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Vom Wirkstoff zum Arzneimittel

1. Teil: Von der Präklinik zur Phase-I-Studie

Editorial

Liebe Leserinnen, liebe Leser!


Bevor ein neuer Arzneistoff zugelassen wird und anschließend vom Hersteller in den Markt eingeführt werden darf, durchläuft er umfassende Studien, in denen seine Sicherheit und Wirksamkeit sowie seine pharmazeutische Qualität getestet werden. Auch nach der Markteinführung werden noch Untersuchungen, z. B. zu unerwünschten Arzneimittelwirkungen, durchgeführt. In einer dreiteiligen UniDAZ-Serie werden die Anforderungen, die die Zulassungsbehörden an diese Studien stellen, vorgestellt und erläutert. Hier, im ersten Teil, kommen die Schritte, die vor der ersten klinischen Prüfung durchlaufen werden müssen, zur Sprache. Im zweiten Teil geht es um die drei Phasen der klinischen Prüfungen, im dritten Teil wird das "Schicksal" des Arzneimittels nach seiner Markteinführung erläutert.

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Bevor ein Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff zugelassen werden kann, muss dieser aufwendig auf Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit geprüft werden. Das erste große Problem bereitet dabei der Übergang vom Tierversuch zur ersten Anwendung am Menschen (engl. first in human), zur sogenannten Phase I der klinischen Prüfung. Hier kommt es darauf an, Daten über das Verhalten des Wirkstoffs im menschlichen Körper zu erhalten, die sich von den in Tierversuchen gewonnenen Daten unterscheiden können. Viele potenzielle Arzneistoffe scheitern bereits hier, weil sie zu große unerwünschte Wirkungen entfalten.


Die klinische Prüfung eines neuen Arzneistoffs wird durchgeführt, um zu beweisen, dass Sicherheit und Wirksamkeit genauso gut (non-inferiority) bzw. besser sind (superiority) als die bisher auf dem Markt befindlichen Arzneistoffe mit gleicher Indikation. Die klinische Prüfung beginnt, wenn die regulatorisch geforderten präklinischen Studien mit positiven Ergebnissen abgeschlossen sind und die Wirksamkeit und die Sicherheit am Menschen geprüft werden soll. Sie ist prospektiv angelegt und gliedert sich in drei Phasen (Phasen I bis III). Nach der klinischen Prüfung kann der Hersteller einen Zulassungsantrag stellen. Ist das neue Arzneimittel zugelassen und in den Markt eingeführt, werden in der klinischen Anwendungsbeobachtung (Phase IV) Erfahrungen mit dem neuen Produkt in der Praxis gesammelt. Dies ist unter anderem für die potenzielle Anwendung des Arzneistoffs für andere Indikationen oder für eine Weiterentwicklung der Darreichungsform (z. B. Saft statt Tablette für eine Anwendung bei kleinen Kindern) von Bedeutung.

Bevor der neue Wirkstoff in der Phase I der klinischen Prüfung an gesunden Probanden untersucht wird, muss in der präklinischen Phase eine umfangreiche pharmakologische, pharmakokinetische und toxikologische Charakterisierung der neuen Substanz vorgenommen worden sein.

Regulatorisch erforderliche präklinische Studien

Ziel der präklinischen Untersuchungen sind vornehmlich zwei Dinge:

  • Zum einen sollen Pharmakologie, Pharmakokinetik, Toxikologie, Sicherheit und Wirksamkeit des potenziellen Arzneistoffes zunächst in Zellkulturen und an Tieren getestet werden, bevor es zu seiner Anwendung am Menschen kommt.

  • Zum anderen muss aus den tierexperimentellen Studien die Anfangsdosis für die Probanden in der Phase-I-Untersuchung abgeleitet werden.

