicotinersatzpräparate herangezogen. Doch jetzt sorgt eine prospektive Kohortenstudie der Harvard School of Public Health in Boston für Irritationen. Die Rückfallquoten bei entwöhnungswilligen Rauchern waren mit und ohne Nicotinersatztherapie ähnlich, bei starken Rauchern mit Nicotinersatztherapie sogar höher als ohne. Sind Nicotinpflaster und Co. damit "komplett nutzlos", wie große Publikumsmedien titeln?

Um herauszufinden, mit welchem langfristigen Erfolg entwöhnungswillige Raucher rechnen können, wenn sie zur Unterstützung eine Nicotinersatztherapie erhalten, hatten professionelle Telefoninterviewer zunächst 6739 Erwachsene aus dem US-Bundesstaat Massachusetts ausgewählt und sie nach Rauchern und ehemaligen Rauchern, die in den letzten zwei Jahren das Rauchen aufgegeben hatten, eingeteilt. Sie wurden dann dreimal im Abstand von zwei Jahren befragt. Dabei wurde erfasst, ob zur Entwöhnung Nicotinersatzpräparate (über 6 Wochen) und/oder eine professionelle Unterstützung herangezogen wurden. Am Ende der Studie lagen die Antworten von 787 Teilnehmern der Gruppe vor, die kurz vor Studienbeginn das Rauchen aufgegeben hatten. Bei jeder Befragung war ein Drittel von ihnen rückfällig geworden. Dabei spielte es keine Rolle, ob sie nur Nicotinersatzpräparate verwendet oder zusätzlich noch professionelle Hilfe in Anspruch genommen hatten. Den Autoren zufolge geben die Ergebnisse Anlass, an der Effektivität einer Nicotinersatztherapie zu zweifeln. Gleichzeitig kritisieren sie in diesem Zusammenhang die Übertragbarkeit der Ergebnisse randomisierter klinischer Studien auf normale Lebensumstände. In Metaanalysen randomisierter klinischer Studien war der Nicotinersatztherapie ein positiver Nutzen mit Odds ratios in Größenordnungen von 1,5 bis 3,1 bescheinigt worden. So fand eine 2008 veröffentlichte Cochrane-Analyse von 111 Studien mit über 40.000 Patienten, dass eine Nicotinersatztherapie den Erfolg einer Raucherentwöhnung um 70% steigern kann (OR 1,77). Doch sagen diese Ergebnisse nichts über den langfristigen Erfolg aus, so die Kritik, da nur die Abstinenz nach sechs bis zwölf Monaten erfasst wurde. Die Autoren halten aufgrund ihres Studienergebnisses die Finanzierung von Nicotinersatzpräparaten im Rahmen von Raucherentwöhnungsprogrammen für fragwürdig. Eine Auffassung, die die "Initiative Raucherentwöhnung" im Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH) nicht teilen will. In einer Pressemitteilung vom 11. Januar 2012 wird betont, dass die intensiven Forschungen der vergangenen 30 Jahre belegen, dass insbesondere Menschen, die mehr als zehn Zigaretten am Tag rauchen, von der Therapie profitieren (s. Interview S. 52). Auch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) sei zu dem Fazit gekommen, dass die Nicotinersatztherapie "hilfreich und gut verträglich ist". Der Gemeinsame Bundesausschuss habe eine Empfehlung für die Erstattung der Nicotinersatztherapie durch die gesetzlichen Krankenkassen als wichtige Begleitmaßnahme von Behandlungsprogrammen bei COPD sowie Asthma ausgesprochen.

"Bewährte Therapiestrategien nicht voreilig aufgeben!"

Für den Suchtexperten Prof. Dr. Anil Batra, Universität Tübingen, steht die Studie von Alpert et al. im Widerspruch zu den bisherigen Studien bzw. Metaanalysen. Gegenüber der DAZ betonte er, dass auf der Basis einer Studie mit nur kleinen Fallzahlen die Aussagen vieler anderer Studien noch nicht als widerlegt angesehen werden können. Darüber hinaus sei das Design der hier berichteten Studie anders als bei klinischen Untersuchungen, die die Wirksamkeit einer Substanz im Vergleich zu Placebo untersuchen. Diese Studie gebe natürlich Anlass, weiterhin die Wirksamkeit von zugelassenen Medikationen zu prüfen, sie dürfe jedoch nicht dazu verwendet werden, voreilig bewährte und in den Augen vieler als wirksam angesehene Therapiestrategien aufzugeben.


Quelle
Alpert HR et al.: A prospecteve cohort study challenging the effectivness of population-based medical intervention für smoking cessation. Tobacco Control Online-Publikation vom 10. Janaur 2012.


