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Orphan Drugs: Paradigmenwechsel? Zulassungsexperten tagen in Bonn

BONN (hb). Am 30. und 31. Mai trafen sich die Zulassungsexperten bei der 14. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Regulatory Affairs (DGRA) im Bonner Wasserwerk, in dem ehemals die Abgeordneten des Deutschen Bundestages vorübergehend "die Bank drückten". Zentrales Thema in diesem Jahr waren Arzneimittel für seltene Leiden.

Nach einem Bericht der Europäischen Arzneimittelagentur vom Mai 2010 sind innerhalb des ersten Jahrzehnts nach Inkrafttreten der europäischen Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden in der EU insgesamt 1113 Anträge auf Designierung als Orphan Drug eingegangen, von denen rund zwei Drittel der Status zugebilligt wurde. Mit 45% betraf der weitaus größte Anteil onkologische Indikationen, gefolgt vom Muskuloskeletal- und Nervensystem (12%) sowie Metabolismus und Immunologie mit jeweils ca. 9%. Zu 53% lag die Prävalenz der Erkrankung zwischen 1 und 3 von 10.000, und in 35% der Fälle bei weniger als 1 von 10.000. Von den designierten Orphan Drugs wurden 114 zur Zulassung beantragt, die jedoch lediglich für rund die Hälfte der Anträge tatsächlich erteilt wurde. Allzu hoch ist der regulatorische Output derzeit demnach noch nicht. Experten rechnen jedoch damit, dass die "Welle" in diesem Bereich erst in den nächsten Jahren kommt. Das Antragsaufkommen hat jedenfalls stetig zugenommen.

Auch kleinere Unternehmen erfolgreich

Die Zulassung eines Arzneimittels für ein seltenes Leiden ist kein leichtes Unterfangen. Ist die Hürde der Orphan Drug-Designierung über das Committee for Orphan Medicinal Product (COMP) und die Europäische Kommission genommen, folgt das eigentliche Zulassungsverfahren über den zuständigen Ausschuss für Humanarzneimittel, wobei je nach Arzneimittelart und Zielpopulation auch der Ausschuss für Kinderarzneimittel (PDCO) und der Ausschuss für Arzneimittel für neuartige Therapien (CAT) mitzureden. Arzneimittel, die in die Zuständigkeit des CAT fallen, haben meist sogar einen "ultra orphan" Status, das heißt, die infrage kommende Patientenzahl ist so extrem gering, dass sie kaum einer "normalen" klinischen Prüfung zugänglich ist.

Der Sektor der Orphan Drugs wird übrigens keineswegs von großen Pharmaunternehmen dominiert. Während "Big Pharma" in der Zulassung von Nicht-Orphans zu 90% erfolgreich ist und mittelgroße Unternehmen zu 76% bzw. kleine nur zu 46%, stellt sich die Erfolgsbilanz bei Orphans ausgewogener dar: 80% Erfolgsquote bei den "Großen", 60% bei mittelgroßen und 50% bei kleineren Unternehmen.


Ehrung Im Rahmen der DGRA-Jahrestagung überreichte der DGRA-Vorsitzende Dr. Ulrich Granzer (li.) die Walter Cyran-Medaille an Dr. Hermann J. Pabel. Foto: DAZ/hb

Verleihung der "Walter-Cyran-Medaille”


Aus den Händen des DGRA-Vorsitzenden Dr. Ulrich Granzer, München, erhielt Ministerialdirigent a. D. Dr. Hermann J. Pabel bei der Jahrestagung der DGRA die Walter Cyran-Medaille. Sie kann an Personen verliehen werden, die sich besondere Verdienste auf dem Gebiet "Regulatory Affairs" im weiteren Sinne oder um die Ziele der Gesellschaft erworben haben.

Pabel studierte von 1959 bis 1963 Rechtswissenschaften an den Universitäten Freiburg, München und Bonn. 1969 wurde er mit einem europarechtlichen Thema an der Universität Bonn promoviert und trat im selben Jahr in das Bundesministerium für Gesundheit ein, wo er 1972 das Referat "Reform des Arzneimittelrechts" übernahm. Von 1981 an leitete er das Referat "Arzneimittelrecht und Heilmittelwerberecht" und von 1989 bis 2002 die Unterabteilung "Arzneimittel- und Apothekenwesen" im Gesundheitsministerium. Seit dem Jahr 1978 bearbeitet er zusammen mit Dr. Karl Feiden den im Deutschen Apotheker Verlag erscheinenden "Kloesel/Cyran", Kommentar zum Arzneimittelrecht.