Für beide Fragestellungen dienen sogenannte Modelle als Surrogat (Ersatz) für den Menschen. Aus diesem Grund wird in den Leitlinien zur präklinischen Prüfung oft die Frage diskutiert, welcher Organismus (Spezies, Stamm etc.) als Surrogat für eine bestimmte Fragestellung am besten geeignet ist. Generell können die präklinischen Studien anhand der eingesetzten Modelle unterteilt werden in

  • Studien an Bakterien, Zellkulturen und andere In-vitro-Verfahren,

  • In-vivo-Studien an Nagern und

  • In-vivo-Studien an Nicht-Nagern (Säugetiere wie Kaninchen, Hund, Affe, Schwein etc.).

Viele der Leitlinien, die in diesem Bereich angewendet werden, kommen aus dem Sicherheits- und multidisziplinären Sektor der International Conference on Harmonisation of Technical Requirements for Registration of Pharmaceuticals for Human Use, kurz ICH (siehe Infobox).


Infobox

International Conference on Harmonisation (ICH)


Die International Conference on Harmonisation of Technical Requirements for Registration of Pharmaceuticals for Human Use (ICH) wurde 1990 gegründet. Gründungsmitglieder sind die amerikanische Arznei- und Lebensmittelaufsicht (Food and Drug Administration, FDA), die Europäische Kommission, das japanischen Ministerium für Gesundheit sowie die Arzneimittelherstellerverbände Pharmaceutical Research and Manufacturers of America (PhRMA), European Federation of Pharmaceutical Industries and Associations (EFPIA) und Japan Pharmaceutical Manufacturers Association (JPMA). Mittlerweile sind u. a. auch Vertreter aus Schwellenländern wie Indien und China sowie der WHO als Gäste bzw. Beobachter Teil der ICH. Dementsprechend ist die ICH keine Institution im eigentlichen Sinne, vielmehr setzt sie sich als virtuelles Zentrum aus Vertretern der regulatorischen Behörden und der pharmazeutischen Industrie der Mitgliedsländer zusammen. Diskutiert werden wissenschaftliche und technische Aspekte der Zulassung mit dem Ziel, die regional unterschiedlichen Anforderungen zu vereinheitlichen. Die ICH erstellt hierzu Leitlinien mit folgenden Themenschwerpunkten:

1. Qualität (quality),

2. Sicherheit (safety),

3. Wirksamkeit (efficacy) und

4. übergreifende Themen (multidisciplinary).

Die ICH-Leitlinien stellen in den drei beteiligten Regionen den Stand von Wissenschaft und Technik dar.

Pharmakologische In-vitro- und In-vivo-Studien

Aus regulatorischer Sicht werden pharmakologische Studien in drei Kategorien unterteilt:

  • primäre Pharmakodynamik,
  • sekundäre Pharmakodynamik,
  • Sicherheitspharmakologie (safety pharmacology).

Die primäre Pharmakodynamik beschreibt die Wirkmechanismen von Wirkstoffen im Organismus. Typische pharmakodynamische Fragestellungen sind z. B. das Aufklären von Rezeptorbindungscharakteristiken und die Aufnahme von Dosis-Wirkungs-Kurven.

Die sekundäre Pharmakodynamik beschreibt Effekte eines Wirkstoffs, die nicht direkt mit dem erwünschten therapeutischen Angriffspunkt in Verbindung stehen. Häufig handelt es sich bei den gesehenen Effekten um unerwünschte Wirkungen.

Unter Sicherheitspharmakologie versteht man Untersuchungen, die den Einfluss eines Wirkstoffs auf wichtige Vitalparameter abklären. Dazu gehören Versuche zur Abschätzung der Effekte auf die lebenswichtigen Bereiche des zentralen Nervensystems, des kardiovaskulären und des respiratorische Systems – die sogenannte safety pharmacology core battery.

Bei den pharmakodynamischen Untersuchungen wird ein möglichst komplettes Wirkprofil der Substanz erstellt, mit allen spezifischen und unspezifischen Wirkungen. Diese Wirkungen sollen zudem anhand von Dosis-Wirkungs-Beziehungen quantifiziert werden. Problematisch sind dabei Wirkstoffe, die eine geringe therapeutische Breite haben, bei denen also der Abstand zwischen der für eine erwünschte Wirkung notwendigen Dosis und der Dosis, ab der unerwünschte Wirkungen auftreten, gering ist.

