Fortbildung

Wie steht es um die Palliativversorgung in Deutschland?

Der steigende Bedarf ist kaum zu decken

Der Bedarf einer palliativen Versorgung schwerkranker Patienten wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zunehmen, doch bereits heute kann nur ein Teil der Betroffenen entsprechend betreut werden. Um auch in Zukunft eine menschliche und medizinische Versorgung der Patienten zu ermöglichen, müssen die vorhandenen Strukturen ausgebaut und mehr interdisziplinäre Netzwerke geschaffen werden, so Dr. Helmut Hoffmann-Menzel, Bonn.
Helmut Hoffmann-Menzel Foto: DAZ/pj

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die Medizin lange Zeit vorwiegend palliativ ausgerichtet war und die heutigen Vorstellungen einer physischen, seelischen, spirituellen und sozialen Begleitung des Patienten bereits im Mittelalter umgesetzt wurden.

Der Wunsch, den Patienten zu begleiten und zu stützen, fand auch Eingang in die aktuelle WHO-Definition der Palliativmedizin von 2002, in der es heißt: "Palliativmedizin ist ein Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und ihren Familien, die mit Problemen konfrontiert sind, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einhergehen, und zwar durch Vorbeugen und Lindern von Leiden, durch frühzeitiges Erkennen, gewissenhafte Einschätzung und Behandlung von Schmerzen sowie anderen belastenden Beschwerden körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art." Wie Hoffmann-Menzel hervorhob, steht bei der palliativen Betreuung eines Patienten nicht das Machbare, sondern das ethisch Vertretbare im Vordergrund.


Leitgedanken der Palliativmedizin


  • Verzicht auf belastende Maßnahmen; im Vordergrund steht nicht das medizinisch-technisch Machbare, sondern das medizinisch-ethisch Vertretbare

  • Lernen durch Zuhören
  • offene Kommunikation

  • Respekt vor der Selbstbestimmung des Patienten

  • Respekt vor der Würde des Menschen
  • frühzeitig palliative Interventionen einleiten

  • Erkennen der physischen, psychischen, sozialen und spirituellen Bedürfnisse des Patienten

  • Begegnen der Hoffnungslosigkeit

  • Akzeptanz der begrenzten Lebenszeit

  • Annehmen des Verlustes

  • enge Zusammenarbeit aller Beteiligten (Ärzte, Pfleger, Apotheker, Sozialarbeiter, Seelsorger, Angehörige), Schaffung von Netzwerken

  • Im Mittelpunkt steht nicht das Sterben, sondern die Qualität des verbleibenden Lebens

Entwicklung der Palliativmedizin

Das heutige Konzept der palliativen Versorgung oder des total-pain-Management wurde von der Dame Cicely Saunders definiert, die bereits in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts eine umfassende Betreuung schwerkranker Patienten forderte und praktizierte. Sie war Krankenschwester, Ärztin und Sozialarbeiterin und eröffnete 1967 das St. Christophers Hospiz in London. In Deutschland setzte sich dieser Gedanke 1983 mit der Schaffung der ersten Palliativstation in Köln durch. 1986 folgte die Gründung des ersten Hospizes in Aachen und 1994 die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP), die heute mehr als 4000 Mitglieder umfasst.


Pharmazeuten in der Palliativmedizin


Die im Juli 1994 gegründete Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin e.V. (DGP) stellt sich die Aufgabe, Ärzte und andere Berufsgruppen zur gemeinsamen Arbeit am Aufbau und Fortschritt der Palliativmedizin zu vereinen und die bestmögliche Versorgung der Patienten zu fördern. In der Sektion Pharmazie können sich auch Apotheker einbringen, denn für Palliativpatienten kann auch eine intensivierte pharmazeutische Betreuung erforderlich werden. Dies umfasst unter anderem eine 24-Stunden-Sicherstellung der gesamten ambulanten Infusionstherapie, künstliche Ernährung oder invasive Schmerztherapie inklusive der Medizintechnik. Alle benötigten Arzneimittel und Infusionsregime werden aufeinander abgestimmt und auf Wechselwirkungen und Kompatibilität überprüft.

Weitere Informationen finden Sie unter
www.dgpalliativmedizin.de/ arbeitskreise/ak-apothekerinnen.html


Seit 1997 existieren Curricula für Palliativmedizin, zwei Jahre später wurde die erste Professur für Palliativmedizin etabliert. Heute gibt es acht Lehrstühle für die palliativmedizinische Betreuung von Erwachsenen und einen für die pädiatrische Palliativmedizin. 2003 verabschiedete die Bundesärztekammer die Zusatzweiterbildung für den Bereich Palliativmedizin und derzeit haben rund 6000 Ärzte die Weiterbildung abgeschlossen. Seit Kurzem gibt es eine Zertifikat-Fortbildung für Palliativpharmazie. In den 90er Jahren entstanden in Deutschland die ersten ambulanten Palliativdienste. Derzeit gibt es über 200 Palliativstationen und rund 170 Hospize neben mehr als 1500 ehrenamtlichen Hospizinitiativen. Seit 2007 ist die spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) Pflichtleistung im Rahmen des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung. Der Bedarf an solchen spezialisierten ambulanten Palliativversorgungen, von denen es derzeit rund 60 gibt, ist noch lange nicht gedeckt.


Frühzeitige palliative Betreuung bessert die Lebensqualität


In einer amerikanischen Studie wurde gezeigt, dass die frühe Integration palliativer Maßnahmen nicht nur die Lebensqualität der betroffenen Lungenkrebs-Patienten gesteigert und deren depressive Symptomatik vermindert hatte, sondern auch zu einem verlängerten Überleben führte, obwohl weniger interventionelle Maßnahmen ergriffen wurden.

Quelle: Temel JS. et al:. Early palliative care for patients with metastatic non-small-cell lung cancer. N Engl J Med. 363, 733 – 742 (2010).


Man schätzt, dass etwa ein Zehntel aller Sterbenden einer besonderen Betreuung und Begleitung bedarf. In Deutschland sind das jährlich rund 80.000 Patienten – palliativ versorgt werden indes nur etwa 25.000 Patienten. Diese Diskrepanz zwischen Bedarf und Angebot wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten aufgrund der demografischen Veränderungen ansteigen. Daher sind Konzepte für eine flächendeckende palliative Versorgung gesucht, die nicht nur Tumorpatienten, sondern auch Demenzkranke und chronische Patienten berücksichtigen. Diese Versorgung sollte stationär (Heime, Hospize, Konsilliardienste) und ambulant (spezialisierte Pflegedienste, Apotheker, Palliativmediziner) erfolgen. Geklärt werden müssen deren Vergütung und Finanzierung. Neben diesen strukturellen und finanziellen Herausforderungen bestehen gesellschaftliche Probleme, da Tod und Sterben in einer Leistungs- und Konsumgesellschaft weitgehend tabuisiert sind. Doch erst die Akzeptanz von Krankheit und Endlichkeit schaffen die Voraussetzung für eine frühzeitige, aktive Auseinandersetzung mit diesen Themen, einer Akzeptanz, die zu einer besseren Lebensqualität der Erkrankten und deren Angehörigen führen kann.


pj



DAZ 2012, Nr. 24, S. 54

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