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DAZ 2012, Nr. 3, S. 51



Nachgefragt bei der "Initiative Raucherentwöhnung"


Die "Initiative Raucherentwöhnung" im Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH) hält die Nicotinersatztherapie nach wie vor für hilfreich und setzt sich für eine Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen ein. Wir haben mit Dr. Karlheinz Mulzer von der "Initiative Raucherentwöhnung" über die Studie und die Kritik von Alpert et al. gesprochen.


DAZ: Alpert et al. haben Raucher nach Rauchaufgabe über mehrere Jahre nachverfolgt. Positive Bewertungen der Nicotinersatztherapie (IQWiG, Cochrane) sollen dagegen nur auf Studien bis zu einem Jahr beruhen. Ist das richtig oder sind auch positive Langzeitstudien eingeflossen?

Mulzer: Seit mehr als 30 Jahren wird über die Wirksamkeit von Arzneimitteln zur Raucherentwöhnung geforscht. In diesem Zeitraum haben sich Qualitätsstandards entwickelt (z. B. GCP, Deklaration von Helsinki), die in klinischen Forschungsprojekten Berücksichtigung fanden. Die unabhängigen Autoren der Metaanalysen bewerten die existierende Literatur auch anhand der aus den Standards entwickelten Kriterien, z. B. kontrollierte, randomisierte Experimentalbedingungen. Für die Nicotinersatztherapie (NET) finden mehr als 130 Studien Berücksichtigung. Sämtliche Metaanalysen der Vergangenheit kommen zu einer einheitlichen Schlussfolgerung: Die Anwendung von NET ist wirksam.

Was ist das Untersuchungsziel dieser Studien? In der Regel ist es die dauerhafte Abstinenz ohne Rückfall vom ersten Tag der Intervention an, dies meist im Vergleich zu einer Placebobehandlung. Nur auf diesem Weg lässt sich wissenschaftlich eindeutig die Wirksamkeit ermitteln, da die Kohorte der Entwöhnungswilligen von Anbeginn des Rauchstoppversuchs begleitet wird. In der Regel werden hier Beobachtungszeiträume bis zu einem Jahr bei einem Therapiefenster von 3 Monaten zugrunde gelegt. Die Abstinenzwerte in diesem Zeitraum zeigen in den allermeisten Fällen einen signifikanten Unterschied zwischen der Aktiv- und der Placebobehandlung. In beiden Behandlungsarmen ereignen sich aber Rückfälle, die die durch die medikamentöse Intervention vergrößerte abstinente Population nicht kompensieren. Zwar ist der Zeitraum bis zu einem Jahr für die Ermittlung der Abstinenz ausreichend, da die Wahrscheinlichkeit des Rückfalls danach deutlich sinkt (sowohl für Aktiv als auch Placebo), trotzdem wurden in einzelnen Projekten längere Beobachtungen bis zu 5 Jahren durchgeführt (Herrera et al, Chest; Murray et al., Chest). Das IQWiG ist für die Erstellung von Risiko-Nutzen-Bewertungen eigenverantwortlich, es ist davon auszugehen, dass alle Aspekte der Forschung Berücksichtigung finden.


DAZ: In Ihrer Pressemitteilung verweisen Sie darauf, dass gerade starke Raucher von der Nicotinersatztherapie profitieren. Welche Studien liegen dieser Aussage zugrunde?

Mulzer: Die Behandlung der Tabakabhängigkeit als Suchterkrankung bedarf einer Voraussetzung: der Abhängigkeit. Diese ist u. a. durch einen verstärkten Zigarettenkonsum über 10 Zigaretten/d qualifiziert. In vielen Forschungsprojekten wurden daher Raucher mit einem höheren Konsum in die Studien eingeschlossen. Hieraus ergibt sich eine sehr gute Kenntnislage für abhängige Raucher über 10 Zigaretten, eingeschränkt für Raucher mit niedrigem Rauchkonsum und geringer Abhängigkeit.


DAZ: In der neuen Langzeitstudie wiesen die starken Raucher unter einer Nicotinersatztherapie sogar eine im Vergleich zu keiner Therapie doppelt so hohe Rückfallquote auf. Wie bewerten Sie dieses Ergebnis, das ja im Widerspruch zu der Aussage in Ihrer Pressemitteilung steht?