Die Pharmakodynamik eines Wirkstoffs muss in vielerlei Hinsicht ermittelt werden. Für jede Wirkung der Prüfsubstanz muss zunächst ein geeignetes tierisches oder menschliches Zellmodell (in vitro) oder Organmodell (ex vivo) identifiziert werden, an dem der Wirkmechanismus, die Dosis-Wirkungs-Beziehung, die Wirkdauer etc. der Substanz getestet werden (s. Infobox). Die gefundenen pharmakologischen Effekte erlauben dann unter Einbeziehung weiterer Faktoren die Wahl einer geeigneten Tierspezies für die weiteren pharmakodynamischen, pharmakokinetischen und toxikologischen In-vivo-Testungen.


Infobox

Identifizierung eines relevanten Tiermodells


Um wertvoll für die Vorhersage im Menschen zu sein, sollte das gewählte Modell so vergleichbar wie möglich mit der physiologischen Situation im Menschen sein. Hierfür wurde der Begriff most human like species (dem Menschen ähnlichste Art) geprägt. Darunter versteht man:

  • vergleichbarer Metabolismus und Pharmakokinetik (Cmax, tmax, t0,5 usw.),
  • möglichst gleiche Hauptmetaboliten,
  • ähnliche Rezeptordichte(n),
  • vergleichbare Rezeptorbindungscharakteristiken wie Affinität, Wechselzahl etc. (molekulare Pharmakodynamik) und

  • ähnliche Empfindlichkeit für bestimmte Erkrankungen.


Die Wahl der geeigneten Tierspezies ist von entscheidender Bedeutung, da von ihr die erste zu verabreichende Dosis im Menschen extrapoliert wird. Tier und Mensch können sich jedoch in ihrer biologischen Antwort auf eine verabreichte Substanz qualitativ und quantitativ stark unterscheiden. So können z. B. Unterschiede in der Affinität zu molekularen Targets (Zielstrukturen), in der Gewebeverteilung, in der Metabolisierung oder in den kompensatorischen Mechanismen auftreten.

Wenn in den In-vitro-Untersuchungen bereits große Spezifitätsunterschiede zwischen menschlichen Zellen und Zellen einer Tierspezies auftreten, weist das darauf hin, dass die Aussagekraft eines Tests an dieser Tierspezies als gering einzustufen wäre. Allerdings gilt hier nicht der Umkehrschluss, denn ähnliche Ergebnisse aus Zellversuchen an menschlichen und tierischen Zellen können keine vergleichbare In-vivo-Antwort garantieren. Zum Beispiel kann der in vitro ermittelte pharmakologische Effekt im Tier nicht reproduzierbar sein, oder Mensch und Tier weisen eine unterschiedliche Pharmakokinetik auf, sodass für den Menschen toxische Effekte im Tier nicht identifiziert werden können. Deshalb ist es wichtig, für die Entscheidungsfindung alle vorhandenen Daten aus In-vitro‑, Ex-vivo- und In-vivo-Versuchen zu berücksichtigen.

Das Beispiel (siehe Infobox) verdeutlicht, dass man für jede einzelne Wirkung eines Wirkstoffs ein geeignetes Modell wählen muss, wobei jede Fragestellung hier für sich zu betrachten und stets der aktuelle Stand der Wissenschaft und Forschung im Indikationsgebiet mit einzubeziehen ist.


Infobox

Beispiel eines passenden Tiermodells zur Untersuchung einer bestimmten Fragestellung


