Arzneimittel und Therapie

Niacin ohne Nutzen bei Hypercholesterinämie?

Studienabbruch sorgt für Diskussionen

Die großangelegte amerikanische Studie AIM-HIGH sollte den Nutzen einer Niacin-Behandlung für die Lipidwerte und darüber hinaus einen klinischen Benefit für die Patienten durch Reduktion der Zahl kardiovaskulärer Ereignisse zeigen. Wegen mangelnder Effektivität wurde sie jedoch 18 Monate vor dem geplanten Ende abgebrochen, was unter Experten ein geteiltes Echo zur Folge hatte.

Nicht nur die Senkung des LDL-Cholesterins, sondern auch die Verminderung der Triglyzerid-Werte im Blut und die Erhöhung der HDL-Konzentration zählen zu den Stellschrauben der kardiovaskulären Prävention. Die Serumcholesterol-senkende Wirkung von Niacin war bereits 1955 erstmalig beschrieben worden. In der Folgezeit hatten weitere, selektivere Untersuchungen bestätigt, dass die Substanz vor allem in der Lage ist, die Spiegel von LDL, VLDL, Triglyzeriden und Apolipoprotein B zu senken sowie die HDL-Spiegel zu erhöhen, wobei die zugrunde liegenden Wirkmechanismen noch nicht vollständig aufgeklärt sind. Aus Mangel an klinischen Endpunktstudien mit Niacin wurde 2006 die AIM-HIGH-Studie (Atherothrombosis Intervention in Metabolic Syndrome with Low HDL/High Triglyzerides: Impact on Global Health Outcomes) begonnen, deren 3414 Teilnehmer (Mindestalter 45 Jahre) an kardiovaskulären Erkrankungen und Dyslipidämien (erhöhte Triglyzerid- und LDL-Cholesterinwerte sowie verminderte HDL-Spiegel) litten. Studienmedikation war eine retardierte Niacin-Formulierung (1500 bis 2000 mg/d, n = 1718), 1696 Teilnehmer erhielten Placebo. Um die LDL-Spiegel im Zielbereich 40 bis 80 mg/dl zu halten, wurden zusätzlich zwischen 40 und 80 mg Simvastatin sowie bei Bedarf Ezetimib (10 mg/d) verabreicht. Ziel der Studie war es, die Inzidenz des primären Endpunkts zu senken, der sich aus mehreren Komponenten zusammensetzte (Tod durch kardiovaskuläre Erkrankung, nicht-tödlicher Herzinfarkt, Schlaganfall, Klinikaufenthalt wegen akutem Koronarsyndrom, koronare oder zerebrale Revaskularisation).

Studie früher als geplant beendet

Nach einer Zwischenauswertung im April 2011 wurde die eigentlich bis Ende 2012 angelegte Studie wegen mangelnder Effektivität vorzeitig beendet. Zwar konnte als Erfolg eine Verbesserung der Lipidparameter verbucht werden: nach zwei Jahren hatte die Niacin-Behandlung die mittleren HDL-Spiegel signifikant von 35 mg/dl (0,91 mmol/l) auf 42 mg/dl (1,08 mmol/l) erhöht, die Triglyzerid-Spiegel von 164 mg/dl (1,85 mmol/l) auf 122 mg/dl (1,38 mmol/l) vermindert. Auch die LDL-Spiegel fielen im Mittel von 74 mg/dl (1,91 mmol/l) auf 62 mg/dl (1,60 mmol/l). Der primäre Endpunkt wurde in der Niacin-Gruppe von 282 Patienten (16,4%), in der Placebogruppe von 274 Patienten (16,2%, hazard ratio 1,02, 95% KI 0,87 bis 1,21, p = 0,79) erreicht. Damit hatten die kardiovaskulär vorbelasteten Patienten, abgesehen von Verbesserungen in den HDL- und Triglyzerid-Werten, keinen klinischen Nutzen von der Behandlung mit Niacin zusätzlich zur Statin-Therapie.

Überraschend zeigte sich unter Niacin eine hohe, wenn auch nicht signifikant höhere Zahl von Schlaganfällen. Innerhalb von 32 Monaten traten in diesem Studienarm 28 Schlaganfälle (1,6%) auf, im Placebo-Arm dagegen nur 12 (0,7%). Nach Ansicht der Studienautoren gestaltet sich die Bewertung dieses Befundes als schwierig, zumal neun der 28 Schlaganfälle bei Patienten aufgetreten waren, die Niacin mindestens zwei Monate zuvor abgesetzt hatten.


Nicotinsäure - Vitamin und Medikament


Nicotinsäure (Niacin) ist ein wasserlösliches B-Vitamin, das beispielsweise in Fleisch, Fisch, Milchprodukten und Eiern enthalten ist.

Als Arzneimittel ist Nicotinsäure in Deutschland in Kombination mit dem Prostaglandin-D2 -Rezeptor-Antagonisten Laropiprant zur Behandlung von Fettstoffwechselstörungen zugelassen, insbesondere bei Patienten mit kombinierter Dyslipidämie, die durch erhöhtes LDL-Cholesterin und erhöhte Triglyzeride sowie niedrige HDL-Cholesterin-Werte gekennzeichnet ist, und bei Patienten mit primärer Hypercholesterinämie. Das Präparat (Tredaptive®) sollte möglichst in Kombination mit HMGCoA-Reduktase-Hemmern bei Patienten angewendet werden, bei denen die cholesterinsenkende Wirkung einer Statin-Monotherapie unzureichend ist. Diäten oder andere nicht-pharmakologische Behandlungen (z. B. Bewegung, Gewichtsreduktion) sollten während der Therapie fortgesetzt werden.

Der Kombinationspartner Laropiprant dient zur Milderung des Flush-Syndroms, eine unter Umständen therapielimitierende Nebenwirkung der Nicotinsäure. Mit dieser Kombination läuft derzeit eine großangelegte Studie (HPS2-Thrive Treatment of HDL to Reduce the Incidence of Vascular Events), die untersuchen soll, ob damit das Risiko für weitere kardiovaskuläre Ereignisse bei Patienten mit bestehenden Vorerkrankungen reduziert werden kann. Erste Ergebnisse werden 2013 erwartet.


[Quelle: www.clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT00461630 ]

Nach Ansicht eines Kommentators der Studie rechtfertigen die Ergebnisse nicht die Gabe von Niacin als Add-on-Therapie zu Statinen bei Patienten, die an kardiovaskulären Erkrankungen leiden und stabile LDL-Werte aufweisen. Andere Autoren halten den Studienabbruch für voreilig und unbegründet; Chancen, etwas über den Nutzen einer Niacin-Gabe zusätzlich zu Statinen zu erfahren, seien dadurch verschenkt worden. 

Abbott Laboratories, der Hersteller des in den USA zugelassenen Niacin-Monopräparats NiaspanTM , stellte die Produktion des Medikaments Mitte 2011 ein.


Quelle

The AIM-HIGH Investigators: Niacin in patients with low HDL cholesterol levels receiving intensive statin therapy. N Engl J Med 365:2255 – 2267 (2011)

Giugliano, R.P.: Niacin at 56 years of age – time for an early retirement? N Engl J Med 365: 2318 – 2319 (2011).

Fachinformation Tredaptive® , Stand September 2011.

Rote Liste online, www.rote-liste.de

Eingestellte Niacin-Studie sorgt für Streit. Ärzte-Zeitung online, Meldung vom 16. November 2011.


Apothekerin Dr. Claudia Bruhn



DAZ 2012, Nr. 3, S. 46

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