Mulzer: Dieser Effekt trat nur bei einer Befragung mit kleiner Fallzahl auf (Welle 2 zu 3). Ohne weitere Kenntnis über die betroffene Kohorte (Alter, Abhängigkeitsgrad, Anzahl der Rauchstoppversuche, Zigarettenkonsum, Motivationsgrad, NET-Compliance) lässt sich dies nicht interpretieren – eine Zufallsverteilung bei kleiner Fallzahl kann nicht ausgeschlossen werden, zumal sich von Welle 1 zu 2 ein anderes Ergebnis zeigt. Die nun veröffentlichte Studie ist generell nicht geeignet die Wirksamkeit einer Therapie zu ermitteln. Dies würde in kontrollierten, randomisierten, doppelblinden Studienprojekten zu ermitteln sein, wie dies von den Behörden und unabhängigen Autoritäten unter Beachtung der Qualitätsstandards gefordert wird. Deshalb besteht auch kein Widerspruch zur Langzeitstudie. Diese hat nicht die Abstinenz von Rauchern im Entwöhnungsprozess, sondern den Rückfall von bereits ‚Rauchfreien‘ zum Gegenstand.


DAZ: Wo liegen Ihrer Meinung nach die Stärken, wo die Schwächen der Studie von Alpert et al.?

Mulzer: Die publizierte Untersuchung ist eine Beobachtungsstudie auf der Basis von Telefoninterviews mit Rauchern, die angaben, das Rauchen bereits eingestellt zu haben. Die Erhebung war nicht kontrolliert, die Auskünfte beruhten auf Aussagen, die teils von Angehörigen getätigt wurden. Gefragt wurde nach Rückfall, ohne diesen zu qualifizieren (dauerhaft oder zeitweise?), der Zeitpunkt des Rauchstopps ereignete sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten in der Vergangenheit. Dies ist bedeutend, da die Rückfallwahrscheinlichkeit mit dem Abstand zum Rauchstopp sinkt. In der Bewertung und Darstellung wurde nicht die gesamte Population einbezogen, sondern nur die Rückfallkohorte. Die Kohorten waren heterogen (siehe NET-Anwender – alles zwischen einmal und > 6 Monate, nur wenige "compliant"). Unklar bleibt der Zeitpunkt der therapeutischen Intervention. Auch schwanken die Ergebnisse zwischen den einzelnen Wellen erheblich und zeigen enorme Streubreite. Die größte Schwäche der Studie ist aber die Tatsache, dass sie zeigt, was ohnehin bekannt ist. Auch die Nutzer einer therapeutischen Intervention sind vor Rückfall nicht geschützt. Gleichwohl ist es aber möglich, die Fallzahl der erfolgreich Abstinenten signifikant zu vergrößern.

Die Stärke? Vielleicht liegt diese in der Erkenntnislage, dass der Rauchausstieg, wie bei jeder Suchterkrankung, ein Problem darstellt, das mit einer einmaligen Intervention nicht gelöst wird. Eine weitere Beobachtung bestätigt ein Grundproblem jeglicher Pharmakotherapie, die Therapieadhärenz/-compliance unter Alltagsbedingungen ist nur mäßig ausgeprägt. Da häufig die Dosierungsempfehlungen nicht eingehalten und meist unterschritten werden, kann der Nutzen eines Arzneimittels, wie er in der klinischen Forschung ermittelt wurde, nicht zum Tragen kommen.


DAZ: Wie bewerten Sie die Auffassung von Alpert et al., dass Ergebnisse randomisierter klinischer Studien nicht geeignet sind, verlässliche Aussagen über den Erfolg einer Entzugsbehandlung unter alltäglichen Bedingungen zu treffen?

Mulzer: Diese Aussage stellt die Bewertung der klinischen Forschung und der evidenzbasierten Medizin auf den Kopf. Somit wäre es möglich, mit Telefoninterviews die vermeintliche Wirksamkeit zu überprüfen. Es bleibt anzuzweifeln, ob die Fachwelt sich damit zufriedenstellen lässt. Umgekehrt ist es mit diesem Projekt nicht möglich, die Wirksamkeit zu ermitteln, da wie bereits betont, eine kurzzeitige Behandlungsphase kein Präservativ für alle Zeit ist. Das sich durch eine Vergrößerung der mit NET erfolgreich abstinenten Kohorte auch epidemiologische Effekte erzielen lassen, zeigt ein Blick auf das Vereinigte Königreich (UK). Hier nutzen laut Euro barometer (2010) nahezu 50% der Aufhörwilligen NET bei einem Rauchstoppversuch. So konnte zwischen den Jahren 1998 und 2008 der Raucheranteil in der UK-Bevölkerung um 7 Prozentpunkte von 28% auf 21% gesenkt werden. In Deutschland beträgt der NET-Nutzungsgrad 5% (Eurobarometer 2010), der Raucheranteil in der Bevölkerung ist stabil – 2005: 28,7% – 2009: 27,6% (Mikrozensus 2010).


DAZ: Danke für das Gespräch!


Interview Dr. Doris Uhl



DAZ 2012, Nr. 3, S.52

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