Möchte man die Wirksamkeit eines Arzneimittels in einem Tiermodell testen, ist es wichtig, ein Krankheitsmodell für die angestrebte Indikation zu haben, das der humanen Situation entspricht. Beispielhaft sei hier die Maus zur Testung von Antidiabetika genannt. Typ-2-Diabetiker sind häufig durch Fettleibigkeit und als Folge daraus durch eine Insulinresistenz (Nicht-Ansprechen der Insulinrezeptoren auf ausgeschüttetes Insulin) gekennzeichnet. Letzteres führt zu erhöhten Plasmaglucosespiegeln. Moderne Antidiabetika zielen darauf ab, diese Insulinresistenz zu verbessern. Durch das Verabreichen (normierter) fettreicher Nahrung (high fat diet) an Mäuse (diet-induced obesity mice oder DIO-mice), kommt es analog zum Menschen zur Entwicklung von Fettleibigkeit, Insulinresistenz und Diabetes Typ 2. An solchen DIO-Mäusen lässt sich die Wirksamkeit neuer Wirkstoffe im Vergleich zu bekannten Wirkstoffen sehr gut testen. Parameter, die häufig gemessen werden, sind zum Beispiel Körpergewichtsverläufe, die Verbesserung der Glucosetoleranz (Verringerung der Insulinresistenz) oder Plasmaglucosespiegel. In vielen Fällen sind die so gewonnenen Daten übertragbar auf den Menschen oder geben zumindest wertvolle Hinweise.

Sicherheitspharmakologische Studien

Wenn alle Testergebnisse der safety pharmacology core battery am Tier vorliegen, ist daraus unbedingt ein mögliches Risiko lebensbedrohlicher Komplikationen für die Probanden abzuschätzen. In den Sicherheitsleitlinien der ICH ist vorgegeben, wie der Einfluss der Prüfsubstanz auf die wichtigsten Vitalparameter wie das kardiovaskuläre System, die Atmung und das zentrale Nervensystem zu bestimmen ist. Unter anderem geht es um die Bewegungsaktivität, Verhaltensänderungen, Koordinationsfähigkeit, Blutdruck, Herzfrequenz, EKG und die Respirationsrate. Da viele Substanzen eine Verlängerung des QT-Intervalls am Herzen herbeiführen können, die die Gefahr lebensbedrohlicher Torsades-de-Pointes-Arrhythmien erhöht, widmet sich eine eigene Leitlinie dieser Thematik.

Pharmakokinetische Studien

Eine weitere Säule präklinischer Studien ist die Pharmakokinetik. Sie beschreibt die Vorgänge, denen ein Wirkstoff im Körper unterliegt. Dazu gehören

  • die Aufnahme des Wirkstoffes in den Organismus (A bsorption, Resorption),
  • die Verteilung im Körper (D istribution, Kompartimentierung),
  • die biochemische Modifizierung des Wirkstoffs (M etabolisierung, Abbau),
  • die Ausscheidung (E xkretion, Elimination, Ausscheidung).

Die Gesamtheit dieser Prozesse wird unter der Abkürzung ADME zusammengefasst. Pharmakokinetik und Pharmakodynamik sind eng miteinander verzahnte Vorgänge (Abb. 1).


In den pharmakokinetischen Untersuchungen wird das Ziel der möglichst umfassenden Charakterisierung des Wirkstoffs nach einem einheitlichen Vorgehen durchgeführt, nämlich nach den GLP-Leitlinien (Good Laboratory Practice, von der OECD erstellte Leitlinien über das "saubere" Arbeiten im Labor).

Zunächst wird das Tiermodell gewählt, das möglichst gut als Surrogat für den Menschen in der spezifischen Fragestellung geeignet ist (s. o.). Anschließend wird der zu prüfende Wirkstoff appliziert. Aus Plasmaproben, die nach einem vorher festgelegten Zeitplan entnommen werden, kann der Plasmaspiegel-Zeitverlauf des Wirkstoffs bestimmt werden. So können alle wichtigen pharmakokinetischen Parameter berechnet werden (Abb. 2):

  • die Area Under the Curve (AUC), also die Fläche unter der Plasmaspiegel-Zeitverlauf-Kurve als Maß für die Bioverfügbarkeit,

  • die Maximalkonzentration des Wirkstoffs im Plasma (Cmax),
  • der Zeitpunkt, an dem die maximale Plasmakonzentration vorliegt (tmax) und

  • die Plasmahalbwertszeit (t0,5), also diejenige Zeit, die der Organismus benötigt, um die Hälfte des Wirkstoffs aus der Biophase zu entfernen. Sie kann berechnet werden aus der ersten Ableitung des abfallenden Teils der Bateman-Funktion.