Pabel warf in seiner Dankesrede einen kurzen Blick zurück auf seine reichhaltigen Aktivitäten und Erfahrungen mit der Schaffung und Umsetzung des Arzneimittelrechts in Deutschland, die er über einige Jahrzehnte hinweg maßgeblich mit gestaltet hat. Bei seinem Eintritt ins Gesundheitsministerium habe die Materie als besonders schwierig gegolten, meinte Pabel, aber er habe die Herausforderung angenommen, und in der Folge habe ihn das Arzneimittelrecht nicht mehr losgelassen. In konstruktiver Zusammenarbeit mit Naturwissenschaftlern und Vertretern der Behörden wie Bundesgesundheitsamt/BfArM und Paul-Ehrlich Institut habe man immer wieder um stimmige Regelungsinhalte gerungen und dabei so manche schwierige Klippe genommen. Als ein Beispiel führte Pabel die gesetzgeberische Lösung der Zweitanmelderproblematik an, die dann sogar zum Vorbild für die regulatorische Umsetzung in Europa hergenommen wurde. Seit der Entwicklung des europäischen Zulassungssystems und Gründung der Arzneimittelagentur in London verweise das deutsche Recht heute in immer größerem Umfang auf europäisches Recht, und auch die Regelungsdichte habe immer mehr zugenommen. Pabel verlieh diesbezüglich seiner Überzeugung Ausdruck, dass ein grundlegendes Sicherheitsbedürfnis dennoch durch keine noch so tiefgehende Maßnahme befriedigt werden könne. Seit seiner Pensionierung könne er sich nun voll auf den Kommentar konzentrieren, so stellte der Geehrte abschließend fest, eine Aufgabe die für ihn heute umso interessanter geworden sei, da man sich entgegen den Anfangsjahren mit einer Fülle von Fachpublikationen auseinanderzusetzen habe.

Der individuale Ansatz in der Zulassung

Eine "Orphanisierung" der Arzneimittelzulassung ist auch durch die Individualisierung der Arzneimitteltherapie zu erwarten, weg vom klassischen Modell "ein Wirkstoff für alle", hin zur personalisierten Therapie mit Ein- und Ausschlusskriterien über empirisch definierte Biomarker. In der bereits realen stratifizierten Therapie enthält die arzneimittelrechtliche Zulassung eine genaue diagnostische Beschreibung der infrage kommenden Patienten, die anhand von Bioassays herausgefiltert werden müssen. Solche Assays liefern jedoch unter Umständen variable Ergebnisse, woraus die Forderung abgeleitet werden könnte, dass die hierbei verwendeten In-vitro-Diagnostika im Zusammenhang mit der anvisierten Stratifizierung der Patienten im Zulassungsverfahren mit bewertet werden müssten. Die amerikanische Food and Drug Administration macht dieses bereits. Ein weiteres regulatorisches Problem der zunehmenden Individualisierung der Therapie ist, dass die Beurteilungsgrundlage durch die kleineren Patientenkollektive erheblich enger wird, das heißt, dass Entscheidungen möglicherweise auf "schwächeren Beinen" stehen, als dies wünschenswert wäre. Für den Leiter des Paul Ehrlich Instituts, Prof. Dr. Klaus Cichutek, könnte dieser Ansatz letztendlich auch an den Grenzen des Fertigarzneimittel-Begriffs rütteln.

Konzept des "ultimative orphan"

Ob es das "ultimative orphan" in der individualisierten Krebstherapie gibt oder jemals geben kann, versuchte Prof. Dr. Ugur Sahin, vom Institut für Translationale Onkologie an der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (TRON) zu beantworten. Obwohl Krebserkrankungen genetisch mit 100 Mutationen pro Krebs und zusätzlich 95% individuellen Mutationen extrem heterogen sein kann, sind die Informationen, die für die Behandlung eines einzelnen Patienten gebraucht werden, seiner Erfahrung nach gar nicht so komplex. Anhand des individuellen Biomarker-Profils lässt sich durchaus eine individualisierte Therapie realisieren, vorausgesetzt, man kann aus einem "Warenhaus" vorgefertigter Arzneimittel schöpfen, die dann individuell kombinierbar sind. Allerdings sollte die On-demand-Herstellung des fertigen Produktes schnell gehen. Die Machbarkeit eines solchen Modells wurde bereits als "Proof of concept" an der Maus gezeigt. Außerdem wurde es bei der Europäischen Arzneimittel Agentur (EMA) vorgestellt und damit auch regulatorisch der Boden bereitet.



DAZ 2012, Nr. 23, S. 33

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