Zur Bestimmung der Verteilung, der Metabolisierung und der Exkretion wird der Wirkstoff häufig radioaktiv markiert, meistens mit dem langlebigen 14 C-Isotop des Kohlenstoffs. Dadurch lässt sich sein Aufenthalts- und Ausscheidungsort im Körper relativ exakt über die Bestimmung der Radioaktivität in Organen oder den Exkrementen bestimmen. Idealerweise werden solche Studien an mehreren Tierspezies (Maus, Ratte, Hund, Affe) vorgenommen, um möglichst viele pharmakokinetische Daten zu generieren, aus denen sich die optimale Testspezies für den Mensch in den weiterführenden Untersuchungen ableiten lassen.

Toxikologische In-vitro- und In-vivo-Studien

Analog der Pharmakologie lässt sich auch die Toxikologie in die Toxikodynamik und die Toxikokinetik unterteilen. Ziel der toxikologischen Tierstudien ist eine Gefahrenabwehr für den Menschen in den anschließenden klinischen Studien. Außerdem sollen die Organe, die potenziell von toxischen Effekten der Substanz betroffen sind, identifiziert werden. Studiendesign und Durchführung werden abgesteckt durch Leitlinien der europäischen Zulassungsbehörde EMA (European Medicines Agency), der amerikanischen FDA und der ICH (s. o.). Die toxikologische Unbedenklichkeit von Arzneimitteln allgemein muss für eine EU-Zulassung in den folgenden Experimenten nachgewiesen werden:


Akute Toxizität: Dabei wird untersucht, welche toxischen Effekte innerhalb eines bestimmten Zeitraums (häufig 14 Tage) nach Gabe einer Einzeldosis auftreten (single dose toxicity). Dieser Ansatz ist aber mittlerweile veraltet, denn diese Information kann auch aus einer gut geplanten Dosiseskalationsstudie im Rahmen der Toxizität bei wiederholter Gabe (repeated-dose toxicity) hervorgehen (s. u.). Ist die Information zur akuten Toxizität aus der Studie zur Toxizität bei wiederholter Gabe ableitbar, werden separate Einzeldosisstudien nicht mehr empfohlen.


(Sub-)chronische Toxizität/Toxizität bei wiederholter Gabe: Hier werden über längere Zeiträume wiederholte Dosen in zwei Säugetierspezies (davon sollte eine Spezies eine Nicht-Nagerspezies sein) gegeben. Dosis und Zeitraum richten sich hierbei nach der Art der beabsichtigten Anwendung beim Menschen (Minimaldauer 2 Wochen, Maximaldauer 6 bis 9 Monate). Folgende Untersuchungen sollten an den Tierspezies durchgeführt werden:

1. Toxikokinetische Studien analog der Pharmakokinetik nach dem ADME-Modell (s. o.).

2. Klinische Untersuchungen, Hämatologie, Serumchemie, Urinanalyse, Nekroskopie (Untersuchung der Tierleichen) und Histopathologie (Untersuchungen an Gewebeschnitten).

Die Ergebnisse dieser Studien liefern wichtige Anhaltspunkte zur Bestimmung der Anfangsdosis für die Phase-I Studien (siehe Abschnitt "Dosisfindung für Phase-I-Studien").


Genotoxizität: Tests werden auf Mutagenität (die Substanz löst Mutationen in einzelnen Genen aus) und Klastogenität (die Substanz löst Chromosomenschäden aus) durchgeführt, um Vorhersagen auf eine mögliche kanzerogene Wirkung oder vererbbare Effekte der Substanz machen zu können. Man spricht von einer 3er-Batterie an durchzuführenden Genotoxizitätsprüfungen:

1. in vitro Ames-Test auf Rückmutation in Bakterien,

2. in vitro zytogenetischer Test in Säugetierzellen (z. B. Test auf Chromosomenschäden),

3. (mindestens) ein In-vivo-Verfahren wie der Erythrozyten-Mikrokerntest. Häufig werden diese In-vivo-Tests direkt in die Studien zur Toxizität bei wiederholter Gabe integriert. Dadurch kann die Zahl der benötigten Tierversuche verringert werden.


Kanzerogenitätsstudien an Nagern: Die Substanz wird über die gesamte Lebenszeit der Tiere, meist zwei Jahre, verabreicht. Diese Studien werden nur durchgeführt, wenn ein Verdacht auf eine krebserregende Wirkung besteht oder wenn für den Wirkstoff eine chronische Anwendung über einen Zeitraum länger als sechs Monate geplant ist. Bei Medikamenten für bestimmte schwere Krankheiten können die Kanzerogenitätsstudien auch nach der Zulassung eingereicht werden.


Reproduktions- und Entwicklungstoxikologie: je nachdem, welche Population (z. B. Männer, Frauen im gebärfähigen Alter,…) in den klinischen Studien mit eingeschlossen werden sollen (siehe hierzu die Infobox Contergan).


Infobox

Contergan


Das Arzneimittel Contergan der Aachener Pharmafirma Grünenthal wurde in den späten 50er und frühen 60er Jahren des 20. Jahrhunderts als Sedativum vertrieben. Es enthielt den Wirkstoff Thalidomid. Die primäre Pharmakodynamik von Thalidomid ist jedoch noch weitestgehend unklar. Neben der zentralen hypnotischen Wirkung hemmt es unter anderem die Sekretion des Vascular Endothelial Growth Factor (VEGF) und hemmt somit die Neubildung von Blutgefäßen (Antiangiogenese). Im ersten Trimenon einer Schwangerschaft verabreicht, bewirkt es schwere Fehlbildungen am Neugeborenen, denn die fehlende Blutversorgung führt zu verkürzten oder fehlenden langen Röhrenknochen. Da Thalidomid in Tierversuchen nicht auffällig war, wurde der Zusammenhang erst spät festgestellt. Der Arzneistoff führt nur in bestimmten Spezies und nur zu ganz bestimmten Zeitpunkten der Schwangerschaft zu den beschriebenen Schädigungen des Embryos. Allerdings hat die antiangiogenetische Wirkung des Thalidomids positive Effekte bei bestimmten Tumorerkrankungen. Thalidomid bekam daher 2001 den Status eines Arzneimittels gegen seltene Erkrankungen zugesprochen (orphan drug). Seit 2008 besteht in der EU eine Zulassung für die Behandlung des multiplen Myeloms (MM). Zulassungsrechtlich stellt Thalidomid allerdings einen Sonderfall dar: Nach § 3a der Arzneimittelverschreibungsverordnung wird die Abgabe von Thalidomid-haltigen Arzneimitteln amtlich überwacht. Thalidomid darf nur auf sogenannten T-Rezepten verschrieben werden. Der Arzt muss sich hierin zur Schwangerschaftsprävention äußern und die Indikation bzw. einen eventuellen Off-label-use angeben. Der Versandhandel mit Thalidomid ist nicht erlaubt.


Prinzipiell unterteilt man die Reproduktionstoxikologie je nach Expositionszeitraum in drei Studientypen:

1. Fertilität und frühe Embryonalentwicklung: Verabreichung der Substanz von vor/während der Verpaarung der Tiere bis zur Einnistung des Eies (Implantation),

2. embryo-fötale Entwicklung: Verabreichung der Substanz von der Implantation bis zur Geburt,

3. Prä/postnatale Entwicklung und maternale Funktion: Verabreichung der Substanz von der Implantation bis zur Entwöhnung von der Mutter.


Lokale Toleranz: In Abhängigkeit von der angestrebten Applikationsroute (z. B. nasal, topisch, intravenös, etc.) sollte die lokale Verträglichkeit eines Wirkstoffs am Applikationsort (bei Injektionen z. B. um die Einstichstelle) im Tierversuch untersucht werden. Bevorzugt sollte die lokale Toleranz innerhalb der allgemeinen Toxizitätsstudien evaluiert werden und keine extra Studie dafür gemacht werden.


Weitere Toxizitätsprüfungen wie Immuntoxikologie, Phototoxizität usw. können zum Nachweis der toxikologischen Unbedenklichkeit erforderlich sein, je nachdem welche Eigenschaften der Wirkstoff hat.

Einen schematischen Überblick zu welchem Zeitpunkt der klinischen Entwicklung eines Arzneimittels, welche präklinische Prüfung vorliegen muss, um die entsprechenden Phasen der klinischen Prüfung beginnen zu können und die Zulassung zu erlangen, gibt Abbildung 3.


Dosisfindung für Phase-I-Studien

Die Bestimmung des toxikologischen Profils ist in der Vorbereitung der klinischen Prüfung von entscheidender Bedeutung, da nicht nur die Risikofaktoren für die Anwendung am Menschen abgeschätzt werden, sondern in diesem Rahmen auch die Initialdosis für die erste Anwendung am Menschen bestimmt wird. Dies geschieht im Rahmen der repeated-dose toxicity:

Zunächst wird am Tier eine Dosis bestimmt, bei der keine toxikologisch bedeutsamen Wirkungen der Substanz zu beobachten sind, der sogenannte No Observed Adverse Effect Level (NOAEL). Diese Dosis wird anschließend umgerechnet auf die Human Equivalent Dose (HED). Hierzu gibt es verschiedene Methoden, die entweder auf der Körperoberfläche, dem Körpergewicht oder einem Kompartimentmodell beruhen. Von den so umgerechneten Werten der Substanz in Milligramm zieht man noch einen Sicherheitsabstand ab und kommt so zur Maximum Recommended Starting Dose (MRSD), der empfohlenen maximalen Initialdosis (Abb. 4).


Abb. 4: Fließschema zur Bestimmung der MRSD (Maximum RecommendedStarting Dose) nach FDA-Leitlinie. Bei normalem Risikoprofil der Substanz ist der Sicherheitsfaktor 0,1.

Ein anderer Weg zur Berechnung der MRSD ist der Minimal Anticipated Biological Effect Level (MABEL). Bei diesen Berechnungen fließen nicht die Daten aus toxikologischen Untersuchungen mit hohen Dosen ein, sondern Ergebnisse aus pharmakologischen In-vitro- und In-vivo-Studien mit deutlich niedrigeren Dosen. In der Praxis liegt der MABEL meist deutlich unter dem NOAEL (siehe Infobox "Der Fall TeGenero").


Infobox

Der Fall TeGenero


Wie wichtig die Wahl der richtigen Methode zur Berechnung der MRSD ist, zeigt die Erfahrung mit dem Antikörper TGN1412, den das Würzburger Biotechnologie-Unternehmen TeGenero zur Therapie von Leukämien entwickelte. Zu diesem Zweck fand 2006 eine Phase-I-Studie an gesunden Probanden in London statt. Innerhalb weniger Stunden nach der Injektion erlitten die Probanden ein multiples Organversagen, und ihre Immunantwort eskalierte ("Zytokin-Sturm"). Es kam zu lebensbedrohlichen Zuständen, ein Proband lag drei Wochen lang im Koma. Dies alles geschah, obwohl die zuständigen Behörden (die britische Medicines and Healthcare products Regulatory Agency, MHRA, und das deutsche Paul-Ehrlich-Institut, PEI) den Antrag zur klinischen Prüfung nach allen Regeln der Wissenschaft analysiert und positiv beschieden hatten. Eine nachträgliche Inspektion der Firma ergab zudem keinerlei Unregelmäßigkeiten. Erst Jahre später fanden Wissenschaftler heraus, dass die präklinischen Studien an nicht geeigneten Tiermodellen – in diesem Fall Ratten und Cynomolgus-Affen – durchgeführt worden waren. Beide Tierarten gaben keine entsprechende Immunantwort, woraus sich in den Dosiseskalationsstudien sehr hohe tolerierbare Dosen ergaben (50 mg/kg), aus denen dann ein MRSD von 0,1 mg/kg berechnet wurde. In diesem Falle hätte die Verwendung des MABEL zu einer deutlich niedrigeren MRSD von 0,001 mg/kg geführt und möglicherweise Schlimmeres verhindert. Zum Zeitpunkt der Untersuchung entsprach das Heranziehen des NOAEL jedoch dem Stand von Wissenschaft und Technik. Nach dem Fall TeGenero wurde die EMA-Leitlinie "Guideline on strategies to identify and mitigate risks for first-in-human clinical trials with investigational medicinal products" geändert.


Nachdem die zulassende Behörde, also in Deutschland das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte BfArM (oder das Paul-Ehrlich-Institut PEI, das für die Zulassung von biomedizinischen Arzneimitteln wie Impfstoffen und Sera zuständig ist) die präklinischen Studien geprüft hat, kann das künftige Arzneimittel in die klinische Untersuchung gehen, d. h. am Menschen getestet werden.

Die genauen Vorgaben, die erfüllt sein müssen, um mit der klinischen Studie beginnen zu dürfen, sind im Arzneimittelgesetz geregelt. Eine Zusammenfassung der regulatorischen Texte zu klinischen Prüfungen in der EU findet sich im Volume 10 der EudraLex (siehe Infobox "Leitlinien").


Infobox

Leitlinien im regulatorischen Bereich


Das Arzneimittelrecht in der EU und Deutschland ist reguliert durch eine große Anzahl an Leitlinien. Diese Leitlinien bilden das sogenannte soft law, welches in strenger Auslegung rechtlich keinen bindenden Charakter hat, aber den in Gesetzestexten oft zitierten "Stand von Wissenschaft und Technik" abbildet. Somit haben diese Leitlinien quasi bindenden Charakter. Das gesamte, sehr umfangreiche EU-Arzneimittelrecht ist in der EudraLex-Datenbank zusammengefasst:

http://ec.europa.eu/enterprise/pharmaceuticals/eudralex/eudralex_en.htm

Die Leitlinien der ICH zu den Bereichen Wirksamkeit (efficacy), Sicherheit (safety), Qualität (Quality) und multidisziplinär (multidisciplinary) können auf der offiziellen ICH-Website eingesehen werden:

www.ich.org


Weiterführende Literatur

Cerny T. Grenzen und Fallen klinischer Studien in der Onkologie. Onkologie 2008;31(Suppl. 2):67 – 71.

Heinzl S. Klinische Studien: Wie Arzneimittel geprüft werden. Pharm Ztg 2011;156(30):16 – 20.

Schwarz JA. Leitfaden klinische Prüfungen von Arzneimitteln und Medizinprodukten. 4. Aufl., Aulendorf 2011. – Ein umfassendes (Nachschlage-)Werk, das nahezu alle Themen aus den Bereichen Regulatorik, rechtliche Grundlagen, Studiendesign und Biometrie behandelt. Das Buch enthält am Ende jedes Kapitels Literaturangaben, in denen jede einzelne Leitlinie gesondert zitiert ist. Die einzelnen Kapitel sind von langjährig erfahrenen Experten im jeweiligen Gebiet verfasst worden (Armin Koch, Barbara Sickmüller u. a.).

Autoren


Dr. rer. nat. Bodo Haas studierte Pharmazie in Heidelberg und wurde an der Universität München promoviert. Anschließend forschte er am Institut für Pharmakologie und Toxikologie in Bonn. Seit 2010 ist er Präklinischer Assessor am Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) im Fachgebiet Genetische und Reproduktionstoxikologie und leitet eine Forschungsgruppe Diabetes und Metabolismus.

Anschrift:

Dr. Bodo Haas, Brahmsstr. 5, 53121 Bonn

bodohaas@web.de


Dr. rer. nat. Niels Eckstein studierte Pharmazie und wurde 2004 in Bonn im Fach Pharmakologie promoviert. Bevor er 2011 Klinischer Assessor am BfArM in der Abteilung für Arzneimittel-Zulassung wurde, war er an verschiedenen Universitäten und Forschungsinstituten tätig. Er ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Deutschen Gesellschaft für Onkologische Pharmazie (DGOP) und Projektleiter der Arbeitsgruppe "Orale Zytostatikatherapie".

Niels.Eckstein@web.de


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DAZ 2012, Nr. 25, S. 70

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